9punkt - Die Debattenrundschau

Bloß kein Präzedenzfall

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.05.2021. In der Welt fürchtet der Historiker Karl Schlögel, dass Alexander Lukaschenko wirklich alles tun wird, um die belarussische Opposition zu vernichten. Die Aktivisten blicken in FAZ, taz und Standard entgeistert auf die Reaktionen der EU: Jetzt können sie das Land nur noch Richtung Osten verlassen. In der Financial Times ahnt Timothy Garton Ash, wie Boris Johnson einen Keil in die EU treiben will - Viktor Orban steht bereit. Die Welt erinnert auch an das Pogrom von Tulsa 1921. Und die SZ befindet, dass sich Deutschland bei den Herero und Nama inzwischen auch dafür entschuldigen müsste, dass sie so lange auf eine Geste warten mussten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.05.2021 finden Sie hier

Europa

Nach der erzwungenen Landung der RyanAir-Maschine in Minsk und der Entführung des Bloggers Roman Protassewitsch macht sich Historiker Karl Schlögel auf das Schlimmste gefasst. Die Botschaft, die der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mit diesem Akt der Piraterie an die Oppostion aussendet, vernimmt er auch, schreibt er in der Welt: "Wir machen mit Euch, was wir wollen. Es gibt keinen Rückzugsort. Es ist die Reaktion eines reaktionären, grausamen Diktators, der wild um sich schlägt, da er mit der neuen Öffentlichkeit, die sich jenseits seiner Machtsphäre und seiner Inszenierungen entwickelt hat, nicht fertig wird. Er muss die Leute in die Hand bekommen, die die Bilder von den Straßen in Minsk in die Welt geschickt haben, und er wird alles tun, um sie zu vernichten, in Geheimprozessen, Schauprozessen mit erfolterten Geständnissen, Todesurteilen. Tausende mussten fliehen und sich in Sicherheit bringen, Tausende sitzen in den Gefängnissen. Ja, und wir 'beobachten das Geschehen'."

In der taz beschreibt die belarussische Autorin Alexandrina Glagoljewa, wie unerträglich die Situation für die Aktivisten geworden ist, auch im litauischen Exil, in das sich viele flüchten mussten: "Roman ist, genau wie ich, ein politischer Emigrant. Er lebte schon lange in Vilnius, wohin er jetzt nach einem Urlaub in Athen auch gerade zurückwollte. Wir haben in der Vilniusser Diaspora viele gemeinsame Bekannte, und noch bevor diese Nachricht überhaupt öffentlich wurde, erfuhr ich durch sie, was passiert war. Die Gefühle, die ich seitdem durchlebt habe, kann man schwer mit Worten beschreiben. Es war so ähnlich wie ein völlig verrückter 'Murmeltiertag', denn erst am Abend zuvor hatte ich gehört, dass in einem belarussischen Gefängnis der demokratische Aktivist Witold Aschurok gestorben war. Ich erinnere mich gut an diesen schönen, lebensfrohen Menschen, den ich von den Protestdemos kannte, über die ich berichtet hatte. Er wurde nur 50 Jahre alt und hatte nie gesundheitliche Probleme gehabt. 'Sie haben ihn umgebracht', dachte ich, als ich von Aschuroks Tod erfuhr. Und: 'Sie bringen ihn um', dachte ich, als ich hörte, was mit Roman passiert war."

Auch im Standard-Interview mit Michael Wurmitzer ärgert sich der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko, weshalb die "Sanktionen erst kommen, nachdem 40.000 Leute durch Foltergefängnisse gegangen sind. Diese Sanktionen sind einfach lächerlich. Dass jetzt irgendwelche Leute nicht nach London fliegen dürfen, obwohl sie da sowieso nicht hinfliegen würden. Ich befürchte, dass es mit der Luftraumsperre aber getan sein wird - dass Europa glaubt, es habe genug gemacht, und sich wieder zurückzieht. Gleichzeitig bleiben Handelsbeziehungen aufrecht und werden immer noch Kredite vergeben. Wo es wirkungsvoll wäre, greift man nicht ein. Ich glaube, diese Pseudoaktionen Europas sind mehr dazu da, sich zu beruhigen, dass man eh etwas macht."

