9punkt - Die Debattenrundschau

Wo keine Chancen sind, findet er welche

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2019. Nach dem Wahldesaster für Labour schäumen der Guardian und die New York Review of Books vor Wut über Jeremy Corbyn, der dem Land und dem NHS fünf weitere Tory-Jahre bescherte. Andrew Sullivan erkennt im New York Magazine Boris Johnsons Brillanz in einem Trumpismus ohne Trump. In der FAZ sehnt sich die Beiruter Soziologin Nadia Bou Ali nach einem Ende des sektierischen Staats im Libanon. Die FR verbeugt sich vor der Reporterlegende Nelly Bly, die einst aufdeckte, wie Hysterikerinnen hergestellt wurden. Und die taz verabschiedet Kalle Ruch, graue Eminenz und genialer Geschäftsführer der Zeitung, die anfangs nicht mal ein Bankkonto bekam.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.12.2019 finden Sie hier

Europa

Nach den Wahlen in Britannien, bei der Boris Johnson den Tories eine Mehrheit von achtzig Sitzen einbrachte, schäumt Jonathan Freedland im Guardian vor Wut über Jeremy Corbyn und seine Unterstützer, die den Tories diesen großen Wahlsieg ermöglichten: "Ein Ergebnis, das alle Rekorde des Versagens bricht. Man muss sich das mal klarmachen: Sitze an eine Regierung zu verlieren, die seit neun Jahren Austeritätspolitik betreibt, die eine vierte Amtszeit will, was bisher noch nie gewährt wurde, eine grausame Regierung, die innerlich so gespalten war, dass sie zwei frühere Schatzkanzler und einige ihrer bekanntesten Abgeordneten aus der Partei warf, geführt von einem Lügner und Betrüger. Eine halbwegs funktionierende Opposition hätte diese Tory-Partei vom Boden gefegt. Stattdessen wurde Labour von ihr zermalmt. Die Parteiführung verschwendete keine Zeit, um dem Brexit die Schuld zu geben. Der hat, keine Frage, unsere Politik erschüttert und es Labour schwer gemacht, die Wählerschaft zusammenzuhalten. Aber dies war keine Brexit-Wahl: Tatsächlich haben sich die Wähler am meisten um das Gesundheitssystem gesorgt. Das Problem war, dass die Wähler Boris Johnson in bezug auf das NHS mehr trauten als Jeremy Corbyn. Sie haben richtig gelesen."

Auch im Blog der New York Review of Books bedankt sich Matt Seaton recht herzlich bei Jeremy Corbyn, der seit 1983 nichts unversucht gelassen habe, die Labour-Party über den linken Rand in den Abgrund zu schubsen, so dass selbst ein linkes Urgestein wie Neil Kinnock nichts mit ihm zu tun haben wollte, wie Seaton erinnert. Jetzt hat er das Land den Tories überlassen, die unter David Cameron, Theresa May und Boris Johnson dem Land eine radikalere Schocktherapie verodnete als es Margaret Thatcher gewagte hatte: "In Britannien - was im Grunde bald England und Wales bedeuten könnte - steht nach dieser Wahl die Zukunft dessen auf dem Spiel, was aus ihm seit 1945 ein einigermaßen vernünftiges Land gemacht hat: die Sozialdemokratie."

Im New York Magazine bekennt sich Andrew Sullivan ganz unumwunden zu seiner Bewunderung für den brillanten Boris Johnson: "He outflanked the far right on Brexit and shamelessly echoed the left on economic policy. This is Trumpism without Trump. A conservative future without an ineffective and polarizing nutjob at the heart of it."

Stefan Kornelius betont in der SZ, dass Boris Johnson seinen Triumph vor allem auch dem Taktieren von Jeremy Corbyn verdankt, der Labour wie einen marxistischen Kader führte. Er sieht aber darüber hinaus auch einen weiteren Wandel: "Noch nie waren so viele Wähler der bürgerlichen Rechten mit so vielen Wählern aus den Arbeitermilieus vereint. Diese Wählerverschiebung ist in einer Klassengesellschaft wie der britischen bemerkenswert und verleiht der Wahl ihre historische Relevanz." In der FAZ beoabchtet Gina Thomas, dass sich die Tories nur noch "Regierung des Volkes" nennen und Benjamin Disraelis vereinigenden Konservatismus beschwören: Der 'One-Nation'-Konservatismus ist ein Schlagwort, das die Tories regelmäßig bemühen, wenn sie sich der Zuschreibung widersetzen wollen, dass sie nur den Reichen dienten."

In der taz pocht Rudolf Balmer darauf, dass es bei der französischen Rentenreform nicht um die Abschaffung von Privilegien geht, sondern um die Abschaffung sozialer Errungenschaften. Die Lokführer dürfen früher in Rente, weil sie sich in vielen Nacht- und Wochenendschichten abrackern: "Dass es den meisten Nachbarn in Spanien, Italien oder Deutschland im Rentnerleben noch schlechter ergeht, weil sie für eine oft viel kleinere Rente länger arbeiten müssen, kann kein Grund für die französischen Gewerkschaften sein, eine weitere Verschlechterung zu akzeptieren oder bei einem umfassenden Systemwechsel mitzumachen, der sich für fast alle Betroffenen - und namentlich die jüngeren Generationen - unweigerlich negativ auswirken würde. Die Angleichung an ein durchschnittlich tieferes Niveau der sozialen Sicherheit ist kein überzeugendes Argument."

