9punkt - Die Debattenrundschau

Wild gewordenes System

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.09.2019. Sollen wir den Kapitalismus abschaffen? Die Gelehrten sind uneins: Es gibt keine Demokratie ohne Kapitalismus, schreibt Jürgen Kocka im Tagesspiegel. Die Philosophin Eva von Redecker sucht in der FR dagegen den "Ausgang aus der sachlichen und der Sachherrschaft". Le Monde publiziert einen Aufruf von 470 MarokkanerInnen, die ein Recht auf ihren Körper und ihr eigenes Leben fordern.  Aber Trump ist laut Guardian dagegen. In der Welt protestiert Hubertus Knabe gegen die Auflösung der Stasi-Unterlagen-Behörde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.09.2019 finden Sie hier

Politik

In Marokko ist die Journalistin Hajar Raissouni nach wie vor in Haft. Ihr droht Gefängnis, weil ihr außereheliche Beziehungen und eine Abtreibung vorgeworfen werden (unser Resümee). Le Monde publiziert einen von der Schriftstellerin Leila Slimani mitformulierten Aufruf von 470 prominenten und weniger prominenten MarokkanerInnen: "Wir, Bürgerinnen und Bürger Marokkos, erklären, dass wir außerhalb des Gesetzes leben. Wir brechen ungerechte, überlebte Gesetze, die abgeschafft gehören. Wir hatten außereheliche sexuelle Beziehungen. Wir hatten Abtreibungen oder haben Abtreibungen durchgeführt. Wir haben gelernt zu heucheln, vorzutäuschen, zu lügen. Wir lange noch?"

Im Leitartikel erläutert die Redaktion von Le Monde: "In Marokko wurden 2018 14.503 Menschen wegen sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe belangt, und man schätzt, dass jeden Tag zwischen 600 und 800 illegale Abtreibungen durchgeführt werden."

Marokko steht nicht allein. Die USA sollen in einem Brief, der vermutlich an die Mitglieder der Vereinten Nationen geschickt wurde, diese gedrängt haben, sich einer "wachsenden Koalition" aus Abtreibungsgegnern anzuschließen, berichtet Liz Ford im Guardian. "In dem Brief, der offenbar von Außenminister Mike Pompeo und dem Sekretär des Gesundheits- und Sozialdienstes Alex Azar unterzeichnet wurde, werden die Regierungen aufgefordert, eine gemeinsame Erklärung gegen 'schädliche' UN-Politiken zur Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte zu unterzeichnen. Die Erklärung wird am Montag auf einer hochrangigen Sitzung der UN-Generalversammlung über die allgemeine Gesundheitsversorgung vorgestellt, heißt es in dem Schreiben", so Ford und zitiert aus dem Brief: "'Als eine der wichtigsten Prioritäten in der globalen Gesundheitsförderung bitten wir Ihre Regierung respektvoll, sich den Vereinigten Staaten anzuschließen und sicherzustellen, dass jeder souveräne Staat in der Lage ist, den besten Weg zum Schutz des Ungeborenen zu finden und die Familie als grundlegende Einheit der Gesellschaft zu verteidigen, für die Kinder, die ein erfolgreiches und gesundes Leben führen, von entscheidender Bedeutung ist', heißt es in dem Brief. 'Wir sind nach wie vor zutiefst besorgt darüber, dass die aggressiven Bemühungen um eine Neuinterpretation der internationalen Instrumente zur Schaffung eines neuen internationalen Rechts auf Abtreibung und zur Förderung einer internationalen Politik, die die Familie schwächt, in einigen Foren der Vereinten Nationen vorangekommen sind.'"

Und dann natürlich die Meinungsäußerung des Tages: Greta Thunbergs Rede vor den Vereinten Nationen, die unter anderem im Guardian nachgedruckt wird: "Wie können Sie es wagen! Sie haben meine Träume und meine Kindheit mit ihren leeren Worten geraubt."

