9punkt - Die Debattenrundschau

Sigmund Freud und schwarze Galle

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2021. In der taz attackiert Caroline Fourest das Sektierertum von Islamo-Linken und Generation Beleidigt. In der SZ debattieren Gesine Schwan und Ulrich Matthes über Identitätspolitik, Gefühl und Argument. Die FR sieht eine neue Kultur der Anmaßung aufziehen. In der taz erzählt Can Candan zudem vom Kampf der Istanbuler Boğaziçi-Universität gegen den Autoritarismus. In der FAZ antwortet der Leopoldina-Präsident Gerald Haug auf die Vorwürfe des Historikers Caspar Hirschi.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.03.2021 finden Sie hier

Ideen

In der taz stellt die Journalistin Caroline Fourest klar, dass der in Frankreich gerade heiß umkämpfte Begriff der "Islam-Linken" nicht von der extremen Rechten stammt, sondern von dem Soziologen Pierre-André Taguieff, der damit auf den Schulterschuss von Linksextremen und Islamisten auf der berüchtigten UN-Konferenz von Durban reagierte. Die von der Bildungsministerin Frédérique Vidal angeregte Untersuchung zum Phänomen, findet sie ungeschickt eingeleitet, aber im Prinzip nicht falsch: "Das Problem besteht nicht darin, dass sie diese Weltanschauung in die Universität hineintragen, sondern dass sie in den Sozialwissenschaften inzwischen eine so überwältigende Mehrheit bilden. Und, dass sie jeden anderen Zugang zu diesen Themen, der ihnen widerspricht oder auch nur stärker differenziert, unmöglich machen. Ein solches Sektierertum passt zu einer Generation, die dazu neigt, sich von allem beleidigt zu fühlen. Das geht mittlerweile so weit, dass der Streit um Ideen mit einem Zusammenstoß von Identitäten, das Recht auf Gotteslästerung mit Rassismus und beinahe jede Abweichung oder Schattierung mit einer 'Mikroverletzung' verwechselt wird. Was die Lehre und selbst jedes Gespräch an einer Universität immer heikler machen."

In der SZ streiten die SPD-Politikerin Gesine Schwan und der Schauspieler Ulrich Matthes in einem sehr lesenswerten Gespräch über Identitätspolitik. Schwan pocht mit Immanuel Kant auf die Trennung von Gefühl und Argument: "Der hat es nicht so sehr mit Empathie, weil das Gefühlsmäßige ihm zu subjektiv ist. Er sagt das verstandesmäßig, wenn er fordert, sich an die Stelle der anderen zu versetzen. Das ist eine Frage der Einbildungskraft, nicht des Gefühls. Und wenn wir jetzt zu dem Schluss kämen, dass ich das nur kann, wenn ich völlig mit der anderen Person identisch bin, dann ist Verständigung in einer vielfältigen Gesellschaft gar nicht möglich. Ich finde auch den Versuch schwierig, auf das eigene Anliegen aufmerksam zu machen, wenn das verbunden wird mit einer sehr offensiven Selbstdefinition als Opfer, man traut sich dann kaum noch, etwas zu antworten. Das suggeriert, dass Widerspruch unsensibel ist für Leid. Und schwierig ist es auch, wenn sich eine Seite eigentlich gar nicht verständigen, sondern die Bühne erobern will."
Matthes dagegen verteidigt die Emotion: "Meine Wut gegen die AfD ist so groß, dass ich möglicherweise keine Argumente, keine Empathie, kein gar nichts mehr zur Verfügung hätte, wenn es 'pling' machte, und plötzlich stünde Alexander Gauland vor mir. Wir sind ja alle nicht nur aus Kant und Descartes und Platon gemacht, sondern auch aus Sigmund Freud und schwarzer Galle."

Auch FR-Autor Christian Thomas erkennt eine neue Kultur der Anmaßung", eine "Aggression gegen eine Kultur der Argumente". Und er macht sie in den Attacken von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharaja aus, die in ihrem Instagram-Auftritt die Deutschen als ein Volk von Nazis entlarvten, die nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Plus Kinder, Enkel und Urenkel! (unsere Resümees). Für Thomas ein schockierender Blödsinn: "Nicht ein einziges Mal in diesem Video, das seit Tagen geklickt und diskutiert wird, schauen die beiden grimmig, nicht einmal bei der von ihnen - stolz vorgetragenen - Wortfindung 'Genozidhintergrund'. Bemerkenswert, dass dieses Wort, abgesehen von einer einzigen Ausnahme, von den klassischen Printmedien überlesen wurde, wonach jeder Deutsche offensichtlich einen Völkermordhintergrund hat. Und jede Deutsche - im Namen der Gendergerechtigkeit - auch einen Massenmörderinnenhintergrund, heute noch."

Im Tagesspiegel stellt Wolfgang Thierse nach der Kritik von Sidney Gennies (unser Resümee) derweil klar, dass er durchaus auch queere Menschen für "normale Menschen" hält, also alltägliche: "Woher weiß mein Kritiker eigentlich, wen alles ich ins 'Normale' einschließe? Selbstverständlich alle queeren Menschen, die ich kenne und die ich auch nicht das Gendersternchen sprechen höre. Meinn Kritiker aber dekretiert mir, was ich meine."

