9punkt - Die Debattenrundschau

Warum aber die Anführungszeichen?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2020. Die zweite gute Nachricht innerhalb einer Woche! Die Firma Biontech hat einen aussichtsreichen Impfstoff angekündigt. Im Businessinsider spricht Mitgründer Ugur Sahin über die Vorteile der mRNA-Technologie. Wer den Populismus in den USA betrachtet, muss auch die Medien betrachten, schreibt Jan-Werner Müller in der FAZ. In der NZZ erinnert Monireh Kazemi daran, wie der Westen die iranischen Frauen verriet. Eine Verschlüsselung mit Hintertür kann es nicht geben, warnen taz und Netzpolitik angesichts von Plänen der EU, sich einen Generalschlüssel für Messenger geben zu lassen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.11.2020 finden Sie hier

Wissenschaft

Die zweite gute Nachricht innerhalb einer Woche! Die Mainzer Firma BioNTtech und ihr amerikanischer Partner Pfizer haben gestern angekündigt, dass sie einen aussichtsreichen Impfstoff gegen den Corona-Virus entwickelt und bereits erfolgreiche Tests absolviert haben. Der Impfstoff basiert auf der neuen mRNA-Technologie, deren Vorteile der Mediziner Ugur Sahin, der zusammen mit seiner Frau, der Ärztin Özlem Türeci, BioNTech gegründet hat, in einem Interview mit Fanny Jimenez von businessinsider.de erklärt: "Für übliche Impfstoffe muss man Viren im Labor hochzüchten und dann mit diesen Viren Zellen infizieren in riesigen Zellkulturen, dafür braucht man sehr große Einheiten. Und der Prozess, der danach folgt, ist sehr, sehr aufwendig. Das können nur Firmen stemmen, die groß angelegt sind. Für einen mRNA-Impfstoff aber brauche ich, vereinfacht gesagt, zunächst einmal nur einen Bioreaktor von 50 Litern, mit dem ich die mRNA herstellen kann. Das ist das Tolle, weil es sehr gut skalierbar ist. Die Herstellung geht über Nacht. Man kann im Prinzip einen mRNA-Impfstoff innerhalb einer Woche herstellen. Hinzukommen die Qualitätsprüfungen, die noch einige Wochen Zeit in Anspruch nehmen." Bei heise.de erklärt Nike Heinen, wie ein mRNA-Impfstoff funktioniert.

Der Impfstoff hat allerdings einen Nachteil, der die Verteilung zur Herausforderung machen wird, merkt Ingo Arzt in der taz an: "Massen von Impfstoff müssen bei minus 70 Grad gelagert werden. Selbst ein Industrieland wie Deutschland kann ihn nicht einfach ins bestehende System kippen. Das macht eine globale Verteilung umso komplizierter. In Ländern des Globalen Südens drohen Hunderte Millionen Menschen in extreme Armut zu fallen, wenn dort die Pandemie nicht schnell gestoppt wird."
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Europa

In der Türkei sitzt der Romancier und Journalist Ahmet Altan immer noch beziehungsweise wieder im Gefängnis, erinnert Deniz Yücel in der Welt. 2018 war er verurteilt worden "wegen Beteiligung am Putschversuch, auf Grundlage einer Fernsehsendung, in der Altan eine 'unterschwellige' Putschbotschaft verbreitet habe. Abenteuerlich wie so viele Anklagen in der Türkei des Recep Tayyip Erdogan." Das Urteil war zwar aufgehoben aber Altan nach acht Tagen in Freiheit sofort wieder verhaftet und erneut zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. "Er ist jetzt 70 Jahre alt. Am Montag beging er seinen 1500. Tag in Unfreiheit."

In Belarus herrscht inzwischen ein Patt zwischen der Opposition und Alexander Lukaschenko. Die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja setzt auf einen Generalstreik und damit auf eine riskante Strategie, die für Lukaschenko den Einsatz des Militärs rechtfertigen könnte, schreibt Jan C. Behrends bei den Salonkolumnisten: "Mit der Ausnahme Litauens und Polens hat der Westen sich bisher in Belarus zurückgehalten. Wenn nichts Dramatisches passiert, dann wird sich daran in den kommenden Wochen kaum etwas ändern. Die Pandemie, der Brexit und die Wahlen in den USA bestimmen in diesem Herbst die Agenda. Wer Wladimir Putin kennt, der weiß, dass der russische Machthaber bereit ist, Fakten zu schaffen, wenn er unter Druck steht. Das hat die Annexion der Krim gezeigt. Es wäre deshalb vorschnell, eine russische Intervention in Belarus auszuschließen. Die halbherzige Reaktion auf den Mordversuch an Alexej Nawalny dürfte den Kreml zudem in dem Eindruck bestärkt haben, dass aus Berlin und Brüssel keine harschen Reaktionen drohen."
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Ideen

