9punkt - Die Debattenrundschau

Fortbestehende Nähe

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2022. Die geliebten Führer in Usbekistan, Kirgisien, Turkmenistan und Kasachstan mögen mal kurz wackeln, aber Diktaturen werden sie wohl vorläufig bleiben, meint die SZ. Vor den Gesprächen über Wladimir Putins Drohungen klärt die taz nochmal ein historisches Gerücht über Osteuropa und die Nato auf. In geschichtedergegenwart.ch geht die Historikerin Silke Mendes der alten Liaison zwischen Grünen und der Anthroposophie auf den Grund. In der FAZ fordert Globalhistoriker Wolfgang Reinhard ein Ende der "deutschen Holocaust-Orthodoxie". 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.01.2022 finden Sie hier

Europa

Der Bundestag ist viel zu groß. Der ehemalige Abgeordnete des schleswig-holsteinischen Landtags Karl-Martin Hentschel empfiehlt in der taz eine Orientierung am Schweizer Modell, das einen funktionierenden Kompromiss zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahl gefunden habe: "Jeder Kanton wählte 'seine' Abgeordneten. Es handelt sich also wie in Großbritannien um eine Persönlichkeitswahl. Da aber fast alle Kantone mehrere Abgeordnete wählen, sind mehr oder weniger alle Parteien entsprechend ihrer Stärke im Parlament vertreten. Neu 'erfunden' wurde auch, dass man mehrere Stimmen für einzelne Kandidat*innen der favorisierten Partei abgeben konnte, zu denen man besonders viel Vertrauen hat." Auch in anderen Ländern, die sehr weit oben auf dem Demokratieindizes stehen, werde ein solches Modell praktiziert.

Schafft die Ampelkoalition noch eine Impfpflicht? Anna Lehmann hat in der taz ihre Zweifel: "Interessanterweise stolpert sie gerade über das gleiche Thema wie die späte Groko. Hatte diese noch erklärt, es werde auf keinen Fall eine Impfpflicht geben, vollführte Olaf Scholz als Kanzler in spe die Wende und erklärte, diese komme im Februar oder März. Nun wird klar: Der Zeitplan ist nicht zu halten, die Impfpflicht womöglich auch nicht. Es wäre der doppelte Wortbruch - erst schließt die Große Koalition eine Impfpflicht aus, dann kriegt die nächste Regierung sie nicht hin." Hier Lehmanns Bericht über das Thema.

Vier britische Aktivisten, die eine Statue des Sklavenhändlers und Mäzens Edward Colston (1636 bis 1721), gestürzt haben, sind von einem Geschworenengericht mit Rücksicht auf ihre moralischen Motive freigesprochen worden, berichtet Gina Thomas in der FAZ: "In dem politisierten Verfahren war es, als hätten die Geschichte und der Gewinnler des Sklavenhandels postum unter Anklage gestanden für Untaten, die nach damaligen Maßstäben nicht als solche galten."

"Bei Corona-Protesten verbünden sich ehemalige Grünen-Wähler:innen mit Anthroposoph:innen, rechten Verschwörungstheoretiker:innen", schreibt die Zeithistorikerin Silke Mendes bei geschichtedergegenwart.ch und geht der alten Liaison zwischen Grünen und der Anthroposophie auf den Grund (wobei sie allerdings viel Zeit auf Rechtsextreme in der Gründungszeit der Grünen verwendet). Ihr Fazit: "Ein Blick auf die Anhänger- und Wählerschaft der Grünen" lasse auf eine "fortbestehende Nähe" zur Anthroposophie schließen. "Das gilt für das weit gefasste Alternativmilieu ebenso wie für die Anthroposophie und ihre Praxisfelder, von der biodynamischen Landwirtschaft über die Waldorfschulen bis hin zur Alternativmedizin. Für das Selbstverständnis der Partei sind diese weiterhin von Bedeutung - wenn auch für ihre Anhänger*innen offenbar stärker als für ihre gewählten Repräsentant*innen."
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Kulturpolitik

In der SZ denken die Wissenschaftler H. Glenn Penny und Philipp Schorch über ein neues Konzept für ethnologische Museen nach: Menschen aus den Herkunftsgebieten der Objekte sollen deren Interpretation übernehmen. Im Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa (Te Papa) in Wellington etwa "wurde Māori-Wissen zu einem eigenständigen kuratorischen Bereich - neben Kunst, Geschichte, Naturkunde und Pazifischen Kulturen -, was zur Ausprägung einer spezifischen Māori-Museologie führte. Objekte aus dem kulturellen Erbe der Māori werden hier nicht als Gegenstände verstanden, sondern als lebendige Wesen. Ziel der Institution ist es, die Menschen wieder mit ihren stammesgeschichtlichen Schätzen zu verbinden und die Rückgewinnung von Māori-Wissen, -Sprache und -Bräuchen zu unterstützen. Hier ist ein Objekt nicht nur Objekt, ein Knochen nicht nur Knochen, ein Berg nicht nur Berg. Als lebende Entitäten beherbergen sie Formen des Wissens und Seins, die kuratorischer Pflege bedürfen. Dieses Potenzial besteht auch für die Millionen von Gegenständen, die in europäischen Museen lagern."
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Stichwörter: Ethnologische Museen

