9punkt - Die Debattenrundschau

Systematische Verwirrung der Hirne

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2020. Die weißrussischen  Proteste werden auch nach der Verschleppung der Oppositionellen Maria Kolesnikowa nicht abebben, ist sich FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt sicher. In der NZZ berichtet der Historiker Sergei Medwedew über eine beängstigende Normalisierung des politischen Terrors in Russland. Unterdessen warten Verschwörungstheoretiker von Gysi bis Kubicki mit immer neuen Versionen auf, um Putin reinzuwaschen, notiert Richard Herzinger. Timothy Snyder warnt in der Washington Post vor der Wahltaktik Trumps, die sich in zwei Wörtern zusammenfassen lässt: "Je schlimmer, desto besser." In der New York Times  diagnostiziert Ivan Krastev mit Blick auf Corona: Gerade die bösesten Buben haben die weichsten Knie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.09.2020 finden Sie hier

Europa

Die belarussische Oppositionelle Maria Kolesnikowa und zwei ihrer Mitstreiter sind gestern  von Unbekannten verschleppt worden. Die Proteste werden allerdings weitergehen, ist sich Friedrich Schmidt, Russland-Korrespondent der FAZ, sicher: "Das liegt auch daran, dass sie nicht durch Einzelpersonen wie Tichanowskaja und Kolesnikowa geführt werden, sondern eine Volksbewegung sind, die sich über Online-Kanäle organisiert. Womöglich verkennen das Lukaschenko und sein Sicherheitsapparat. Doch hat der Diktator in den vergangenen Wochen gezeigt, dass er für den Machterhalt zu allem bereit ist." In der taz schreibt Bernhard Clasen ein kleines Profil über Maria Kolesnikowa, die an der Stuttgarter Musikhochschlue studiert hat.

Dass Alexej Nawalny überlebt hat, kann nur ein Versehen gewesen sein, meint der Politologe und Historiker Sergei Medwedew in einem Kommentar, den die NZZ von der Plattform Dekoder übernommen hat. Doch die allermeisten Menschen in Russland schweigen: "Innerhalb dieses einen Jahres hat eine schleichende und dadurch umso beängstigendere Normalisierung des politischen Terrors stattgefunden. Soll heißen: Es gab ihn schon immer, aber er hat zumindest einen gewissen Protest hervorgerufen. Doch jetzt wird alles schweigend hingenommen, das ist eben die neue Norm: Folter, Mord, Vergiftung, fabrizierte Verfahren. 'Selber schuld', 'Man soll sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen'. Ich weiß nicht, was überwiegt: Gleichgültigkeit, Angst, Kraftlosigkeit, Lähmung . . . Man lese die Geschichte aller totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wir leben wie im Lehrbuch."

Richard Herzinger zählt in seinem Blog alle deutschen Politiker auf, die immer neue Versionen erfinden, um Putin von der Schuld an dem Nawalny-Giftanschlag reinzuwaschen - von Gregor Gysi, über die AfD-Spitze, bis hin zu Wolfgang Kubicki in der FDP. Und dann noch Trump! "Keine Waffe des Kreml ist auf lange Sicht so verheerend wie die von seinen Desinformationsapparaten betriebene systematische Verwirrung der Hirne und Unterminierung der Fähigkeit, Tatsachen von Fiktion, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Erfolg kann er damit in der hiesigen Öffentlichkeit freilich nur haben, weil ihm durch einen weit verbreiteten wurschtigen Relativismus, der noch die abartigsten von geheimdienstlichen Desorientierungsspezialisten eingespeisten Propagandaerfindungen als Ausdruck einer 'anderen, abweichenden Meinung' durchgehen lässt, ein Nährboden bereitet wird."

Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie greifen in einem Gastbeitrag für die FAZ eine alte, aber nie ernstlich weitergedachte Idee auf: Sie schlagen eine deutsch-französische Föderation vor. "In Europa braucht niemand mehr Angst zu haben vor einer Zusammenballung von 150 Millionen Doppelstaatsbürgern; es zählen weniger Bruttoinlandsprodukt und Truppenstärke als die Zukunftsfähigkeit, die eine gemeinsame Nachhaltigkeitspolitik sichert. Eine deutsch-französische Föderation sehen wir als den Schlussstein der seit 1945 entwickelten Freundschaft, aber auch als eine Kur für die Europäische Union, die dringend frischen Wind braucht."

