9punkt - Die Debattenrundschau

Sonntag für Sonntag in gut besuchten Messen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2019. In den neuen Ländern gibt es viel zu wenig politische Bildung in den Schulen, auch aus Angst vor Rechtsextremisten, schreibt die Politikberaterin Christina E. Zech in der NZZ. In der FAZ schreibt Ronald S. Lauder vom World Jewish Congress über Antisemitismus in Deutschland. In der arabischen Welt wird protestiert - und religiöse Identität ist dabei nicht mehr der entscheidende Faktor, beobachtet die taz. Frankreich ist das erste Land, das das neue europäische Leistungsschutzrecht durchsetzt - und Google und die Verleger liegen im Clinch, berichtet golem.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.10.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Ronald S. Lauder, Präsident des World Jewish Congress (WJC), wird am Montag Angela Merkel mit der Theodor-Herzl-Medaille auszeichnen. In der FAZ kommt er auf eine neue Umfrage zurück, die einen in Deutschland ziemlich konsistenten Antisemitismus nachweist (unser Resümee). "Wenn es ein Land auf der Erde gibt, das extrem empfindsam sein sollte, wenn es um Antisemitismus geht, dann ist es Deutschland. Die Parteien und gesellschaftlichen Eliten in diesem Land haben es jedoch versäumt, alle Formen des Antisemitismus von ganz rechts und ganz links konsequent zu bekämpfen. Und anscheinend hat dies dazu beigetragen, dass viele Menschen in Deutschland nie aufgehört - oder jüngst wieder begonnen - haben, diesem Hass zu glauben."

Der Osten, dem Helmut Kohl einst "blühende Landschaften" versprach, ist heute eine "Palliativstation", meint die Schweizer Politikberaterin Christina E. Zech in der NZZ und erklärt: Der Westen hätte nach der Wende auch in kommunale Strukturen und politische Bildung investieren müssen: "Westdeutschland erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg viele materielle Güter durch den Marshall-Plan. Parallel dazu wurden jedoch auch systematische demokratische Bildungsprogramme auf allen Ebenen etabliert: für Beamte und Politiker, für Journalisten und für den Nachwuchs per Lehrplan in den Schulen. Letzteres wurde im Osten sträflich vernachlässigt. (...) Das Schulfach Politik wurde nirgends im Osten systematisch eingeführt. Als ein namhafter Verlag zwanzig Jahre nach der Wende bei sächsischen Lehrkräften deren Bedarf an Lehrmitteln in Gemeinschaftskunde erfragte, hieß es: Das Fach stehe erst in den letzten Schuljahren auf dem Stundenplan. Doch es werde fast nirgends unterrichtet, denn es gebe zu wenig ausgebildete Lehrkräfte. Und selbst diese hätten Angst davor, dass ein Halbwüchsiger, der rhetorisch perfekt in rechtsextremem Denken geschult sei, ihnen das Wort im Mund verdrehe und den Unterricht schmeiße."

Rechtsextreme Attentäter
sind weder "Einzeltäter" noch "wirr", sondern handeln bewusst und verfügen über ein "konsistentes" Weltbild, schreibt der Kunst- und Kulturtheoretiker Jörg Scheller in der NZZ, um dieses Bild dann vor allem ästhetisch zu erklären: "Rechtsextremistische Weltbilder sind stark und kontrastreich. Sie sind so beruhigend wie energetisierend. Die empirische Realität indes ist unübersichtlich, widersprüchlich, widerständig und wandelbar. Für Rechtsextreme, die sich als heroische Künstler, als souveräne Autoren verstehen, ist der Eigensinn der Realität ein Affront. Es ist für sie unerhört, dass auch Feministinnen, Liberale oder Migranten an diesem Bild mitmalen wollen!Und weil sie die Welt da draußen nicht mit virtuellen Pinselstrichen verändern können, greifen sie irgendwann zur Waffe. Sie setzen ihr Kunstwerk fort. Aber sie malen mit Blut."
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Politik

Überall in der arabischen Welt protestiert die Bevölkerung, ohne dass sich die Bewegung bisher zu einem neuen "arabischen Frühling" verdichtet. Aber Karim El-Gawhary beobachtet in der taz eine interessante Verschiebung der Akzente: "Jahrzehntelang wurde den Menschen dort gesagt, dass ihre religiöse Identität der entscheidende Faktor der Politik ist, seien es Sunniten, Schiiten oder Christen. Doch jetzt sehen die Menschen, dass genau diese religionsbasierten Parteien sich selbst bereichern und eine Amigo-Wirtschaft installiert haben, in der sie die Ministerien zu ihren Selbstbedienungsläden gemacht haben."
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Europa

Jahrelang hatte sich Francos Familie gegen die Umbettung der sterblichen Überreste des ehemaligen Caudillo gewehrt, aber die spanische Regierung hat sie in einer strengen Zeremonie durchgezogen und Franco nun nördlich von Madrid neben dem Grab seiner Frau beerdigt. Die pompöse Basilika im Valle de los Caídos mit dem Franco-Mausoleum ist nun sozusagen verwaist, berichtet Rainer Wandler in der taz: "Spaniens radikale Rechte verliert mit dem Abtransport des Diktators eine in Europa einzigartige Kultstätte. Rund 400.000 Menschen pro Jahr besuchten bisher das Tal der Gefallenen. Jedes Jahr kamen am Todestag des Diktators Tausende in die Basilika. Die Benediktinermönche und ihr Prior unterstützen den Diktatorenkult Sonntag für Sonntag in gut besuchten Messen."
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Stichwörter: Franco, Francisco

