9punkt - Die Debattenrundschau

Das krumme Holz der Menschheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2022. Die Kämpfe in der Ukraine werden intensiver, aber auch die Verhandlungen, resümiert die taz den Stand am neunzehnten Tag von Putins Krieg. In der FAZ sprechen Tanja Maljartschuk, Katja Petrowskaja und Jurko Prochasko über die immensen Entscheidungen, vor die der krieg jeden Einzelnen in der Ukraine stellt. In der SZ erklärt Sasha Marianna Salzmann, warum für Russen der beste Moment ihres Lebens stets in der Vergangenheit liegt. In der Welt besingt Mircea Cartarescu den Heldenmut der Ukrainer. Im Tagesspiegel erinnert die Historikerin Ulrike von Hirschhausen daran, wie die Sowjetunion auch nach dem Hungerkrieg gegen die Ukraine ihre Lüge durchsetze.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.03.2022 finden Sie hier

Europa

Die Kämpfe in der Ukraine werden intensiver, aber auch die Verhandlungen, resümiert etwa die taz die jüngsten Entwicklungen. In den Kämpfen vor Kiew wurde gestern auch der amerikanische Reporters Brent Renaud, was seine Kollegin Jane Ferguson erlebte:


In der FAZ sprechen die ukrainischen AutorInnen Tanja Maljartschuk, Katja Petrowskaja und Jurko Prochasko sehr bewegend über den Zwiespalt, der so viele Menschen in der Ukraine, aber auch in Russland zerreißt: Gehen oder bleiben - und kämpfen: "Jurko Prochasko: Mir ist es wichtig zu sagen, dass das, was wir ganz allgemein und vielleicht auch plump als 'Heldentum' bezeichnen, hier niemandem aufgezwungen wird, weder vom eigenen Umfeld noch von der Regierung noch von den Medien. Das sind, wie Tanja sagte, zutiefst persönliche Entscheidungen und kein Konsens. Aber wenn sich das summiert, kann das natürlich nach einem Konsens klingen. Katja Petrowskaja: In dieser Hinsicht unterscheidet sich die ukrainische Gesellschaft deutlich von der russischen. Dieses Selbstentscheiden und die Selbstorganisation ist sehr stark in der Ukraine. Selbst in meinem russischen Freundeskreis, wo eigentlich niemand Putin unterstützt, sind sie in Schockstarre. Natürlich sind einige von ihnen in Russland auf die Straße gegangen. Das Wunder eines Aufstands oder von größeren Demonstrationen, auf das einige in der Ukraine hofften, ist nicht passiert. Ich bin gerade aus Georgien gekommen und habe dort Hunderte, vielleicht Tausende von Russen gesehen, und dachte nur kurz: Vielleicht sollten gerade sie in Russland auf die Straße gehen?"

An ein bizarres Sowjet-Phänomen erinnert Sasha Marianna Salzmann in der SZ, um die Propaganda-Gläubigkeit der Russen zu verstehen. In ausverkauften Sälen oder Live-Sendungen lauschten Millionen von SowjetbürgerInnen Gurus und Hypnotiseuren, die ihnen etwa ewige Jugend, Krebs-Heilungen oder OPs ohne Narkose versprachen. Russlands berühmtester Wunderheiler, Anatoli Michailowitsch Kaschpirowski, erklärte ihr bereits vor einem Jahr im Gespräch: Man müsse nur, "mit der richtigen Intonation in der Stimme und dem nötigen Selbstbewusstsein, die Menschen glauben machen, dass der schönste, beste Moment ihres Lebens in der Vergangenheit liegt und dass man sie dorthin zurückbringen werde. … Im heutigen Russland ist alles Gute, Schöne, Erstrebenswerte in eine imaginäre Vergangenheit verlegt, als der Sowjetmensch noch wusste, wer er war, weil es ihm in Filmen mit melancholischem sozialistischen Charme gezeigt wurde. Er war bereit, Leid und Entbehrungen hinzunehmen, weil man ihm suggerierte, es gäbe einen größeren Plan, größer als er, wichtiger als jedes Individuum. Die Staatspropaganda hat der Bevölkerung über Jahrzehnte eingetrichtert, dass die siegreiche sowjetische Armee Russlands einziger und ganzer Stolz sei."