Großbritannien hat eine offizielle Darstellung seiner Geschichtspolitik, gebündelt in einem Buch unter dem Titel "Life in the United Kingdom" (hier die Online-Version), das Einwanderer pauken müssen, bevor sie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Unter den Torys ist eine bereinigte Version erschienen, gegen die Hunderte Historiker protestiert haben. Frank Trentmann, der zu den Unterzeichnern des Historikeraufrufs gehört, stellt einige der Verfälschungen dar. Ein Beispiel, das gerade vor dem Hintergrund der wieder aufflammenden Nordirlandfrage in den Brexit-Verhandlungen interessant ist: "Im frühen siebzehnten Jahrhundert kolonialisierte Jakob I. Nordirland nicht mehr mit 'Gewalt', wie es in der früheren Version noch hieß; er 'ermunterte' protestantische Siedler aus England und Schottland, sich dort niederzulassen. So wird verschwiegen, dass es sich um Landraub auf Kosten der gälischen und katholischen Bevölkerung handelte."

Außerdem: Matthias Alexander attackiert in der FAZ den durch politische Affären diskreditierten, aber keineswegs rücktrittswilligen Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann als politischen Zwerg, ja populistischen "Mini-Trump".
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Politik

Trump hat nur noch eine Chance wiedergewählt zu werden, schreibt Timothy Snyder in der Washington Post: die Konflikte immer noch weiter zu verschärfen. "Je schlimmer, desto besser: Von den Leninisten bis zu den Putinisten blieb eine Taktik der Tyrannen immer gleich - lass die Leute leiden, verwandle den Zorn in Mord, mach eine unsichtbare Verschwörung für deine eigenen Untaten verantwortlich, und dann klaube die Überreste zusammen. Vom Oval Office aus ist es leicht, die Dinge zu verschlimmern, indem man zwei Grundprinzipien demokratischer Regierung außer Kraft setzt. Das eine sind faire Wahlen. Aber wir sehen, wie der Präsident... die notwendige Infrastuktur untergräbt und die Ergebnisse schon im Vorhinein in Zweifel zieht und dabei russische Propaganda-Memes wiederholt. Und durch die Aussetzung der Strafe für Roger Stone, einen Mittelsmann zwischen Russland und Trumps Wahlkampfteam bei der letzten Wahl hat, Trump Moskau ein klares Signal gegegeben, dass er die Einmischung auch diesmal gutheißt."
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Ideen

Eigentlich sollten die "starken", autoritären Männer in der Coronakrise punkten können. Statt dessen halten sie Augen und Ohren zu. Wie kommt's? Männer wie Trump, Putin, Bolsonaro oder Lukaschenko "genießen nur solche Krisen, die sie selbst fabriziert haben", vermutet der bulgarische Politologe Ivan Krastev in der New York Times. "Sie brauchen Feinde zum Besiegen, nicht Probleme zum Lösen. Die Freiheit, die autoritäre Führer am meisten schätzen, ist die Freiheit zu wählen, welche Krisen eine Antwort verdienen. Nur das erlaubt es ihnen, ein Bild von gottähnlicher Macht zu vermitteln. Im Russland vor dem 19. November 19 konnte Putin eine Krise 'lösen', indem er eine andere auslöste. Er machte den Rückgang seiner Popularität nach der Protestbewegung von 2011-12 rückgängig, indem er die Krim dramatisch annektierte. Trump konnte einst behaupten, dass Migrantenkarawanen aus Mexiko die größte Bedrohung für sein Land seien, und dabei die zivilisatorische Bedrohung durch den Klimawandel außer Acht lassen. Im Zeitalter des Coronavirus ist dies nicht mehr möglich."

Dass unsere Zeit so schnell geworden ist, haben wir den Aufklärern zu verdanken, meint im Interview mit der NZZ der Historiker Sandro Guzzi-Heeb. "Die Aufklärer entwarfen einen neuen Begriff von Zeit. Sie setzten sie gleich mit Fortschritt und Wachstum, mit der Verbesserung der Gesellschaft und der Befreiung vom Alten. Zugleich aber wurde die Zeit zu einem Gefängnis. Sie zwingt die Menschen, stets etwas Produktives mit ihr anzustellen, das zum Fortschritt führt. Die Zeit ist nicht mehr nur einfach da, sie muss gebraucht werden, was sogar für die Freizeit gilt, die der Arbeitszeit abgerungen wurde. 'Time is money', sagte Benjamin Franklin, der die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mitverfasste - was für eine Last für den Einzelnen!"

