9punkt - Die Debattenrundschau

Diplomatisches Geflöte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.08.2021. Die Taliban sind in Afghanistan an der Macht. Die Hoffnungen auf ihre Läuterung sind groß. Wird diplomatischer Druck helfen, nun "ein neues inklusives, transparentes politisches System" zu errichten, fragt der  afghanische Schriftsteller Taqi Akhlaqi in der SZ. Ayaan Hirsi Ali erinnert in Unherd daran, dass man einst überzeugt war, auch unsere Sicherheit am Hindukusch zu verteidigen. Armin Nassehi geißelt in der FAZ die Ängstlichkeit deutscher Politiker, die vor einer rechtzeitigen Evakuierung der Helfer zurückschreckten. Außerdem: Kronprinz Wilhelm von Hohenzollern konnte den Nazis gar keinen "erheblichen Vorschub" leisten. Dazu war er viel zu doof, lernt die SZ von Lothar Machtan.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.08.2021 finden Sie hier

Politik

Der im deutschen Exil lebende afghanische Journalist Mortaza Rahimi ist entsetzt über den Abzug der Amerikaner. Aber natürlich, schreibt er in der taz, haben sie Fehler gemacht: "Der Höhepunkt dieser Fehler waren Verhandlungen mit den Taliban und unzählige Zugeständnisse an diese Terrorgruppe. So erhielten die Taliban die Möglichkeit, eine politische und diplomatische Position in der Region einzunehmen, was zu ihrer erheblichen Unterstützung aus China, Russland und dem Iran führte."

Alles alles seit 2001 ist Schuld der Amerikaner, ist sich dagegen Georg Diez in seiner taz-Kolumne sicher: "Es wurde eine 'Herrschaft des Terrors' errichtet, so nennt das der amerikanische Journalist und Pulitzerpreisträger Spencer Ackerman in seinem kürzlich auf Englisch erschienenen Buch 'Reign of Terror' - nicht von den Taliban, sondern durch amerikanische Politik, im Ausland wie im Inland."

Nikolas Busse gibt in der FAZ Joe Biden recht, der die Schuld für das Debakel bei den Afghanen sieht, die sich nicht verteidigten: "Mit der Frage 'Wie viele Generationen von Amerikas Töchtern und Söhnen soll ich noch in den afghanischen Bürgerkrieg schicken, wenn ihn die afghanischen Truppen nicht führen wollen?' trifft er den Nagel auf den Kopf." Die Präsenz der Amerikaner habe zwar befriedend gewirkt, so Busse. "Wer aber wäre bereit gewesen, sich auf eine quasi unendliche Präsenz in Afghanistan einzulassen? Amerika ist seit Langem kriegsmüde. Den Europäern fehlen die militärischen Mittel, vom Kampfeswillen ganz zu schweigen. Die Wahrheit ist, dass nicht nur die Afghanen vor den Taliban davonliefen, sondern auch ihre westlichen Schutzherren."

Es sei ein Mythos, dass "ein migrationsfreundliches politisches Programm per se zu unkontrollierbaren Fluchtentscheidungen führe", schreibt Armin Nassehi in der FAZ. Dennoch habe die übergroße Angst davor deutsche Politiker bewogen, die Evakuierung afghanischer Helfer viel zu spät einzuleiten: "In diesem Fall hätte man aktiv handeln müssen, für eine konkrete Personengruppe, für eine zu definierende Anzahl von Menschen, die die Bundeskanzlerin kürzlich mit etwa 10.000 Menschen beziffert hat. Und wären es dreimal oder fünfmal so viele - es hätte nicht einmal den Anschein jener Signale gehabt, vor denen die handelnden Personen eine so große Angst haben."

Interventionen enden oft im Desaster. Aber ohne Interventionen wird es künftig auch nicht gehen, meint Welt-Autor Thomas Schmid: "Zumal die Gegenstrategie zur Intervention, das immerwährende Verhandeln, eine miserable Bilanz aufzuweisen hat. Die Engelsgeduld, mit der deutsche Außenminister von Steinmeier über Westerwelle bis Maas bemüht waren, 'den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen', hat höchst selten zu vorzeigbaren Ergebnissen geführt. Kein diplomatisches Geflöte hat Putin zum Einlenken in der Ukraine genötigt."