Putin "ist ein zutiefst aufgewühlter, von Obsessionen und Komplexen getriebener Mann. Insofern verkörpert er ein Land, das mit seinen eigenen Problemen nicht fertig geworden ist", sagt der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel im Standard-Gespräch mit Bert Rebhandl. Und doch setzt er leise Hoffnung auf Russlands Bevölkerung: "In Russland gibt es gegenwärtig an vielen Orten und in fast allen Berufszweigen so ein Murmeln des gesunden Menschenverstands. Da passiert etwas. Dass die Masse noch nicht in Bewegung gekommen ist, das hat mit einem zähen Fortleben dieses imperialen Bewusstseins zu tun. Putin ist ein Meister in der Bewirtschaftung einer nach wie vor imperialen Mentalität. Das kann aber ganz rasch umkippen. Wenn die Mütter mitkriegen, was mit ihren Kindern passiert, wenn die Soldaten mitkriegen, wo sie eigentlich sind, kann das Kettenreaktionen auslösen. Meines Erachtens ist das jetzt angesichts des Widerstands der Ukrainer schon eingetreten. Ich bin mir sicher, dass dieser Krieg große Erschütterungen in der russischen Gesellschaft nach sich ziehen wird."

In der Welt besingt der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu den ukrainischen Opfermut, den er vergleichbar findet mit der Schlacht bei den Thermopylen, bei der Sparta und Athen gemeinsam gegen die Übermacht der Perser besiegten, "im Krieg zwischen Sklaverei und Freiheit": "Derart hoffnungslose Kräfteverhältnisse schaffen die Voraussetzungen für Heldentum, eine der seltensten und wert vollsten Eigenschaften der Humanität. Die moderne Welt neigt in ihrem Pragmatismus dazu, den Geist und die Bereitschaft zum Selbstopfer zu verneinen oder zu persiflieren - ebenso wie die Inspiration in den Künsten und den Idealismus als Seinsweise -, und doch gibt es keinen Tag und keine menschliche Situation, in denen wir nicht unseresgleichen außergewöhnliche Akte des Altruismus und der Selbstbescheidung vollbringen sehen. Es ist dies die helle und gerade Seite jenes 'krummen Holzes der Menschheit', von dem Immanuel Kant gesprochen hatte. Diese helle und gerade Seite gibt es im alltäglichen Leben tatsächlich, in den kleinen und in den großen Dingen, aber vor allem in den Kardinalpunkten der Humanität, wie wir eben in diesem Moment einen wahrnehmen."

Im Interview mit der SZ spricht der einstige russische Oligarch Michail Chodorkowski, der nach politischem Disput mit dem Kreml wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis gesteckt worden war, über Wladimir Putins Realitätsverlust in der Zeit der Pandemie, über die Mutlosigkeit der russischen Eliten und den Anfang von Putins Ende: "Die Geschichte lehrt: Nach jedem verlorenen Krieg steckte die russische Staatsführung in großen Schwierigkeiten. Nach dem Krimkrieg musste der Zar umfangreiche Zugeständnisse machen. Nach dem Russisch-Japanischen Krieg kam es zur Revolution 1905, die letztlich den Sturz des Zaren 1917 einleitete. Heute sind wir in einer ähnlichen Situation: Wenn es dem Diktator nicht gelingt, das Volk von seinem Sieg im Ukraine-Krieg zu überzeugen, wird er in zwei Jahren seine Macht verloren haben.

Eben noch war alles Innen, Ich und Innerlichkeit, jetzt ist alles Außen, Militär und Kampfkraft, stellt Simon Strauß in der FAZ fest und findet es erkennbar nicht schlecht, dass jetzt die Schneeflöckchen im Hagelschauer stehen: "Es bleibt die Frage, was man nach dem Aufwachen sieht beziehungsweise sehen will. Zum Beispiel eine junge ukrainische Frau - keine zwanzig, in der Werbebranche tätig -, die unter Tränen sagt, sie fürchte sich davor, dass ihre Heimat von der Landkarte verschwinde, ihr Vaterland, das sie 'wirklich sehr, sehr liebe'. Wie wirkt das auf die gleichaltrige Klimaretterin, der die Zusammenführung der Worte Liebe und Heimat bisher stets einen Schauer über den Rücken laufen ließ? Was sagt der selbstbewusste Politikprofessor, dem die These, dass wir im 'postheroischen Zeitalter' angekommen seien, viel Aufmerksamkeit eingebracht hat, jetzt zu der fast heiligen Heldenverehrung, die der ukrainische Präsident aus aller Welt erfährt?" Und nicht zu vergessen: "Von 'russischen Erober*innen' spricht (fast) niemand."