"Monopole werden, je länger sie erfolgreich sind, immer mehr zu politischen Institutionen", die die Spielregeln mitbestimmen, erklärt im Interview mit brand eins der amerikanische Historiker Matt Stoller. Er fordert einen besseren Schutz kleinerer Firmen und spricht sich für eine Zerschlagung monopolähnlicher Konzerne wie Facebook, Google oder Amazon aus. Die Europäer sind dabei allerdings keine große Hilfe, fürchtet er: "Denn einerseits beobachten sie Google und Facebook mit Unbehagen, zugleich wissen sie, dass in Deutschland die Autoindustrie die Politik viel zu stark mitbestimmt. Und dass man das auch in Angriff nehmen müsste, wenn man sich Google und Facebook vorknöpft. Europa schimpft zwar viel über die Dominanz der US-Konzerne, aber die meisten Politiker und Wettbewerbshüter haben im Grunde nichts gegen Monopole. Das Problem, das Leute wie der französische Präsident Emmanuel Macron oder EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager mit Facebook-Chef Mark Zuckerberg haben, ist eigentlich nur, dass er nicht Franzose beziehungsweise Däne ist."
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Religion

Der Islam ist eigentlich eine Friedensreligion, die seit Mohammed jedoch von Gotteskriegern, Islamisten und Autokraten missbraucht wird. So lautet im wesentlichen die These des Islamwissenschafters Mouhanad Khorchide, die er in seinem Buch "Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam" ausführt. Das ist Geschichtsklitterung, entgegnet ihm heute in der NZZ der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi. Auch die frühe Geschichte des Islam sei voller Gewalttaten, wie die Ermordung und Versklavung der Juden von Medina zeige: "Die politische Rolle des Propheten abzustreiten und ihn zum falsch verstandenen Friedensengel zu stilisieren, löst keine Probleme, sondern macht Khorchides Thesen angreifbar. Stattdessen müsste eine muslimische Erinnerungskultur sowohl die Ambiguität des Wirkens des Propheten als auch die im Koran angelegte Ambiguität seines offenbarten Islams zwischen ethisch-moralischen Lehren und politischem Wirken ernst nehmen und für eine Reform des Islams nutzbar machen. Eine solche Erinnerungskultur erlaubte allen Muslimen, Anteil an den Schicksalen der im Namen des Islams vertriebenen und hingerichteten Opfer der damaligen Zeit zu nehmen."
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Medien

Sophie Parmentier berichtet für France Inter vom Prozess um die Charlie-Hebdo-Attentate. Es wurden gestern Videobilder vom Tatort in den Redaktionsräumen gezeigt - viele Angehörige der Opfer haben den Saal verlassen, um die Bilder nicht zu sehen. Ein Ermittler berichtet im Zeugenstand. Er "nennt den Namen zu jedem Bild. Er beschreibt detailliert, wie jeder von ihnen getötet wurde, durch welchen Schuss. Dieser Kommissar, dessen Stimme nicht sehr deutlich ist, beschreibt die Anzahl der Schüsse. '21 Hülsen wurden wiedergefunden', 12 Magazine wurden draußen gefunden. Er spricht von gezielten Schüssen, nicht Salven. Er beschreibt die Einschüsse im Körper von Charb, den Zeichner, gegen den Al Qaida 2009 eine Fatwa erließ. Der Körper von Stéphane Charbonnier 'weist die meisten Einschüsse auf, sieben', sagt der Polizist den Richtern."

"'Je suis Charlie', mehr denn je", schreibt die Frankreichkorrespondentin der Welt, Martina Meiser, in einem Brief an die Redaktion des französischen Magazins. "Aber wir sind weniger geworden, zahlreicher dagegen diejenigen, die das Attentat zwar verurteilen, dann jedoch ein kleines 'aber' hinterhersetzen. Als würde man einer vergewaltigten Frau sagen: 'Dir ist etwas Schreckliches passiert, aber Dein Rock war zu kurz.'"

Die Journalistin Sara Schumann plädiert bei den Übermedien einen offenen Brief an alle JournalistInnen - nicht nur die vom Fach -, in ihrer Berichterstattung stets die Klimapolitik im Auge zu haben: "Viele Journalist:innen betonen zu Recht den Unterschied von Aktivismus und Journalismus. Aber die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels als vierte Gewalt zu kontrollieren, ist kein Aktivismus. Es ist wissenschaftlich, menschlich und journalistisch geboten. Wir Journalist:innen können das Versagen der Politik nicht einfach nur protokollieren. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die zur Nicht-Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels führen, sind nicht bloß eine Seite einer Geschichte, die wir zu Wort kommen lassen müssen." Der Brief hat bereits zahlreiche Unterzeichner.
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