In der SZ erzählt der schuldgeplagte afghanische Schriftsteller Taqi Akhlaqi aus dem indischen Exil, wie er versucht seine Eltern und Geschwister zu trösten, die verängstigt in Afghanistan festsitzen: "Die Taliban sagen offen, was für Beziehungen sie mit anderen Ländern haben möchten. Die internationale Gemeinschaft kann und sollte das als Köder nutzen, und damit dafür sorgen, dass die Rechte der Frauen, Minderheiten und aller Bürger Afghanistans anerkannt werden."

"Entweder haben die Taliban sich gewandelt oder sie haben schlicht jede Menge Kreide gefressen", berichtet auch Thomas Avenarius in der SZ nach der ersten Pressekonferenz, die die Taliban nach der Einnahme Kabuls gaben: "Die militanten Islamisten wollten die Macht in Afghanistan teilen, versprach der Sprecher der Bewegung bei der ersten Pressekonferenz nach der Einnahme von Kabul. Man werde auch andere politische Kräfte an der Macht in Afghanistan teilhaben lassen, sagte Sprecher Sabihullah Mudschahid. 'Wenn die Regierung gebildet ist, dann wird jeder einen Teil daran haben.'" Auch die Frauen?

Die Filmemacherin Sahraa Karimi befürchtet dagegen das schlimmste, schreibt sie in einem offenen Brief, aus dem die SZ zitiert: "In den vergangenen Wochen haben die Taliban unsere Leute massakriert, sie haben viele Kinder gekidnappt, Mädchen als Kinderbräute an ihre Männer verkauft, sie haben Frauen wegen ihrer Kleidung ermordet, sie haben einen unserer geliebten Komödianten gefoltert und ermordet und einen unserer Dichter sowie den Zuständigen für Kultur und Medien unserer nun abgesetzten Regierung."

Bei Spon fragt Katrin Elger, ob wir nicht erstens eine Frauenquote bei den zu erwartenden afghanischen Flüchtlingen brauchen, und zweitens, warum sich Feministinnen kaum zum Thema äußern: "Mit sehr viel Energie stürzen sich Aktivist*innen und Politiker*innen in den Kampf, um mehr Gerechtigkeit in der deutschen Sprache zu erreichen, Quoten in Aufsichtsräten und Vorstandsetagen oder höhere Gehälter. Keine Frage, auch in diesen Belangen gibt es im Sinne der Gleichberechtigung noch viel zu tun. Was die Benachteiligung der Frauen im Asylsystem betrifft, bleibt es aber seltsam still. Vielleicht, weil es dabei 'nur' um einen humanitären Aspekt geht - und nicht um die Verteilung von Macht?"

Die einstige Erkenntnis, dass auch "unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird", wird in den letzten Tagen bemerkenswert wenig zitiert. Ayaan Hirsi Ali kommt in Unherd nochmal darauf zurück: "In Wirklichkeit erhöht dieser chaotische, demütigende Rückzug das Risiko eines Terroranschlags auf das amerikanische Heimatland erheblich. Abgesehen davon, dass er einen dysfunktionalen amerikanischen außenpolitischen Apparat offenbart, ist Afghanistan jetzt auch ein schwarzes Loch für die Geheimdienste. Selbst wenn wir in der Lage sind, einige unserer afghanischen Geheimdienstmitarbeiter abzuziehen, haben die USA eine wichtige Informationsquelle über dschihadistische Aktivitäten verloren."

Außerdem: Die Chinesen haben schon im Juli Kontakt mit den Taliban gesucht, denn sie haben ein "47 Meilen langes Problem" mit Afghanistan, womit der östliche Wurmfortsatz des Landes Richtung China gemeint ist, berichtet Stuart Lau bei politico.eu. Aber die Bravgewordenen hätten bereits versichert, das sie die Uiguren nicht unterstützen werden. Bei libmod.de untersucht Maximilian Kalkhof  die Rolle der Chinesen im  Geschehen.
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Ideen

Thomas Wessel, selbst Pfarrer, setzt bei den Ruhrbaronen seine selbst theologische Reflexion über A. Dirk Moses und und dessen mit theologischen Argumenten vorgebrachte Kritik am "Katechismus der Deutschen" fort: "Theologie ist symbolisches Sprechen. Ob Gott nach Auschwitz noch zu denken sei, lässt sich lesen wie die Frage, ob Vernunft nach Auschwitz noch zu fassen, Aufklärung über sich selber aufzuklären sei. Die Denkfiguren, die Theologie an die Hand gibt, lassen sich analytisch nutzen oder so, wie es Dirk Moses tut."