Geschichte

In einem langen Essay für die Gegenwart-Seite der FAZ fürchtet Globalhistoriker Wolfgang Reinhard, dass der "Holocaust zu einer erinnerungspolitischen Identifikationsfigur von geradezu sakralem Charakter geworden" sei und schließt sich somit im "Historikerstreit 2.0" der postkolonialen Seite an. Ohne allzu deutliche Bezüge auf diese Debatte konstatiert Reinhard, dass Intellektuelle Zweifel "an dieser Form politischer Rechtgläubigkeit angemeldet" hätten. "Die Holocaust-Kultur ist allerdings machtbesetzt und tabugeschützt, Wandlungsprozesse tun sich schwer. Die 1998 in Amerika begründete Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (IHRA) wusste dem mit der Konferenz von Stockholm im Jahr 2000 durch Festschreibung vorzubeugen. Die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar wurde wegen der ewigen Bedeutung des Holocaust zum weltweiten Gedenktag bestimmt. Holocaust Education wurde zur neuen Pflichtübung für Geschichtslehrer. Dabei hatte Jehuda Elkana schon 1988 festgestellt, dass die Holocaust-Obsession die Gegenwart und Zukunft Israels blockiere und Vergessen besser wäre." Reinhard fordert ein Ende der "deutschen Holocaust-Orthodoxie".
Archiv: Geschichte

Politik

Heute beginnen die Gespräche, auf die sich der Westen nach Wladimir Putins Ultimatum einließ. Klaus-Helge Donath erzählt in der taz noch einmal die Geschihte des Streits zwischen Russland und dem Westen zur Nato-Mitgliedschaften osteuropäischer Staaten: "Lange belastete das Gerücht die Beziehungen zu Russland, der Westen habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 zugesagt, das westliche Militärbündnis nicht zu erweitern. Zu jenem Zeitpunkt hatten die drei baltischen Staaten die UdSSR jedoch noch nicht verlassen und auch das Bündnis des Warschauer Pakts bestand weiter. Über Staaten, die es noch nicht wieder gab, oder potenzielle Aufnahmeanträge konnte und wurde damals nicht entschieden. Die innenpolitische Stimmung wurde und wird durch die vermeintliche Nichteinhaltung westlicher Versprechungen in Russland jedoch regelmäßig angeheizt."

Die geliebten Führer in Usbekistan, Kirgisien, Turkmenistan und Kasachstan mögen mal kurz wackeln, aber Diktaturen werden sie wohl vorläufig bleiben, meint in der SZ Sonja Zekri, die neben einer kurzen jüngeren Geschichte Kasachstans den Führerkult schildert, der im Turkmenistan des Diktators Saparmurat Nijasow besonders bizarre Züge aufwies, bevor 2006 sein Zahnarzt Zahnarzt Gurbanguly Berdymuchamedow Präsident wurde: "Nijasow, der sich als Vater der Turkmenen - 'Turkmenbaschi' - und als Prophet Gottes auf Erden verehren ließ, hatte den Turkmenen mit seinem Epos 'Ruhnama' über einen tapferen kleinen Waisen namens Saparmurat Nijasow nicht nur eine Art Nationalgeschichte aufgezwungen. 'Ruhnama' wurde in Moscheen präsentiert und in Universitäten gelehrt, Gefangene mussten vor der Entlassung einen Eid auf das Buch schwören. 'Ruhnama' war Teil des Einstellungstests für Ärzte und der Führerscheinprüfung. Spätestens mit der Einführung neuer Monats- und Jahresnamen, in denen er und seine Familie prominent gewürdigt wurden, galt Nijasow als einer der exzentrischsten Tyrannen der Gegenwart", dessen Führerkult "noch den Bombast Gaddafis, noch den blutigen Narzissmus Saddam Husseins in den Schatten stellte".
Archiv: Politik

Gesellschaft

Micha Brumlik fordert zusammen mit einer Gruppe jüdischer Intellektueller, dass die Bundesländer die Bekämpfung des Antiziganismus an der Seite mit der des Antisemitsmus explizit in den Landesverfassungen verankern. Im Gespräch mit Ruth Lang Fuentes sagt er dazu: "Wir hoffen, dass dadurch Polizei und Staatsschutzbehörden sich bei ihrer Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus auch intensiv mit Antiziganismusströmungen auseinandersetzen. Wie zum Beispiel im Fall von Hanau. Darüber hinaus wollen wir, dass auch in kulturpolitischer Hinsicht die Möglichkeiten für Sinti:ze und Rom:nja bestehen, Projekte, die kulturelles Selbstverständnis in Deutschland fördern, subventioniert zu bekommen. Es soll ein Impuls sein: dass, sowohl was Jahrestage angeht als auch die historische Bildung in Schulen wie auch in der außerschulischen Bildung, sehr viel stärker auf dieses Thema aufmerksam gemacht wird."