Zum fünften Todestag erinnert Richard Herzinger in seinem Blog an den großen André Glucksmann, von dem man vor allem den "konsequenten Bruch mit allen Konstruktionen eines illusionären Guten" lernen könne. Gerade darum waren für Glucksmann die Dissidenten in Osteuropa die Repräsentanten eines neuen Denkens möglicher Politik: "Die Abweichler vom 'realen Sozialismus' vereinten sich nicht mehr um ein gemeinsames Ideal, sondern kamen in der Entschlossenheit zusammen, sich den potemkinschen Dörfern und Sprachregelungen des Kommunismus nicht mehr zu beugen. Sie wollten aussprechen, wie seine Realität tatsächlich aussah."
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Gesellschaft

In der Berliner Zeitung kritisiert Maxi Beigang den Sexismus in der deutschen Presse. "Im Zuge der US-Wahlberichterstattung schrieb die Zeit zum Beispiel über die nächste First Lady der USA und beschrieb ihren Jobstatus, noch als Joe Biden Vizepräsident war, mit einer merkwürdigen Formulierung: 'Dabei blieb sie beruflich unabhängig: Selbst als Second Lady unterrichtete 'Dr. Biden' an einem sogenannten Community College'. Warum aber die Anführungszeichen? Warum folgt die Zeit nicht entweder der ungeschriebenen Medienregel und verzichtet gänzlich auf die Titelnennung oder lässt die Gänsefüße einfach gleich ganz sein? Stattdessen wird sich auf seltsame Weise von der Promotion von Jill Biden distanziert, ihre akademische Leistung verliert so an Wert. Auch diese Zeitung tappt immer wieder ins sexistische Fettnäpfchen."

In der NZZ nehmen heute gleich drei Texte den Islamismus kritisch unter die Lupe: Kritik an Mohammed muss selbstverständlich erlaubt sein, schreibt Abdel-Hakim Ourghi, Leiter des Fachbereichs Islamische Theologie und Religionspädagogik in Freiburg i. Br. Er plädiert dafür, die historische Figur Mohammed genauer zu untersuchen und den Wandel der muslimischen Gelehrten, die aus dem Menschen eine quasi heilige Figur machte. Der Vorwurf der Islamophobie "ist eine Strategie, um nicht nur den Islam unangreifbar zu machen, sondern auch die Macht der konservativ-politischen Organisationen und ihrer Anhänger zu stärken. Es ist heutzutage dringender denn je geworden, das religiöse Erbe des Islams und der muslimischen Wissenstradition kritisch zu beleuchten und gegebenenfalls auch infrage zu stellen."

Ebenfalls in der NZZ warnt Monireh Kazemi davor, den politischen Islam in Deutschland einfach gewähren zu lassen: "Für mich als Exiliranerin weisen nicht nur die Zustände in den islamisch geprägten Stadtteilen Deutschlands erhebliche Parallelen zu dem Prozess auf, der schließlich zur islamischen Revolution und zur Machtübernahme der Islamisten in Iran geführt hat. Auch die Haltung von Medien, Politik und Zivilgesellschaft, diese Themen wenn möglich zu ignorieren, wiederholt auf furchterregende Weise die damalige Untätigkeit." Kazemi erinnert daran, sie sehr auch die Linke sich damals einwickeln ließ: "Das gesamte iranische und internationale linke Spektrum entschied sich dagegen, die Proteste der iranischen Frauen gegen die Verschleierungspflicht zu unterstützen. Die Begründung war damals, man dürfe auf keinen Fall den Schah-Anhängern und den westlichen Imperialisten in die Hände spielen. Es war ihnen dabei egal, dass die Islamisten noch wesentlich brutaler und rücksichtsloser vorgingen als die Reaktionären. Eine Kritik nicht äußern zu dürfen, weil sie den Falschen in die Hände spielen könnte - kennen wir das nicht auch heute?"

Schließlich plädiert der Basler Theologieprofessor Georg Pfleiderer für eine möglichst unaufgeregte und sachliche Kritik am Islamismus, die keine neuen Opfererzählungen produziert.

In der Welt ärgert sich der Literaturwissenschaftler Magnus Klaue über die "moralische Erpressung" in der Coronabekämpfung: "Wer immer die getroffenen Maßnahmen für zu rigide oder in ihrer Ausrichtung für falsch halte, nehme den Tod von Menschen in Kauf. Jede Diskussion über den gesundheitspolitischen Nutzen etwa der Schließung von Restaurants und Cafés wird so für verantwortungslos erklärt."
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Politik

Philip Malzahn berichtet für die taz aus Bergkarabach über den neuen Krieg von russisch unterstützten Armeniern, die die das Gebiet beanspruchen und den von Türken unterstützten Aserbaidschanern. "Wie im ersten Krieg um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan von 1988 bis 1994 gilt auch dieses Mal: Wer die Kleinstadt Schuschi gewinnt, gewinnt den Krieg und damit das, was aus armenischer Sicht die Republik Arzach ist. Der Konflikt wird mit äußerster Brutalität ausgefochten. Während auf proarmenischen Telegram-Kanälen Videos kursieren, die zeigen, wie die Leichen von Aserbaidschanern von Schweinen gefressen werden, häufen sich umgekehrt Berichte von Exekutionen von Armeniern durch aserbaidschanische Soldaten und syrische Söldner, die über die Türkei zur Unterstützung in das Land gebracht werden." Le Monde meldet unterdessen, dass unter der Ägide Wladimir Putins ein Friedensschluss vereinbart worden sei, der die aserbaidschanischen Vorstöße absichere.