In einem weiteren sehr lesenswerten Text in der NYRB rekapituliert Caitlin L. Chandler die deutsche Debatte um Integration und Leitkultur, besucht aber lieber das Kiez Bingo im SO36, das Nachbarschaftsprogramm von Welcome United in der Kiez Kantine oder die Kunst- und Ausbildungsprogramme in der Schlesischen 27.
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Politik

Mit Begeisterung und Skepsis zugleich spricht die Beiruter Soziologin Nadia Bou Ali im FAZ-Interview mit Lena Bopp über die Protestbewegung im Libanon, die das ganze Land in Aufbruchstimmung versetzt habe. Nur leider werde, wie sie bedauert, der sektiererische Staat nicht angegangen: "Die Leute rufen nach Einheit, aber jeder im Staat weigert sich, die Nutznießer des Konfessionalismus zu benennen. Sogar die Hizbullah kam und sagte, auch sie wolle die Einheit. Wenn die Protestbewegung sich darauf konzentriert, Wandel und bessere demokratische Prozesse zu fordern, dabei aber nicht die Klassenfrage stellt und nicht die soziale Ungerechtigkeit benennt, die mit ihr verbunden ist, wird sich nichts ändern. Dieselben Leute werden zurückkommen. Man muss diese Proteste immer wieder mit Forderungen nach Arbeitsplätzen verbinden und nach einer Gesundheitsversorgung. Nach Elektrizität - seit dem Ende des Krieges zahlen wir drei Stromrechnungen im Monat. Und nach Wasser - wir baden in unserem eigenen Dreck."
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Medien

Karl-Heinz Ruch, genannt Kalle, hört auf, und die taz verabschiedet nach 41 Jahren ihren Geschäftsführer, dessen Finanzgenie stets die wildesten Fantasie freisetzte, obwohl sein wichtigster Bündnispartner der trockene Olaf Scholz war, mit dem er das Genossenschaftsmodell austüftelte! Jan Feddersen blickt auf Kalle Ruchs Wirken zurück, das so bescheiden und grandios zu gleich war: "Er hat früh erkannt, dass das mit der gedruckten Zeitung historisch ein Ende haben wird: Gegen die Digitalisierung ist kein Ankommen. Und er hat besonders die digitale Transformation gefördert, die Internetpräsenz der taz auf taz.de und später auch das taz-zahl-ich-Modell - teils gegen Widerstände im Haus. Er ist, so gesehen, ein Aufbauhelfer und Aufbauorganisator. Wo keine Chancen sind, findet er doch welche. In den achtziger bis neunziger Jahren gab es nationale taz-Plena, auf denen Kalle Ruch heftig angefeindet wurde. Der muss weg, der macht seinen Job nicht gut, der gibt die Mittel für Expansionen auf dem Markt nicht frei, später gar hieß es, er lasse es nicht zu, dass millionenschwere Investoren die taz füttern oder sie aufkaufen."

Und Steffen Grimberg positioniert Kalle Ruch auf einer Höhe mit den anderen bundesdeutschen Verlegerpersönlichkeiten wie Axel Springer oder Hubert Burda, wenn auch nicht auf derselben Wellenlänge: "Kalle muss man sich dabei nicht als Verleger, sondern eher als Antiverleger vorstellen. Was ihn mit seinen Kolleg*innen eint, ist die Fähigkeit, meistens das letzte Wort zu haben beziehungsweise sein Ding auch gegen Widerstände durchzudrücken. Ansonsten könnten die Unterschiede nicht größer sein." Und der Steuerberater Bernhard Brugger erinnert sich an Zeiten, als die Banken der taz nicht mal ein Konto einrichten wollten.

In der FR erinnert Arno Widmann an die große amerikanische Reporterin Nellie Bly, die sich einfach nicht ins Ressort Mode und Garten abschieben ließ, sondern - um 1900 - die Welt bereiste und sich Fabriken einschleuste: "1892 veröffentlichte die amerikanische Feministin Charlotte Perkins Gilman ihre kleine Erzählung 'Die gelbe Tapete', eine der großartigsten Schilderungen weiblicher Psychiatrisierung. Eine tränentreibende Opfergeschichte. Nellie Bly betrieb keine Introspektion. Sie ging hinaus aus sich, hinein in die Psychiatrie und beschrieb, wie Hysterikerinnen hergestellt werden. Man wünscht sich heute eine Tageszeitung, die Platz für beide und noch viel mehr Sichtweisen hätte."

Reto Stauffacher beobachtet in der NZZ ein wenig ratlos, wie sich die Tagesschau, Washington Post und andere Medien mit TikTok ins "Meer der Belanglosigkeiten" stürzen: "Jedes Medienhaus dieser Welt steht vor der Herausforderung, sein Publikum zu verjüngen. Allerdings besteht die Gefahr, dass man sich auf Plattformen wie Tiktok anbiedert oder schlicht blamiert. Ob dahinter mehr steckt als ein Hype, wird sich weisen müssen. Denn so schnell, wie die konsumierten Tiktok-Videos wieder verschwunden und vergessen sind, so schnell sind die 13- bis 16-jährigen Nutzer zu einer anderen Plattform weitergezogen. Niemand weiß, welchen Social-Media-Hit das Jahr 2020 bringt."
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