Archiv: Politik

Europa

Die russische Autorin Alissa Ganijewa erzählt in der FAZ, wie in Russland Menschenrechts- und Ökoaktivisten von den Sicherheitsbehörden und Gerichten drangsaliert werden - nicht selten mit mehrjährigen Gefängnisstrafen. Und doch öffnen sich Risse im System, die sich etwa bei dem Tumult nach einem weiteren Willkürurteil zeigten: "Wir wurden geschoben, gestoßen, gequetscht. Einer Frau stießen die Beamten den Ellbogen vor die Brust, einer anderen renkten sie die Schulter aus, dann erschraken sie offenbar und riefen den Notarzt. Im Hof des Gerichts unterhielt ich mich mit einem Ex-Polizisten, der die Exzesse und Verbrechen der Organe nicht mehr ausgehalten und im August gekündigt hatte. Er versicherte, es gebe etliche ehrliche Polizeibeamte wie ihn, die aus dem wild gewordenen System rauswollten."

Die Stasi-Unterlagen-Behörde soll ins Bundesarchiv überführt werden, obwohl sie zur Zeit mehr Mitarbeiter als die künftige Mutterbehörde hat. Hubertus Knabe protestiert in der Welt gegen die Abwicklung der größten Institution zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Die Akten bleiben zwar erhalten und die Beamten behalten ihre Stellen: "Was sich allerdings ändern wird, ist, dass die größte Institution zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ab 2021 nicht mehr existieren wird. Kein Bundesbeauftragter wird dann mehr den gesetzlichen Auftrag haben, die Öffentlichkeit über das Wirken der Stasi zu informieren. Die Zahl der Außenstellen in den ostdeutschen Ländern wird mehr als halbiert werden, was erhebliche Folgen für die dortigen Bildungsprogramme haben dürfte. Die geplante Verschmelzung wird beide Archive zudem über Jahre hinweg mit sich selbst beschäftigen - und entsprechend lähmen."

Die Ermittlungen um den Mord an der maltesischen Bloggerin Daphne Caruana Galizia kommen kaum voran, und ihre Familie wird weiter unter Druck gesetzt, berichtet Matthias Rüb in der FAZ: "Erst in der vergangenen Woche hatte Dunja Mijatović, die Menschenrechtskommissarin des Europarats, in einem Brief an Ministerpräsident Muscat die Regierung in Valletta aufgefordert, anhängige Verleumdungsklagen gegen die Familie fallen zu lassen. Es geht dabei um rund dreißig Zivilklagen, die nach dem Mord an Daphne Caruana Galizia auf deren Hinterbliebene übergegangen waren. Bei den Klägern handelt es sich neben Premierminister Muscat um weitere Regierungsmitglieder sowie um Geschäftsleute, denen die Journalistin unter anderem Korruption vorgeworfen hatte." Die Klagen, so Rüb, drohen die Familie zu ruinieren.
Archiv: Europa

Gesellschaft

Das Berliner Urteil gegen Renate Künast ist ein Skandal, erklärt der Jurist Volker Boehme-Neßler auf Zeit online. Die Grünen-Politikerin hatte sich juristisch gegen Hasskommentare im Internet gewehrt, musste sich vom Berliner Landgericht allerdings sagen lassen, dass man sie durchaus als "Drecks Fotze" und "Stück Scheisse" bezeichnen dürfe und auch die Aussage "Wurde diese Dame vielleicht als Kind ein wenig viel gef… und hat dabei etwas von ihrem Verstand eingebüßt" zulässig sei. Boehme-Neßler findet das ganz und gar abwegig: "Wie alle Grundrechte hat auch die Meinungsfreiheit Grenzen. Die Grenze ist immer dann überschritten, wenn die Grundrechte anderer Menschen verletzt werden. Die Äußerungen, gegen die sich Renate Künast vor Gericht wehrt, sind vulgäre, sexualisierte Beleidigungen auf niedrigstem Niveau. Sie verletzen sie in ihrer Menschenwürde und in ihrer Würde als Frau. Das lässt sich nicht mit der Meinungsfreiheit rechtfertigen. Im Staat des Grundgesetzes kann 'Drecks Fotze' niemals eine zulässige Meinungsäußerung sein."
Archiv: Gesellschaft

