9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne Kennzeichen unterwegs

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2019. In Atlantic feiert Yascha Mounk den Abgang Evo Morales' als einen Sieg der Demokratie. In der SZ spricht der Soziologe Andreas Reckwitz über den Konflikt zwischen der urbanen und der traditionellen Mittelklasse. Die Übermedien versuchen herauszukriegen, was der Burda-Verlag und Juli Zeh mit "Printjournalismus" meinen. Und die New Yorker Anthropologin Wednesday Martin erklärt in der Welt, warum FRauen nicht für die Monogamie gemacht sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.11.2019 finden Sie hier

Medien

Der Burda-Verlag - berühmt für billige Klickvieh-Angebote im Internet und Institute wie Superillu im Print - macht eine Werbekampagne, in der für die Überlegenheit von Printjournalismus geworben wird. Für diese Kampagne hat sich unter anderem die Schriftstellerin Juli Zeh einspannen lassen:


Höchst kritisch kommentiert Stefan Niggemeier diese Kampagne in seinen Übermedien: "Die Kampagne wirbt nicht für seriösen Journalismus, guten Journalismus oder Qualitätsjournalismus. Sie wirbt für Printjournalismus und dafür, dass das als Synonym für die anderen Begriffe verstanden wird... Tatsächlich arbeitet Burda an einer Neudefinition des Wortes 'Printjournalismus'. Burda-Vorstand Philipp Welte erklärt den Newspeak in einem Video zur Kampagne so: 'Print macht unsere Gesellschaft stark. Print macht unsere Demokratie stark. Das Wort Print steht in diesem Fall für den Journalismus der Verlage, also für hochwertige, glaubwürdige Inhalte, egal ob sie über gedruckte Medien oder über digitale Kanäle zu den Menschen kommen.'"

Selten wurde über einen Text so gespottet wie über die "Berliner Botschaft" des Verlegerehepaars Friedrich, das bekanntlich die Berliner Zeitung gekauft hat. Nach allen möglichen Mutmaßungen über Sinn und Zweck des Textes bleibt dem Spiegel-online-Kolumnisten Stefan Kuzmany nur eine Frage: "Oder ist diese 'Berliner Botschaft' doch nur die ganz private Melange aus nostalgischem Oststolz und neoliberalem Start-up-Geschwurbel des Ehepaars Friedrich, das nicht wusste, wohin mit dem Geld und der Zeit, und das sich jetzt eben aus Langeweile anschickt, der langen, bewegten Geschichte der "Berliner Zeitung" ein hochbizarres Kapitel hinzuzufügen? Die Zukunft der Berliner Zeitung bleibt jedenfalls spannend..."
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Kulturpolitik

Die Betreibergesellschaft der Philharmonie de Paris fordert vom Architekten Jean Nouvel 170 Millionen Euro wegen erhöhter Baukosten, berichtet die NZZ mit dpa. Nouvel reagiert mit einer Klage gegen die Betreibergesellschaft. Der Fall ist bisher einzigartig in dem weltweit bekannten Spiel um stets steigende Kosten von Repräsentationsbauten: "'Ein absurdes Spiel, das alle kennen und stillschweigend hinnehmen', sagte der Pariser Architekt Eric Delplanque. Jeder wisse, dass man Großprojekte wie Konzerthäuser weder für 80 Millionen noch für 173 Millionen Euro bauen könne, erklärte er. Deshalb ist für ihn der Pariser Streit um Jean Nouvel ein Skandal. Er werde zum Sündenbock für ein System, das an der Wirklichkeit vorbeigehe."
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Wissenschaft