Nur noch bitteren Sarkasmus hat der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič für die immergleiche Floskel von der "großen Besorgnis" übrig, mit denen die EU auf das Gebaren Lukaschenkos reagiert. Was muss eigentlich noch passieren, fragt er in der FAZ, damit die große Besorgnis kritisch ansteigt? Reicht die Entführung des Flugzeugs? "Die Belarussen gerieten in großes Erstaunen, als der Westen wider alles Erwarten den unsichtbaren Himmelsvorhang gegen die Diktatur aufbaute. So streng war die Reaktion noch nie gewesen. Die Besorgnis zeigte sich schließlich wahrhaft groß. So groß, dass die Belarussen, die auf der Suche nach Rettung ihr Land verlassen wollten, jetzt in ihrer Heimat wie im Gefängnis leben. Belarus ist 'der geteilte Himmel' geworden, wie in Christa Wolfs vergessenem Roman. Dem Land entkommen kann man jetzt nur Richtung Osten - direkt in die Arme des 'knastfreundlichen' russischen Zaren. Allerdings bleibt noch die Türkei..."

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Warum macht Boris Johnson von allen EU-Politikern ausgerechnet Ungarns illiberalem Premierminister Viktor Orban den Hof, fragt Timothy Garton Ash in der Financial Times. Ideologische Nähe sieht Ash eigentlich nicht, eher eine selbstverschuldete Schwäche: "Nach dem Brexit braucht London Freunde innerhalb der EU. Entscheidende EU-Politiker wie der französische Präsident Emmanuel Macron wollen die Beziehungen zwischen EU und UK als ein Nullsummenspiel gestalten wollen. Orban pries dagegen im vergangenen Jahr überschwänglich Johnsons Führungsstärke beim Brexit.  Es ist bekannt, dass der ungarische Politiker keine Skrupel hat, wenn es darum geht, innerhalb der EU zu intervenieren, um die Interessen von Ländern wie China und Russland zu schützen, mit denen er enge Beziehungen pflegt. Wenn Orban das sogar für Xi Jingpin und Wladimir Putin tut, warum nicht auch für Johnson? Das ist zynisch, könnte man sagen - aber Lord Palmerston, Premierminister des 19. Jahrhunderts wäre wohl einverstanden. Britannien hat eine lange Geschichte, europäische Mächte gegeneinander auszuspielen, und ist versucht, dahin zurückzukehren."
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Politik

Warum interessiert sich der Westen eigentlich nicht für die soziale Schieflage im Osten?, fragt Anna Lehmann in der taz: "Vor zwei Jahren, als die Wende 30 wurde, sprach man viel über den Osten, über Transformation, gebrochene Lebensläufe, ab- und aufgewertete Biografien, Idenitätskrisen und Benachteiligung. Heute ist es jedoch wieder so, wie die 28 Jahre zuvor - der Osten kommt vor in Verbindung mit: Nazis, Russland, SED oder Nazis. Es ist fast so, als hielten nur instabile Verhältnisse den Osten im Gespräch und stabile Verhältnisse sorgen für Ignoranz der andauernden Benachteiligung. Die Ossis arbeiten länger und verdienen weniger, ihre Rentenpunkte sind weniger wert und sie sind seltener in Führungspositionen."
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Internet

Mag sein, dass hinter Blockchain und Kryptowährungen auch der Anarchismus der Cypherpunks steht, schreibt Andrian Kreye in der SZ nach dem großen Crash der vergangenen Woche (mehr hier), aber vor allem steht da der alte Hass auf den Staat von Amerikas libertärer Rechte: "Ein Web 3.0 soll entstehen, in dem Digitalgiganten wie Amazon, Google und Facebook zu Datenasche zerfallen. Kryptowährungen wie Bitcoin und Ethereum sollen Geld ersetzen und so das Monopol der Banken brechen. Bunt schillernde Kunstwerke erheben sich als NFTs befreit von Materie und Material in die kybernetischen Sphären, um das Tor zum Kanon und zum Kunstmarkt für alle aufzustoßen. Investmentmilliarden schwirren durch diese Welt wie Meteoritenstaub. Und tief in der digitalen Ursuppe der Blockchains stecken die Cypherpunks, die sich von Anfang an als digitale Guerilla stilisierten. Die prophezeiten schon Anfang der Neunzigerjahre, dass nur die Kryptografie die Menschen von der Herrschaft der Staaten und Konzerne befreien kann."
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Ideen