Internet

In der New York Times erzählen Adam Satariano und Emma Bubola die Geschichte der italienischen Journalisten Alessandro Biancardi und Alessandra Lotti, die ihre Webseite PrimaDaNoi, eine lokale Nachrichtenseite, dicht machten mussten, nachdem sie mehrfach von Personen verklagt wurden, die ihr von der EU garantiertes Recht auf Vergessen durchsetzten. Das betraf auch den Fall eines Restaurantbesitzers, der im Streit mit seinem Bruder diesem mit einem Messer in den Nacken stach. Die Journalisten berichteten, jedes Wort war wahr, dennoch mussten sie den Bericht von ihrer Seite entfernen, eine Entscheidung, die 2016 vom höchsten italienischen Gericht bestätigt wurde. "Für Herrn Biancardi war die Entscheidung 2016 der Wendepunkt. Obwohl er gegen das Urteil beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung eingelegt hatte, wurde der Fall nicht behandelt. In den letzten zehn Jahren hatte PrimaDaNoi bereits 240 rechtliche Forderungen in Bezug auf den Datenschutz und das Recht auf Vergessen erhalten, darunter 40, die vor Gericht kamen. Das Urteil gegen ihn bestätigte, dass das Recht, vergessen zu werden, die Oberhand hatte, sagte er. Herr Biancardi sagte, dass er versucht habe, die Leute zu überzeugen, statt seiner Google auf zu zielen, aber mit wenig Erfolg. Er sagte, er habe mindestens 50.000 Euro Schulden aus Anwaltskosten und Bußgeldern. ... Im vergangenen September, genau 13 Jahre nach dem Start von PrimaDaNoi, hat er die Webseite stillgelegt."
Archiv: Internet

Ideen

Bedroht der Kapitalismus die Demokratie, wie überall behauptet wird? Ein weltweiter Vergleich sagt etwas anderes, schreibt im Tagesspiegel der Sozialhistoriker Jürgen Kocka. "Demokratische Ordnungen sind bisher nur in kapitalistisch wirtschaftenden Ländern verwirklicht worden. In Ländern, die den Kapitalismus vermieden oder abschafften, ging und geht es der Demokratie schlecht. Man denke an die Sowjetunion oder an Nordkorea, Kuba und Venezuela heute. Aber Kapitalismus gedeiht auch in autoritären und diktatorischen Systemen, sofern diese den Märkten den nötigen Spielraum belassen und sich mit ihnen verbünden; an Russland und China ist dies zu beobachten." Kurz: Es kommt eben darauf an, was die jeweilige Demokratie aus "ihrem" Kapitalismus macht, "auch wenn die Handlungsspielräume durch die Funktionsbedingungen des Kapitalismus, historische Prägungen und internationale Abhängigkeiten begrenzt sind. Auf Politik, gesellschaftliche Gestaltungskraft und Kultur kommt es an. Dort liegt die Verantwortung. Wenn etwas katastrophal schiefgeht, kann man sich nicht auf 'den Kapitalismus' herausreden."

In der FR sieht das die Philosophin Eva von Redecker ganz anders: Sie will den Kapitalismus abschaffen, indem sie das Eigentumsrecht abschafft. Was das konkret bedeutet, bleibt eher vage: "Steht die Frage nach der Utopie gerade deshalb im Raum, weil die Rebellion gegen die Sachherrschaft aus sich heraus kein Bild der Zukunft gebiert? Was wäre das, der Ausgang aus der sachlichen und der Sachherrschaft zugleich? Tatsächlich zeichnet sich bei näherem Hinsehen jedoch bereits im Beharren auf dem Überleben ein utopischer Horizont ab. Der Anspruch einer überwältigenden Ko-Verantwortung für den Erhalt des Lebens und der Lebensgrundlagen lässt sich in eine Bewegung der Reproduktion übersetzen. Diese Bewegung negiert Profitmaximierung ebenso wie Verfügungsmacht."
Archiv: Ideen