"Frauen sind nicht für die Monogamie gemacht", erklärt die New Yorker Anthropologin Wednesday Martin, die auch ein Buch zum Thema geschrieben hat, im Interview mit der Welt. Sie glaube ja gar nicht, dass Forscher wie Freud oder Darwin, die  einen "verzerrten Blick auf weibliche Sexualität produziert haben, schlechte Wissenschaftler waren. Sie waren einfach Forscher, die in ihrer Zeit, mit ihrem Blick auf die Dinge und ihrem kulturellen Hintergrund geforscht haben. So wie Angus Bateman. Er hat Experimente an Fruchtfliegen durchgeführt und damit "bewiesen", dass Männer natürlicherweise promisk sind, während Frauen von Promiskuität nicht profitieren. Das hat sich als falsch rausgestellt. Natürlich profitieren Frauen von Promiskuität. Schimpansinnen zum Beispiel versuchen in ihrer fruchbaren Phase mit möglichst vielen Männchen Sex zu haben. So weiß nachher im Rudel niemand, wer der Vater des Kindes ist, und alle kümmern sich darum. Es brauchte eine Frau in der Forschung, um das herauszufinden, die Primatologin Zanna Clay. Frauen haben einfach einen anderen Blick auf Sexualität und eben auch auf die Forschung als Männer."
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Politik

Evo Morales hat Bolivien nach jüngsten Meldungen verlassen. Der Politologe Yascha Mounk erzählt in Atlantic, wie der Präsident im Laufe der Jahre die Institutionen seines Landes aushöhlte, um ein drittes und dann ein viertes Mal Präsident zu werden. Und dann stand die Bevölkerung auf: "Was er und einige seiner leichtgläubigsten westlichen Anhänger als Putsch bezeichneten, war in der Tat etwas ganz anderes: der Beweis, dass Bolivianer - wie die Bürger vieler anderer Länder der Welt - Willkür ablehnen. Je länger sie unter Unterdrückung leiden, desto mehr schätzen sie die demokratischen Institutionen, die heute von Populisten auf der ganzen Welt bedroht werden."

Beirut gehört zu den zahlreichen Städten in der Welt, in denen die Bevölkerung protestiert und zuweilen die gewohnten politischen Kräfteverhältnisse über den Haufen wirft. Lena Bopp schickt für die FAZ Impressionen aus der Stadt: "Es dauerte nicht lange, bis die von Iran gelenkte schiitische Organisation, die über Jahrzehnte im Libanon für ihre Anhänger einen Parallelstaat errichtet hat, ihre Schergen ein zweites Mal ins Zentrum der Proteste schickte. Dort zerstörten sie das Zeltlager der Demonstranten, während Sicherheitskräfte von der Seite aus so lange zusahen, bis das Werk vollbracht war. Allerdings wurde das, was von den Zelten übrig war, schon bald wieder aufgebaut. Und was verloren war, stapelte man zu einem Haufen und versah ihn mit einer frech im Wind flatternden Fahne."
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Religion

Fabian Goldmann unterhält sich in der taz mit dem Islamwissenschaftler Farid Hafez, der für einen der türkischen Regierung nahestehenden Thinktank (der keinen Einfluss auf ihn hat, wie er beteuert) eine Studie über "Islamophobie" Europa herausgebracht hat  (hier als pdf-Dokument). Hier werden auch Dissidenten des Islam als "islamophob" angeprangert, etwa weil sie Islamverbände kritisieren, die Regierungen nahestehen. Über Seyran Ateş sagt Hafez: "Seyran Ateş hat eine europäische Bürgerinitiative ins Leben gerufen, in der sie, ähnlich wie im McCarthyismus, eine Liste von autorisierten religiösen muslimischen Einrichtungen haben will. Davon soll abhängen, welche Einrichtungen Fördergelder bekommen. Ich halte das für eine enorm autoritäre Maßnahme, die darauf abzielt, dass bestimmte Islamausformungen akzeptiert und andere kriminalisiert werden."
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Ideen

