9punkt - Die Debattenrundschau

Käserei für Connaisseure

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.08.2020. In der SZ staunt Stefan Kornelius über die lethargische Reaktion auf die Nachricht, dass Alexej Nawalny vergiftet wurde. Bei Twitter vergegenwärtigt Ralf Fücks die sadistische Brutalität der Attacke. Da haben wir's, konstatiert Ingo Dachwitz in Netzpolitik: Die Regierung will uns eine universelle Personenkennziffer geben. In der NZZ macht Lina Abirafeh klar: Die Frauen werden dafür sorgen müssen, dass der Libanon säkular wird. Und Zeit, mal über Bauern nachzudenken, meint Gunda Bartels im Tagesspiegel, nachdem sie Uta Ruge gelesen hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.08.2020 finden Sie hier

Europa

In der SZ staunt Stefan Kornelius über die lethargische Reaktion auf die Nachricht, dass Alexej Nawalny vergiftet wurde (mehr dazu hier): "Wenn der wichtigsten Figur der Opposition in Russland mutmaßlich Gift verabreicht wird, dann sollte das Empörungsbeben die Mauern des Kreml erreichen." Aber nichts. Haben wir uns so daran gewöhnt, dass der russische Staat seine Kritiker im In- und Ausland einfach ermordet? Alexander Litwinenko, Sergej Skripal, Pawel Chlebnikow, Natalja Estemirowa, Boris Nemzow, Boris Beresowski, Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Sergej Magnitskij, Selimchan Changoschwili - um nur ein paar Namen aus den letzten Jahren zu nennen. "Diese mysteriösen Taten werden von einem System gedeckt, das den Namen des Präsidenten trägt. Wohlgemerkt, es ist unwahrscheinlich, dass eine Beweiskette von den Todesfällen direkt zu Wladimir Putin führt. Aber unter seiner Herrschaft ist Russland zu einem klandestin-mafiösen Staat verkümmert. Der Sicherheitsapparat mit dem Verfassungsschutz an der Spitze hat ein Eigenleben entfaltet, klassische Staatsstrukturen mit starken Fachministerien führen ein nachrangiges Dasein."

Der Grünen-Politiker Ralf Fücks, ehemals Böll-Stiftung, denkt in einem Thread bei Twitter über den Mordanschlag auf Nawalny nach: "Mir gehen die Umstände des Anschlags auf #Navalny nicht aus dem Kopf. Sie sind von besonderer Grausamkeit. Das gewählte Mittel, ein Nervengift, lässt das Opfer unter brutalen Schmerzen langsam kollabieren. Man erlebt den eigenen Todeskampf... Es ging nicht darum, Navalny möglichst geräuschlos zu beseitigen. Ganz im Gegenteil: die Tat sollte Angst und Schrecken verbreiten. Sie ist nackter Psychoterror, Sadismus auf offener Bühne."
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Überwachung

Im Jahr 2007 führte die Bundesregierung die Steuer-Identifikationsnummer ein, die uns künftig von der Wiege bis zum Grabe begleitet. Damals versprach die Regierung, keine universelle Personenkennziffer aus dieser Nummer zu machen. Genau dies hat die Regierung nun heute vor. Den Referentenentwurf veröffentlicht Netzpolitik. Und Ingo Dachwitz kommentiert, dass eine Digitalisierung der Verwaltung auch ohne komplett transparente Identifikation der Bürger zu machen wäre: "Datenschutzfreundlichere Alternativen liegen nicht nur auf dem Tisch, sondern werden in anderen Staaten bereits seit Jahren erprobt. Der Normenkontrollrat, der die Bundesregierung bei der Verwaltungsdigitalisierung vor sich hertreibt, verweist beispielsweise auf das österreichische Modell. Statt einer zentralen Personenkennzahl gibt es dort verschiedene IDs für unterschiedliche Themengebiete. Diese bereichsspezifischen IDs funktionieren für die einzelnen Behörden genauso gut, erschweren aber technisch die im Grundgesetz nicht gewollte Zusammenführung von Daten." Übrigens bezweifelt Dachwitz, dass das Bundesvergfassungsgericht mitmachen wird: "Dieses Rechtsverständnis entstand auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, schließlich ermordeten die Nationalsozialisten Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Registern und Verzeichnissen erfassten Gruppen."
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Kulturpolitik