"Die Energiewende wird das Aussehen unserer Landschaften grundlegend verändern. Das muss nicht unbedingt schlecht sein", ist sich Petra Ahne (ehemals Wissenschaftsredakteurin der Berliner Zeitung) in der FAZ sicher. Sie hält es mit Catrin Schmidt, Professorin für Landschaftsplanung: "Catrin Schmidt befragt regelmäßig Studenten und hat festgestellt, dass in einer Generation, die mit Windrädern und der Angst vor dem Klimawandel aufgewachsen ist, deren Akzeptanz größer ist - wenn sie auch nicht als schön empfunden werden. Ästhetisches Empfinden hat auch mit Gewohnheiten zu tun." Und was wäre die Elblandschaft ohne Brokdorf?

Im Interview mit Zeit online erklärt der Grünenpolitiker Sven Lehmann, erster Queerbeauftragter in der Geschichte der Bundesrepublik, was er als seine wichtigsten Aufgabenbereiche ansieht: Dazu gehört das Selbstbestimmungsgesetz, das vorsieht, dass ab 14 Jahre eine Erklärung beim Standesamt reicht, um sein Geschlecht ändern zu lassen, sowie die Erfassung und Veröffentlichung von homo- und transfeindlichen Taten in ganz Deutschland: Hier "werden jeden Tag Menschen beleidigt oder angegriffen, weil sie homosexuell oder transgeschlechtlich sind. Diese Straftaten müssen daher auch als solche erfasst werden. Außerdem müssen Polizist*innen geschult und sensibilisiert werden. In meinem Wahlkreis in Köln haben wir zum Beispiel die Schaafenstraße, eine queere Kneipen- und Clubmeile. Wenn die Polizei dort zum Beispiel wegen Diebstahls gerufen wird, trifft sie auf viele nicht geoutete Menschen, für die Clubs und Bars wichtige Schutzräume darstellen. Da müssen Polizist*innen dann besonders sensibel vorgehen, denn Schutzräume sollten frei von staatlicher Repression sein."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

In der Welt fordert der in London lehrende Jurist Kai Möller eine juristische Aufarbeitung der Lockdowns in Deutschland. England könnte dafür Vorbild sein, meint er. Gründe wie den Schutz des Lebens oder die drohende Überlastung des Gesundheitssystems lässt er nicht als absolute Gründe gelten. Alles müsse unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit betrachtet werden, meint er. Selbst das Leben sei nie absolut geschützt: "Tausende Menschen sterben jedes Jahr an der Grippe, ohne dass dies bisher als ein Problem gesehen wurde, das auch nur milde Maßnahmen wie etwa eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln gerechtfertigt hätte. ... Das vermeintliche Prinzip, nach dem Lockdowns zulässig sind, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, ist nicht rechtfertigbar. Das Hauptproblem dieses Arguments ist, dass das Individualinteresse, bei einer Erkrankung im Krankenhaus maximal behandelt zu werden, gewichtig ist, es aber - dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechend - nicht absolut gesetzt werden darf, sondern mit anderen wichtigen Interessen abzuwägen ist. So wäre es keineswegs offensichtlich richtig, einen nationalen Lockdown zu verhängen, durch den vielleicht Millionen von Kindern traumatisiert werden, damit ein paar Tausend Menschen im Krankenhaus maximal behandelt werden können. Richtigerweise ist dies eine Frage der Abwägung, nicht eine von absoluten Standards."
Archiv: Ideen

Medien

Der erfundene Angriff auf den afroamerikanischen Schauspieler Jussie Smollett (er hatte behauptet, von weißen Trump-Anhängern verprügelt worden zu sein, obwohl es wohl zwei nigeranischstämmige Männer waren, die er dafür bezahlt hatte) gilt heute als Beispiel für ein Hate Crime Hoax, also eine erfundenen Hasstat. Solche Geschichten nehmen zu in den USA, behauptet der amerikanische Politikwissenschafter Wilfred Reilly im Interview mit der NZZ, ohne allerdings Zahlen zu nennen. Die Medien machten da gerne mit: "Es gibt auch in seriösen Medien einen starken Trend zum Sensationalismus, damit die Werbekunden Trucks und Penispillen verkaufen können. Lange Interviews mit Yasir Arafat sind da weniger gefragt, sexuelle Dinge und rassistische Konflikte dagegen sehr attraktiv, um Aufmerksamkeit zu erregen. Zweitens kann man die Tatsache nicht ignorieren, dass die Medien in den USA von der politischen Linken dominiert sind. Das zeigen auch Umfragen. Zusammen ergibt das, dass man auf Sensationsgeschichten fokussiert, welche die eigene Ideologie bestätigen. Sensationalismus und Linksdrall eröffnen ein großes Feld für diese Race-Storys." Bei der Rechten gibt es solche Fälle allerdings auch, erzählt Reilly.
Archiv: Medien
Stichwörter: Hate Crime Hoax