Ideen

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch prangert in seinem neuen Buch "Gig Economy" die Arbeitsverhältnisse jener "unselbstständigen Selbstständigen" an, Paketzusteller oder Essenskuriere etwa, die ihre Arbeitszeit weder frei einteilen können noch sozialversicherungspflichtig angestellt sind. Im SZ-Interview mit Bernd Kramer fordert er deshalb eine Art Umsatzsteuer auf Arbeit: "In diesem System können wir Unternehmen Anreize bieten, Verantwortung zu übernehmen. Ich würde vorschlagen: Arbeitgeber können sich mehr Flexibilität kaufen. Sie bekommen einen Nachlass, wenn sie einen unbefristeten statt einen befristeten Vertrag anbieten, wenn sie Tarifgehälter zahlen oder in die Weiterbildung derjenigen investieren, deren Arbeit sie nutzen. Das wäre ein eleganter Weg, um Flexibilität und Sicherheit zu verbinden."
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Stichwörter: Crouch, Colin, Gig Economy

Internet

Im Zeit-Online-Gespräch mit Lisa Hegemann klagt der deutsche Investor Klaus Hommels, der schon früh Geld in Firmen wie Skype, Spotify oder Facebook investierte, über die europäische Mutlosigkeit bei Investionen in Start-ups: "In den USA investieren universitäre Stiftungen, Pensionskassen und Versicherungen in junge Unternehmen. In Deutschland gibt es das nicht. Und es hängt auch mit der Mentalität zusammen: In Amerika investieren auch mehr unternehmerische Familien. In Asien sind es diejenigen, die gerade reich geworden sind. In Deutschland dagegen regiert oft noch das Familienoberhaupt, das 40 Jahre lang die Firma aufgebaut und nie fremdfinanziert hat. Und wer einst in der Dotcom-Krise 25.000 Euro verloren hat, investiert nicht mehr in Digitales."
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Stichwörter: Startup, Spotify

Wissenschaft

In Zeiten von Fake News hat die Wissenschaft einen schweren Stand, schreibt der Philosoph Markus Gabriel in der SZ und beklagt nicht nur Wissenschaftsskepsis, sondern auch Wissenschaftsaberglauben. Vor allem betont Gabriel die Bedeutung der Geisteswissenschaften. Es  bleibe sonst "all dasjenige auf der Strecke, was die anderen Wissenschaften erforschen, wozu unter anderem die Einsicht gehört, dass das wissenschaftliche Weltbild eine Form des modernen Aberglaubens ist, die bisher nicht gehörig durchschaut wurde. Wer nur minimal theologisch informiert ist, sollte über die Ausmaße religiösen Aberwitzes schockiert sein, die etwa in der Technikhörigkeit des Silicon Valley mit seinen transhumanistischen Visionen und der animistischen Vorstellung zum Ausdruck kommen, dass die siliziumbasierten Produkte unserer neuen Technologien bald schon zum Träger von Bewusstsein werden könnten."
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Medien

In Frankreich werden das neue europäische Leistungsschutzrecht für Presseverleger zuerst verwirklicht. Google will allerdings nicht für die Anzeige von Snippets bezahlen und will Verlagen erlauben, freiwillig die Länge von akzeptierten Snippets einzustellen, berichtet Freidhelm Greis bei golem.de: "Einem Bericht des französischen Journal du Net zufolge haben 28 von 30 angefragten großen französischen Medien entschieden, aus Angst vor Trafficverlusten Google eine Gratislizenz zu erteilen und weiterhin kurze Textausschnitte (Snippets) von Inhalten anzeigen zu lassen. Auch deutsche Medien hatten nach Inkrafttreten des deutschen Leistungsschutzrechts im Jahr 2013 Google eine Gratislizenz erteilt, anderen Suchmaschinen hingegen nicht." Die Verlage wollen sich allerdings wehren und Google zwingen zu bezahlen, das heißt, "einen Kontrahierungszwang durchsetzen, den die EU-Urheberrechtslinie bewusst nicht vorgesehen hat".

Einige europäische Medienhäuser - oder Journalisten? - wenden sich in einem offenen Brief gegen Google: "Wir Journalisten haben lange für diese Richtlinie gekämpft. Weil es teuer ist, qualitativ hochwertige Nachrichten zu produzieren. Weil die aktuelle Situation unhaltbar ist, in der Google den größten Teil der Werbeeinnahmen einstreicht, die es durch das Abgreifen von Nachrichten erzielt." Mehr dazu bei Meedia.

59 palästinensische Online-Medien und Facebookseiten sind nach einem Urteil eines Gerichts in Ramallah blockiert worden, mit der Begründung, sie hätten Symbole der Palästinensischen Autonomiebehörde "verunglimpft" , meldet Alexandra Föderl-Schmidt in der SZ: "Die Pressefreiheitsorganisationen Reporter ohne Grenzen und International Press Institute kritisierten die Entscheidung. 'Diese unakzeptable Maßnahme scheint darauf ausgerichtet zu sein, Medien, die der Regierung kritisch gegenüber stehen, zu bestrafen. Webseiten zu blockieren ist klar ein Verstoß gegen das Recht auf Information', meint Sabrina Bennoui von Reporter ohne Grenzen. Die palästinensische Autonomiebehörde zeige damit, dass sie Medienpluralität nicht akzeptieren und Opposition eliminieren wolle."
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