Jens Bisky unterhält sich für die SZ mit dem Soziologen Andreas Reckwitz über dessen neues Buch "Das Ende der Illusionen - Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne". Reckwitz beschreibt darin unter anderem einen neuen Konflikt innerhalb der sozialen Mittelklasse: "Die neue, urbane Mittelklasse ist mit den Liberalisierungsprozessen der vergangenen Jahrzehnte verbunden, sie ist globalisierungsfreundlich und stark bildungsorientiert, teilt Werte wie Flexibilität, Unternehmertum, Emanzipation, Diversität. Die traditionelle Mittelklasse befindet sich eher im kleinstädtischen Raum, vertritt eher Werte wie Sesshaftigkeit, Ordnung, Verwurzelung, und ist eher globalisierungsskeptisch. Sie sieht sich durch den Liberalisierungs- und Mobilisierungsschub in die kulturelle Defensive gedrängt - und beginnt jetzt ja auch teilweise zurückzuschlagen."
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Europa

Der seit 2016 in der ostukrainischen Stadt Poltawa lebende deutsche Schriftsteller Christoph Brumme schickt der NZZ einen Brief, der kaum ein gutes Haar an den Russen lässt. Der Fotograf Oskar Mangur, der seit Beginn des Krieges nur noch Ukrainisch spricht, erklärte ihm, warum Putin in der Ukraine nicht nachgeben will: "Wenn man sagen würde, Kinder, lasst uns den Krieg im Donbass und die Okkupation der Krim beenden und die besetzten Territorien zurückgeben, so würden Tschetschenen und Dagestaner und viele andere ebenfalls die Rechte für ihre Territorien einklagen. Die Chinesen wollen halb Sibirien zurückhaben. Und der Kuban gehörte bis in die zwanziger Jahre zur Ukraine und Smolensk zu Litauen. Und die Kurilen gehören zu Japan, und Kaliningrad ist eine deutsche Stadt. Wenn Russland auch nur einen Meter eroberten Territoriums an die rechtmäßigen historischen Besitzer zurückgibt, wird es die Rechnung für dreihundert Jahre Kolonialismus bekommen."
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Internet

Sollten wir für das Hergeben unserer Daten nicht bezahlt werden, wie es Jaron Lanier und E. Glen Weyl kürzlich in der New York Times gefordert haben? Klingt verführerisch, liefert uns aber einem besonders rüden Kapitalismus aus, glaubt der Kultur- und Medienwissenschafter Roberto Simanowski in der NZZ: "Eine Alternative zu Laniers privatkapitalistischem Modell ist das ordoliberale der EU und der OECD, eine Datensteuer für IT-Unternehmen zu erheben. Der Gewinn, der aus Daten über Schweizer Nutzer gemacht wird, wäre dann in der Schweiz zu versteuern. Das Geld ginge also an den jeweiligen Produzenten der Daten vorbei direkt an deren Regierung. Man füllte nicht den eigenen Geldbeutel, sondern das Staatssäckel, was nicht die Konkurrenz unter den Bürgern stärkte, sondern das Solidaritätsmodell."

Stefan Herwig, Unternehmensberater der im Netz recht ominös wirkenden Agentur Mindbase Strategic Consulting, fordert auf der Medienseite der FAZ - angeblich zur Unterdrückung von Hassrede, aber vielleicht auch im Interesse von Kulturindustrien? -  eine Aufhebung von Anonymität auf sozialen Plattformen, und nicht nur dort: "Die Handlungen von Nutzern auf Streamingplattformen und sozialen Medien lassen sich mit einem Straßenverkehr vergleichen, in dem nicht nur Fußgänger und Radfahrer, sondern alle Teilnehmer ohne Kennzeichen unterwegs sind und in dem sich keine Verkehrssicherheit einstellt, weil Verstöße kaum geahndet werden." Gerne würde er die Überwachung der Nutzer erhöhen: "Der Klarname ist nicht erforderlich, wohl aber eine Pseudonymität, bei der nur die Plattform oder eine andere dritte Stelle sicher weiß, wer sich dahinter verbirgt."
Archiv: Internet