In der taz schreiben Axel Honneth und Rüdiger Dannemann zum 50. Todestag von Georg Lukács, dem "einzigen Marxisten, der zugleich ein Philosoph von Weltrang war". Honneth erinnert vor allem daran, wie Lukács der kommunistischen Partei Ungarns beitrat und sich der Sache zur Arbeiterklasse verschrieb: "Die Abhandlungen, in denen er in den folgenden Jahren diesen intellektuellen Stellungswechsel gerechtfertigt hat, gehören zum Besten, was die Geschichte des Marxismus an theoretischen Leistungen hervorgebracht hat: In dem Aufsatzband 'Taktik und Ethik' wird mit ungeheurem Rigorismus die moralische Frage aufgeworfen, welche ethischen Prinzipien den Kampf für die Errichtung einer proletarischen Diktatur legitimieren könnten, im Zentrum der legendären Aufsatzsammlung 'Geschichte und Klassenbewusstsein' steht mit der Abhandlung zur Verdinglichung eine Studie, welche die kühl-berechnende Lebensform der Moderne auf die Verhaltenszwänge des kapitalistischen Warentauschs zurückführt und das Proletariat als Retter aus der allgemeinen Lebensnot präsentiert. Ohne diesen einen abgründig-spekulativen Aufsatz, der den Deutschen Idealismus mit gedanklichen Elementen von Marx, Simmel und Weber verknüpft, hätte es, so darf man vermuten, keinen westlichen Marxismus, ja keine Frankfurter Schule gegeben - trotz aller Kritik, die Adorno später an Lukács geübt hat."
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Medien

Sehr kundig erzählt Wolfgang Michal im Freitag vom Niedergang von Gruner und Jahr, dem publizistischen Segment des Bertelsmann-Konzerns, der sich unter dem neuen Chef Thomas Rabe als integrierte, nur mehr in weiter Linie von Inhalten gesteuerter Vermarktungskonzern darstellt: "Er will die komplette Wertschöpfungskette von der Idee bis zum Vertrieb zu hundert Prozent kontrollieren. Mit der Vermarktung von Barack und Michelle Obamas Memoiren ist Rabe das ansatzweise gelungen. Die Bertelsmann-Tochter Penguin Random House kaufte die Exklusivrechte der Obamas für mehr als 65 Millionen Dollar. RTL und Stern steuerten Exklusivinterview und Titelstorys bei und Bertelsmanns globale Werbemaschine sorgte dafür, dass die Bücher in zweistelliger Millionenhöhe in Dutzenden von Ländern verkauft wurden."

Sally Buzbee wird neue Chefin der Washington Post, und in der SZ konstatiert Christian Zaschke nicht nur, dass immer mehr Spitzenpositionen im amerikanischen Journalismus mit Frauen besetzt werden. Die Zeichen der Zeit ändern sich auch im Ethos, wie ihm die Medienkritikerin Jennifer Pozner von der Organisation Women in Media & News freudig verkündet: "'US-Journalismus fußte lange auf dem Konzept, dass Objektivität hergestellt werden muss', sagt sie, 'nur: Welche Objektivität ist das? Es ist die Objektivität des weißen Mannes mit gutem Einkommen.'"
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Geschichte

Deutschland erkennt die Ermordung der Herero und Nama nun als Völkermord an und wird sich entschuldigen und zur Wiedergutmachung gut eine Milliarde Euro zur sozialen Unterstützung zahlen. In der SZ findet Bernd Dörries, dass sich die Bundesregierung inzwischen auch dafür entschuldigen musste, dass sie sich so spät entschuldigt: "Den Genozid in Namibia hat man stets als juristisches Problem behandelt, nicht als menschlich-moralisches. Es sollte bloß kein Präzedenzfall geschaffen werden angesichts des Leids anderer Völker. Gleichzeitig zeigte die Politik mit dem Finger auf andere, verurteilte den Völkermord der Türken an den Armeniern."

In der Welt erinnert Hannes Stein an das Massaker von Tulsa in Oklahoma, bei dem 1921 ein weißer Lynchmob das schwarze Stadtviertel Greenwood zerstörte und bis zu dreihundert Menschen tötete: "Es gibt ein Wort für das, was 1921 in Tulsa, Oklahoma, geschah: Pogrom. Zeitungen wie die New York Times verurteilten das Massaker. Aber in jenem Teil von Tulsa, wo die Sieger wohnten, wurden hinterher Postkarten verkauft, die brennende Häuser und schwarze verstümmelte Körper zeigten. Weiße Kapuzen mit weißen Roben blieben für viele Jahre das beliebteste Halloweenkostüm für Kinder. Tausende traten in den Ku-Klux-Klan ein. Offiziell nannte der Klan sich 'Benevolent Society', wohltätige Gesellschaft; ein Jahr nach dem Pogrom errichtete er eine Art Tempel, der sich 'Beno Hall' nannte. Die Leute in Tulsa sagten: 'Beno' - das stehe als Abkürzung für 'Be No Nigger, Be No Catholic, Be No Jew'." WNYC Studios haben zu den Ereignissen von Tulsa eine hervorragende Podcast-Reportage erstellt, die ab nächster Woche aus außerhalb der USA hörbar ist.
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