Wie soll die Stadt der Zukunft aussehen, angesichts von Coronakrise und Klimawandel, fragt Till Briegleb in der SZ. Zersiedelung für mehr Abstand oder mehr digitalisierte Zugänge, die menschliche Begegnungen minimieren, wären nicht seine Lösung. "Wohnungen brauchen Balkone, vor dem Haus Gärten statt Parkplätze. Straßen waren im Lockdown plötzlich wieder vorstellbar als öffentliche Räume statt als asphaltierte Auspuffröhren." Und Familien brauchen genug Platz zum Leben und Arbeiten in ihren Wohnungen, fordert er. Das funktioniere aber nur, wenn der Wohnungsbau nicht mehr auf Rendite ausgerichtet sei und der Boden vergesellschaftet werde: "Dass die Grundstückspreise in München seit 1950 um 36 000 Prozent gestiegen sind, ohne dass ihre Besitzer dafür irgendeine Leistung erbracht hätten, verursacht die allermeisten Probleme der Stadtentwicklung, sozial, vernünftig und umweltbewusst für die Allgemeinheit zu planen."

Außerdem: Nikolaus Bernau besucht für die Berliner Zeitung die Ausstellung "Chaos und Aufbruch", die hundert Jahre Stadtentwicklung in Berlin nachzeichnet.
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Politik

Ausführlich analysiert der Politologe Junhua Zhang in der NZZ Chinas neue aggressive "Wolfskrieger"-Diplomatie, die vom jetzigen Parteichef Xi Jinping verkörpert wird. Xi wird im Oktober einen Plan mit dem Titel "Ziel 2035" veröffentlichen, um seine Position weiter zu festigen: "Die Betonung langfristigen Handelns bietet Xi eine gute Grundlage, bis 2035 an der Macht zu bleiben. Dann wird er 82 Jahre alt sein. Mao Zedong starb in ebendiesem Alter und hinterließ dem chinesischen Volk ein bankrottes Land. Und jetzt regiert über China ein Mao Zedong ähnlicher Führer, Xi Jinping, der viel ehrgeiziger ist als der 'Große Vorsitzende'. Er möchte der Welt ein China präsentieren, das man fürchten soll." Allerdings sieht Junhua Zhang in der westlichen Welt durchaus Gegenkräfte, die Xis Machtstreben bremsen könnten.
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Gesellschaft

Was geschieht, wenn ein Land sich entlang konfessioneller Identitäten organisiert, kann man gerade prächtig im Libanon studieren. Haben die Menschen davon jetzt genug? Sarah El Bulbeisi hat sich für die NZZ mit fünf libanesische Intellektuelle unterhalten, die darauf eine Antwort suchen. Lina Abirafeh, Direktorin des Arab Institute for Women, setzt all ihre Hoffnungen auf die Jungen und vor allem auf die Frauen, die die Nase voll hätten: "Besonders Frauen leiden unter der Absenz eines säkularen staatlichen Rechts, weil sie einstweilen dem durchwegs patriarchalisch geprägten religiösen Recht der verschiedenen Konfessionen unterstellt sind. Die Aufstände sind deshalb auch als Ausdruck eines Generationen- und Geschlechterkampfs zu lesen: Mit ihrem Kampf für einen säkularen, auf einem zeitgemäßen nationalen Selbstverständnis gründenden Staat lehnen sich die Jungen auf gegen eine politische Klasse, die aus alten Männern besteht und sie nicht mehr repräsentiert."

Die Autorin Ronya Othmann schreibt heute ihre letzte taz-Kolumne "Orient-Express", die sie anfangs zusammen mit ihrer Kollegin Cemile Sahin betrieb und zitiert am Ende nochmal alle Namen, die ihr in den sozialen Medien unehrenhalber verpasst wurden: "Ein Jahr Kolumne, die 'Zionistin', 'AfD-Wählerin', 'Islamhasserin', 'Kafir', 'Lutz-Bachmann-Preisträgerin', 'PKK-Terroristin', 'Barzani-Anhängerin', 'Konservative', 'Schlampe', 'Miststück', 'Schwachmatin' und 'Hirntod-Patientin Ronya Othmann' verabschiedet sich und sagt Danke!"