In der NZZ warnt der katholische Philosoph Martin Rhonheimer vor einem wieder gestärkten Primat der Politik in Wirtschaftsfragen, der nur in die Knechtschaft führen könne: "Jeder Schritt, der die freie Verwendung privater Produktionsmittel (bzw. von Kapital) aus Gründen konkreter politischer Ziele ('Gemeinwohl') irgendwie einzuschränken, zu lenken oder zu regulieren sucht, ist tendenziell sozialistisch - auch wenn das Privateigentum dabei rechtlich-formell bestehen bleibt."
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Politik

Seit Monaten wird die Istanbuler Boğaziçi-Universität bestreikt, die Proteste richten sich gegen den neuen AKP-nahen Rektor Melih Bulu. Im taz-Interview mit Ingo Arend betont der türkische Filmemacher Can Candan ihre grundsätzliche Bedeutung, die nicht im Kampf zwischen Islam und Säkularismus bestünde: "Dies ist ein Kampf zwischen einem autoritären Regime und denen, die sich dem Autoritarismus widersetzen und die demokratischen Werte verteidigen. Es gibt muslimische Gläubige, die ebenfalls protestieren und sich dem Autoritarismus widersetzen, da religiöse Werte und Freiheiten nicht in Widerspruch zu wissenschaftlichen oder akademischen Werten stehen. Die Bogaziçi-Universität ist ein perfektes Beispiel für einen Ort, an dem Menschen aller Glaubensrichtungen oder solche ohne Glauben in Harmonie nebeneinander existierten. Dies ist vielleicht ein Grund, warum Boğaziçi ins Visier genommen wird, denn es ist ein konkretes Beispiel dafür, dass eine andere Welt möglich ist, in der solche künstlichen Spaltungen nicht existieren."
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Medien

In der FR unterhält sich Bascha Mika mit dem Journalisten und Medienethiker Tanjev Schultz über das "Frontschwein"-Gehabe von Bild-Chef Julian Reichelt und das Compliance-Verfahren, das mehrere Mitarbeiterinnen gegen ihn angestrengt haben. Aber klar: Überrascht sein kann hier niemand: "Psychosozial betrachtet kann die Arbeit bei so einem Boulevardblatt offenbar mit einer narzisstischen Kränkung einhergehen, die zu dem Impuls führt, andere Menschen fertig zu machen. Denn selbst wenn viele Leute die Bild-Zeitung wahrnehmen, wird sie letzten Endes belächelt und als Medium nicht für voll genommen."
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Wissenschaft

Zu Beginn der Woche warf der Historiker Caspar Hirschi in der FAZ der Wissenschaftsakademie Leopoldina und dem RKI-Präsidenten Lothar Wieler vor, Regierungspropaganda zu betreiben (unser Resümee). Heute entgegnet ihm recht scharf Gerald Haug, der Präsident Leopoldina. Wo sind die Belege?: "Hirschis Gespinst ist rundum falsch. Wie jede ihrer Stellungnahmen hat die Leopoldina auch die Ad-hoc-Stellungnahme vom 8. Dezember 2020 ohne politischen Druck und ohne Einmischung der Politik unabhängig erarbeitet. Die Kernaussage der Stellungnahme, dass ein 'harter Lockdown' zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung eine normativ gebotene Handlungsoption sei, beruhte ausschließlich auf den Einsichten von insgesamt 34 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an der hochgradig interdisziplinären Arbeitsgruppe mitgewirkt haben. Wer hier ein 'Kalkül' unterstellt, das politisch motiviert den wissenschaftlichen Diskussionsprozess fremdgesteuert habe, beschädigt mutwillig nicht nur das Ansehen der unabhängigen Wissenschaft und einer ihrer Institutionen. Darüber hinaus verunglimpft er vor allem die an der Arbeitsgruppe beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in ihren jeweiligen Fachgebieten eine hohe Reputation genießen, als willfährige Mitläufer."
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Stichwörter: Lockdown

Gesellschaft

Alex Rühle interveniert in der SZ gegen den sich durchsetzenden Standard, beim Fernunterricht die Kameras auszulassen. Datenschutz und die Privatsphäre von SchülerInnen muss man ernst nehmen, aber bitte nicht ihre Launen und Phobien ("Hashtag Selbstinszenierung"): "Joachim Bauer, der Entdecker der Spiegelneuronen, schrieb mal, die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns würden in erster Linie durch Beachtung, Interesse, Zuwendung und Sympathie anderer Menschen aktiviert. Momentan werden nicht die Spiegelneuronen aktiviert, sondern höchstens die eigene Spiegelneurose: Man sieht ja den ganzen Tag nur sich selbst. Würde es den Kindern nicht guttun, Vertreter ihrer Peergroup in genau derselben, semiperfekten Situation zu sehen? Und damit jeden Tag daran erinnert zu werden, dass sie nicht allein sind mit diesem Gesamtmurks?"

In der taz findet der Berliner Philosophielehrer Nils B. Schulz insgesamt Schule maßlos überschätzt.
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Fernunterricht, Datenschutz