Wer den Populismus in den USA betrachtet, muss auch die (übrigens: traditionellen) Medien betrachten, schreibt Jan-Werner Müller in der FAZ: "Ein selbstdeklarierter 'Meinungsjournalist' wie der Fox- und Radiomoderator Sean Hannity verdient 38 Millionen Dollar im Jahr damit, den Leuten auf dem Lande einzureden, die Eliten in New York würden Tag und Nacht nichts anderes tun, als über 'rednecks', Angehörige der weißen Unterschicht, die Nase zu rümpfen. Einige neuere Studien legen nahe, nicht die Medien hätten sich einer radikalisierten Republikanischen Partei angepasst, sondern das rechte Talk Radio, dem es primär um Profite geht, habe die Partei zu immer neuen Extremen getrieben."

Außerdem: Die iranische Frauenrechtlerin Nasrin Sotoudeh ist in vorübergehenden Hafturlaub entlassen worden, um sich medizinisch behandeln zu lassen, meldet emma.de. Und im Guardian prophezeit Jan-Werner Müller ein Überleben des Trumpismus in raffinierterer Form.
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Überwachung

Nach den Terroranschlägen starten EU-Regierungen erneut einen Angriff auf die Verschlüsselung von Messenger-Diensten wie Whatsapp oder Signal. Schon seit den neunziger Jahren suchen Regierungen "global Zugriff auf geschützte Kommunikation", erläutert Daniél Kretschmar in der taz. "Spätestens seit der damals geführten ersten Runde der sogenannten Cryptowars erklären Netzaktivist*innen immer wieder, dass eine Verschlüsselung mit Hintertür eben keine Verschlüsselung ist. Denn erstens ist die absichtlich eingebaute Sicherheitslücke nicht davor zu schützen, dass sie auch von Kriminellen entdeckt und genutzt wird. Und zweitens gibt es eben keine Garantie, dass selbst demokratisch verfasste Staaten sie immer nur in bester Absicht nutzen würden, von repressiven Regimen mal ganz abgesehen."

Die "Folgen träfen vor allem Menschen außerhalb Europas", schreibt Constanze Kurz bei Netzpolitik zum Thema: "Denn Polizeien und Geheimdienste in allen Staaten Europas unterliegen verschiedenen Formen von Kontrolle. Die kann man im Einzelnen mit Recht kritisieren, aber sie existieren. Doch jenseits von Europa und Nordamerika sieht es düster aus."

Ebenfalls in Brüssel wird über die neue ePrivacy-Reform verhandelt, bei der Netzpolitik-Autor Alexander Fanta einige positive Ansätze sieht.
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Kulturpolitik

In der NZZ hat Michael Stallknecht kein Problem damit, dass die Kulturbranche der Unterhaltung zugeschlagen wird, sondern dass Unterhaltung als etwas angesehen wird, das der Mensch nicht notwendig braucht. "So richtig das Entwickeln von Hygienekonzepten im vergangenen Sommer war, so sehr müssten sie sich nun gegen eine Politik wenden, die im Namen des nackten Lebens das eigentliche Leben zu opfern bereit ist und im Namen der Gesundheit noch die kleinste Flucht aus dem Alltag zum überflüssigen Vergnügen erklärt. 'Dem Tod gegenüber gelassen zu sein, ist eine entscheidende Voraussetzung, um überhaupt zu leben', schreibt Robert Pfaller in 'Wofür es sich zu leben lohnt'."

Im Tagesspiegel berichtet Frederik Hanssen von einer Anhörung Berliner Künstlerinnen und Künstler im Kulturausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses über die Folgen der Pandemie: "Besonders hadern die Künstlerinnen und Künstler mit dem On und Off des Spielbetriebs. Der zweite Kultur-Lockdown hat sie ins Mark getroffen. Georg Strecker, der Geschäftsführer des Wintergartens, erklärte, dass es selbst dann schwer für ihn und seine Kollegen wird, wenn sich gegen Ende November herausstellen sollte, dass man tatsächlich im Dezember wieder spielen dürfen. Ein Restaurant oder ein Geschäft ließe sich vielleicht auf Zuruf wieder öffnen, Bühnen dagegen benötigten eine gewissen Vorlaufzeit, bevor bei ihnen der Vorhang wieder hochgehen kann. Darum müsse es seitens der Politik ein klares Datum für den nächsten Neustart geben, auf das dann auch Verlass ist, forderte Strecker."
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