Außerdem: Auf den Wissenschaftsseiten der FAZ erinnert der Historiker Lasse Heerten daran, dass Holocaustvergleiche im postkolonialen Kontext um 1970 gang und gäbe und erst später umstritten waren.
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Gesellschaft

Nach dem Ehrenmord an einer jungen Frau afghanischer Herkunft in Berlin kritisiert Necla Kelek im Gespräch mit Claudia Becker von der Welt die Migrationsforschung in Deutschland, die zwar mit Millionen Euro ausgestattet sei, sich aber nur auf das Thema der Diskriminierung fokussiere, nicht auf die Weltbilder der migrantischen Bevölkerung. Wie wird sie sozialisiert? "Entscheidend ist zudem: Wie werden Migrantenkinder in der Schule auf unsere Werte wie Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung vorbereitet? Werden sie überhaupt darüber unterrichtet, wie das Zusammenleben in unserer freiheitlichen Gesellschaft gestaltet werden soll? Die beiden Brüder, die ihre Schwester getötet haben, sind schon ein paar Jahre in Deutschland. Wo wurden sie sozialisiert, dass sie zu einer so skrupellosen Handlung fähig waren?"

Zur Zeit läuft Anna Zohra Berracheds Film "Die Welt wird eine andere sein" im Kino, der die Liebesbeziehung eines der Attentäter vom 11. September romantisiert und den politischen Hintergrund zur bloßen Kulisse macht. Auch ein Beispiel für eine Gesellschaft, die eine totalitäre Bedrohung nicht wahrnehmen will, findet Peter Mathews im Perlentaucher: "NDR, Arte und Co haben insgesamt sechs Millionen Euro in die Produktion investiert. Er erhielt europäische Filmförderung. Er wurde mit dem Deutschen Filmpreis in Silber ausgezeichnet. Es mutet befremdlich an, dass diese Fassung alle Kontroll- und Fördergremien, einschließlich der Berlinale  - die Kunstfreiheit in Rechnung gestellt - widerspruchslos passiert hat."

Maria Ozols, Arbeiterkind und heute Sozialarbeiterin im Jugendknast, erzählt in der taz, wie schwer es in Deutschland ist, solchen Verhältnissen zu entkommen, und sie erzählt von ihrer Schulfreundin Bianca, die diesen Verhältnissen nicht entkam: "Bianca ist jetzt übrigens alleinerziehende Mutter und lebt von Hartz IV. Ich kann bis heute nicht sagen, warum es uns auf so unterschiedliche Wege verschlagen hat. Vielleicht war es meine große Leidenschaft für Bücher und meine verbissene Renitenz, die mich gerettet hat. Wahrscheinlich habe ich einfach nur Glück gehabt."
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Europa

Die Warschauer Historikerin Barbara Engelking und ihr Kollege Jan Grabowski haben in zweiter Instanz einen Prozess gewonnen, in dem sie in erster Instanz zu einer öffentlichen Entschuldigung für ihre Publikationen verurteilt worden waren, weil sie in ihren Forschungsarbeiten auch über Kollaborationen polnischer Bürger mit den Nazis berichteten, erzählt Florian Hassel in der SZ: "Am Montag aber hob eine noch unabhängige Richterin am Warschauer Berufungsgericht das Urteil auf und erklärte, wenn nicht offenkundige Fälschungen oder Manipulationen vorlägen, sei es nicht Aufgabe eines Gerichts, Methoden, Quellen und Urteile historischer Forschungen zu beurteilen." Die Kläger haben wiederum angekündigt, die Aufhebung dieses Urteils zu beantragen.
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Geschichte

Joachim Käppner liest für die SZ Lothar Machtans Buch "Der Kronprinz und die Nazis" über den Kronprinzen Wilhelm. Die Frage ist bekanntlich, ob er den Nazis "erheblichen Vorschub" geleistet habe - nur in diesem Fall können seine Nachfahren weiter das sorglose Leben führen, das sie zu verdienen glauben. Nun stellt sich heraus, dass Wilhelm dazu möglicher Weise schlicht zu doof war: "Taktisch ein Tölpel, persönlich ein verprahlter Lebemann, strategisch ohne echte Verbündete: Der Kronprinz, so ließe sich Machtans These etwas verkürzt zusammenfassen, war ein royaler Narr und politisch ein solcher Idiot, dass er zum Aufstieg Adolf Hitlers an die Macht nichts Wesentliches beitragen konnte."
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