In der SZ setzt Oxana Matiychuk ihr Ukrainisches Tagebuch aus Vzernowitz fort. Marlene Militz schickt der taz Eindrücke vom Berliner Hauptbahnhof, wo täglich Tausende von Geflüchteten aus der Ukraine ankommen.

Archiv: Europa

Geschichte

Im Tagesspiegel erinnert die Historikerin Ulrike von Hirschhausen an die Kriege, die Russland im 19. Jahrhundert gegen Polen und im Kaukasus führte, vor allem aber an den Hungerkrieg gegen die Ukraine in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts: "Ende 1933 waren rund fünf bis sechs Millionen Ukrainer durch Aushungerung getötet worden. Europäische Diplomaten und Journalisten der Zeit kannten die Fakten, aber der sowjetische Hungerkrieg gegen die Ukraine war bis 1990 im Westen wenig bekannt. Wie gelang es der sowjetischen Führung, die Lüge durchzusetzen, es habe keinen Hungerkrieg gegeben? Bereits während des Massensterbens verboten die sowjetischen Behörden den Begriff 'Hungertod' und wer das Wort benutzte, dem drohten fünf Jahre Gefängnis. Der Begriff 'Hungersnot' durfte erstmals 1987 überhaupt in der sowjetischen Ukraine öffentlich benutzt werden. Zum anderen vernichteten die sowjetischen Behörden die Sterbebücher der Jahre 1932/33, was ein wichtiger Schritt zum Verdecken der Tatsachen war. Der österreichische Schriftsteller Arthur Koestler konnte 1932 noch nach Charkiw reisen und hatte das Lügengebäude durchschaut: 'Kein einziges Wort über die örtliche Hungersnot, das Aussterben ganzer Dörfer. Man bekam ein Gefühl traumhafter Unwirklichkeit, die Zeitungen schienen von einem ganz anderen Land zu sprechen...'"

In der Zeit erinnert der Historiker Andreas Kappeler, dass nicht nur von Wladimir Putin die Existenz einer ukrainischen Nation in Zweifel gezogen wurde, sondern auch von Politikern wie Helmut Schmidt: "Wer solche Aussagen zu überprüfen versucht und nach der Nations- und Staatsbildung der Ukraine fragt, gerät rasch in ein Gestrüpp konkurrierender Narrative. Und er läuft Gefahr, über die Fallstricke des Essenzialismus zu stolpern, der die Nation aus der Geschichte herauslösen und mit objektiven Kennzeichen - Territorium, Sprache, Kultur, Staat, Religion, kollektive Erinnerung - ausstatten will. Zwar bedarf es solcher einigender Elemente, entscheidend bleibt jedoch das subjektive Bekenntnis, zu einem Volk, zu einer Nation zu gehören."
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Religion

Die russisch-orthodoxe Kirche unter Patriarch Kyrill steht fest hinter Wladimir Putin und seinen Angriffskrieg auf die Ukraine. In der NZZ erklären die beiden Theologen Christian Stoll und Jan-Heiner Tück, dass der Autokrat und der Patriarch nicht nur im antiwestlichen Affekt vereint sind, sondern auch in ihrem nationalistischem Geschichtsbild: "Ihre Allianz fußt auf einer bestimmten Konstruktion der russischen Geschichte. Das kirchenhistorische Narrativ, dass das russische Christentum 988 durch die Taufe des Großfürsten Wladimir aus der Kiewer Rus hervorgegangen ist und Weissrussland, die Ukraine und Russland letztlich als Brudervölker zu einem kanonischen Territorium gehören, deckt sich weithin mit den neoimperialen Interessen Putins. Orthodoxes Christentum und politische Ideologie verbinden sich hier zu einer sakralen Geschichte, in der es heilige Helden, mythisch vereinte Völkerschaften und ureigene Rechte auf historische Landstriche gibt."