Arno Widmann hat für die FR die Rede der US-Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez übersetzt, mit der sie auf die Beleidigungen des republikanischen Abgeordneten Ted Yoho reagierte, der sie auf den Stufen des Capitols als "fucking bitch" beschimpfte: "Ich stehe hier, weil ich sagen möchte: Bei der Verletzung, die Mr. Yoho mir zuzufügen versuchte, ging es nicht um mich. Wer so etwas sagt, in aller Öffentlichkeit, vor der Presse, der erlaubt damit anderen, seine Frau und seine Töchter genauso anzugreifen. Ich stehe hier, um zu erklären: Das ist nicht akzeptabel. Völlig gleichgültig, welche Ansichten man hat."

Zeit, mal über Bauern nachzudenken. Neulich beklagte Rudolf Neumaier in der SZ die endlosen Maisfelder in unseren ehemaligen Kulturlandschaften (unser Resümee). Heute verteidigt Gunda Bartels im Tagesspiegel nach Lektüre von Uta Ruges Buch "Bauern, Land - Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang" (Vorabdruck im Perlentaucher) die Bauern und kritisiert die "urbane Perspektive": "Die stellt - angefacht von den längst spürbaren Folgen der Klimakatastrophe und diversen Lebensmittelskandalen - den ganzen Berufszweig unter Generalverdacht. Der altehrwürdige Bauernstand hat sich im öffentlichen Bild zu einer agroindustriellen Bande von Grundwasservergiftern und Tierquälern verwandelt. Dem gegenüber steht der romantisch verklärte neue Kleinbauer, der, frustriert von urbanen Leben, im entvölkerten ländlichen Raum aufgelassene Höfe pachtet, alte Ziegen- und Schafsrassen züchtet und eine Käserei für Connaisseure unterhält."

Volkan Agar beschreibt "Cancel Culture" in der taz als eine Logik des letzten Mittels, zu dem angeblich Unterdrückte greifen: "Weil der Glaube an universelle Justiz verbraucht ist, greifen sie kommunikativ zu Selbstjustiz: Wer sich rassistisch und misogyn äußert oder soziale Ausbeutung zum Normalzustand erklärt, soll nicht einfach damit weitermachen. Aber Selbstjustiz ist gefährlich. Sie kann ein Zurückfallen hinter Rechtsstaatlichkeit bedeuten, Willkür ermöglichen. Zugleich wird Selbstjustiz aber zur Notwehr, wenn die bestehende Ordnung nicht alle Menschen gleich behandelt."

Außerdem: Hannah Bethke unterhält sich in der FAZ mit StipendiatInnen der Eles-Stiftung, die hochbegabte jüdische Studenten fördert, über Antisemitismus in Deutschland heute.
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Wissenschaft

Im Interview mit Zeit online erklärt der Forscher Reinhard Busse von der Berliner Charité, warum es ein Irrtum ist zu glauben, wir in Deutschland seien durch mit Corona, warum es für die Gesundheitsämter so schwierig ist, große Personengruppen bei einer Infektion nachzuverfolgen und was es mit den Risikogruppen auf sich hat: "Natürlich war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Ältere besonderen Risiken ausgesetzt sind, etwa um die Pflegeheime zu schützen. Aber längst sehen wir: Es gibt 40-Jährige, die schwer erkranken, und 80-Jährige, die überhaupt nichts merken. Und trotzdem betrachten sich die Jüngeren als immun! Was natürlich nicht stimmt. Das liegt auch an den epidemiologischen Begriffen, insbesondere dem Wort 'Risiko'. Das bedeutet in der Fachsprache zunächst nur eine 'überdurchschnittliche Wahrscheinlichkeit'. So haben die Älteren ein 'überdurchschnittliches Risiko', ja, aber es ist nicht so, dass die anderen kein Risiko haben! Vor allem unter Lehrern wird das aktuell total überinterpretiert. Viele von ihnen scheinen zu denken, jeder Mensch über 60 könne nicht mehr arbeiten, weil er Risikopatient sei. Das ist falsch."
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