In der taz ergänzt Thoman Gerlach, dass Putins Pope auch nichts gegen die Bombardierung ukrainischer Klöster einwendet. Ebenfalls in der taz berichtet Barbara Oertel von der Spaltung der ukranischen Kirche, denn ein Teil untersteht noch immer dem Moskauer Patriarchat und hofft, sich durch Schweigen aus der Affäre ziehen zu können.
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Politik

In der SZ meldet Dunja Ramadan einen grausigen Rekord aus Saudi-Arabien: "81 Menschen wurden am Samstag hingerichtet. Damit sind im Jahr 2022 bereits mehr Menschen hingerichtet worden als in den beiden Vorjahren. Die Mehrheit der Verurteilten waren saudische Staatsbürger, allerdings gehörten 41 von ihnen der diskriminierten schiitischen Minderheit im Land an. Auch sieben Jemeniten und ein Syrer wurden am Samstag hingerichtet." Am Freitag ist übrigens der Blogger und Menschenrechtsaktivist Raif Badawi aus dem Gefängnis freigekommen - nach Ablauf seiner Haftzeit. Ausreisen darf er natürlich nicht.
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Stichwörter: Saudi-Arabien, Ramadan

Gesellschaft

In der NZZ erinnert Katja Müller daran, dass auch Amerikas Oligarchen ein enormes Maß an Verantwortungslosigkeit erkennen lassen: Sie kaufen sich riesige Anwesen auf entlegenen Inseln - Mark Zuckerberg auf Hawaii oder Peter Thiel auf Neuseeland, um den Rest der Menschheit in Ruhe Klimakatastrophe oder Atomkrieg überlassen zu können: "Hoch im Kurs als Zufluchtsort für amerikanische Superreiche ist Neuseeland. Eine Studie der Anglia Ruskin University in Großsbritannien kam im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass das Land einer der wenigen Orte wäre, wo sich eine Apokalypse überleben ließe. Die Insel ist dünn besiedelt - es leben siebenmal mehr Schafe als Menschen dort, es hat genug sauberes Wasser, große Landwirtschaftsflächen, und die Energieversorgung kann unabhängig funktionieren. Die Chancen, als Selbstversorger über die Runden zu kommen, stehen hoch. Während der Pandemie zeigte sich allerdings, dass auch ein perfekter Plan scheitern kann. Einige Milliardäre hatten zwar ihre vollgetankten Privatjets startklar, Neuseeland schloss jedoch die Grenzen schon früh und ließ praktisch niemanden mehr ins Land."

Agiles Arbeiten im Coworking Space war gestern, jetzt kommt das Nowhere-Office, dessen Vorzüge die Unternehmerin Julia Hobsbawm im Welt-Interview mit Andrea Seibel preist: "Derzeit wird viel Geld in die Hand genommen, um alles neu zu gestalten: als soziale Orte und Räume der Begegnung, der Versammlung, des Vorbeischauens, mit viel weniger Schreibtischen. Büros werden so etwas wie private Mitgliederclubs oder ähneln den Lounges am Flughafen. Wir werden das Firmenbüro als 'Zuhause' erleben, das wir immer mal wie eine Basisstation besuchen."

Im Interview mit Claudius Seidl in der FAZ räumt der Drogenbrauftrage der Bundesregierung, Burkhard Blienert, ein, dass für die Legalisierung von Cannabis noch nicht alle Fragen geklärt sind. Die Fehler der Niederlande will man aber vermeiden: "Die Niederlande haben auf halber Strecke haltgemacht. Das Cannabis kam durch die Hintertür illegal in die Coffeeshops herein, und vorne wurde es legal verkauft. Kriminelle Strukturen wurden dadurch gestärkt. Das ist nicht das, was wir wollen. Ich zerlege die Problematik gern in einzelne Schritte. Und ich versuche gesellschaftliche Antworten zu geben. Wir bauen etwas Neues auf, deshalb ist der Erklärungsbedarf sehr groß."
Archiv: Gesellschaft