9punkt - Die Debattenrundschau

Eine einzige Bedrohung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2022. "Europa muss der Ukraine zum Sieg verhelfen", ruft Vladimir Sorokin in einem großartigen Essay für die SZ, für den er wie Viktor Jerofejew neulich in der Zeit weit in die Geschichte zurückgreift. Olaf Scholz tut sein  Bestes, aber auch im jüngsten Spiegel-Interview ist keine Klarheit aus ihm rauszubekommen. Dass sich die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine so vehement gegen Putins Soldaten wehrt, zeigt, dass die Ukraine eben nicht nationalistisch oder völkisch denkt, sagt Karl-Markus Gauß in der taz. Libération ruft ihr linkes Publikum mit Zähneknirschen zur Wahl Emmanuel Macrons auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.04.2022 finden Sie hier

Europa

Vladimir Sorokin legt in der SZ einen großartigen Essay zum Krieg vor. So wie Viktor Jerofejew am Donnerstag in der Zeit (unser Resümee) macht er gegenüber seinem Land keinerlei Konzessionen. Und wie Jerofejew geht Sorokin zurück bis in die Zeit der "Goldenen Horde". Es ist ein "wahrwitziger Krieg", gewiss, aber nicht ohne innere historische Logik: "Mitte des 16. Jahrhunderts hat Zar Iwan der Schreckliche seine Herrschaft nach mongolisch-byzantinischem Muster errichtet. Er überfiel das freie Nowgorod, zuvor Hauptstadt einer Republik, welcher schon sein Großvater Iwan III. den Garaus bereitet hatte. Kiew gehörte zu der Zeit bereits zur polnischen Rzeczpospolita. Seither hat sich in Russlands Weiten dieses mongolisch-byzantinisch geartete pyramidale Herrschaftssystem mit einem absolutistischen Monarchen an der Spitze etabliert." Es sei auch ein Krieg der Vergangenheit gegen die Zukunft, so Sorokin weiter, der mit einem auch im Westen noch verbreiteten Missverständnis aufräumt: "Kern der 'Entnazifizierung' in Putins Verständnis ist nicht der Kampf gegen die Schimäre eines ukrainischen Nazismus, sondern die Aberkennung der nationalen Souveränität schlechthin." Feierlich dröhnt Sorokins Schluss: "Europa muss der Ukraine zum Sieg verhelfen - Europa muss Europa verteidigen."

Putin hat der russischen Bevölkerung seit Jahrzehnten ein Weltbild zusammengelogen, das sie für jede Realitätsempfindung unempfänglich macht, schreibt Anna Schor-Tschudnowskaja in der NZZ. Verschleierung gehört zum Konzept, wie man schon an dem Z sehen könne: "Bemerkenswert ist, dass niemand genau weiß, was Z bedeutet. Kindergärten und Schulen setzten es ein, um ihre Unterstützung zu bekunden. Organisationen und Firmen bekamen offizielle, doch verschwommene und widersprüchliche Verordnungen zugeschickt, wie mit dem Zeichen umzugehen sei. Manche meinen darin den Wunsch nach einem Sieg zu erkennen. Z stände dann für den Slogan 'Für den Sieg!' ('Za pobedu!'). Das aber ist zum einen seltsam, weil aus einem unerfindlichen Grund der kyrillische Buchstabe durch einen lateinischen ersetzt wird. Und zum anderen klingt es absurd, wenn dieses falsch geschriebene 'Zieg Heil!' einen 'Zieg' meint, von dem niemand eine Ahnung hat, worin er genau bestehen soll."

Es ist keine Klarheit aus Olaf Scholz herauszubekommen. Einerseits betont er im Gespräch mit Melanie Amann und Martin Knobbe vom Spiegel, dass Deutschland selbstverständlich Waffen liefere. Andererseits will er Putin nicht reizen: "Es gibt kein Lehrbuch für diese Situation, in dem man nachlesen könnte, ab welchem Punkt wir als Kriegspartei wahrgenommen werden. Das Buch wird täglich neu geschrieben, manche Lektionen liegen noch vor uns. Umso wichtiger ist es, dass wir jeden unserer Schritte genau überlegen und eng miteinander abstimmen. Eine Eskalation in Richtung Nato zu vermeiden, hat für mich höchste Priorität." Die Lage der SPD schildern die Spiegel-Redakteure in ihrer Titelgeschichte so: "Die SPD steht vor den Scherben ihres alten außenpolitischen Leitsterns, der Ostpolitik. Führende Mitglieder bis hin zum Bundespräsidenten entschuldigen sich öffentlich für Fehler. Derweil hat Scholz zwar die Regierungsmacht für eine neue, andere Politik, aber zögert, von ihr Gebrauch zu machen."

Peter Carstens und Eckart Lohse werben in der FAZ um Verständnis für Scholz' Bredouille: "Im Scholz-Lager fühlt man sich wie in zwei Welten. Während es vor allem aus der Ukraine, aber auch im eigenen Land, in der Opposition wie inzwischen in der Ampelkoalition Kritik hagelt am zaudernden Kanzler, werde in den internen Besprechungen mit den Partnerländern immer wieder der lange Weg anerkannt, den Scholz und seine Regierung beim Thema Waffenlieferung schon hinter sich gebracht haben, so wird es berichtet." Der Grünen-Politiker Ralf Fücks hingegen warnt in der SZ: "Putins erstes Ziel bleibt, die Ukraine zu einem russischen Vasallenstaat zu machen. Falls das nicht gelingt, bleibt die Option eines 'Neu-Russland' von Charkiw bis Odessa. Wenn wir signalisieren, dass wir offen für eine solche Lösung sind, ist die Büchse der Pandora weit offen."

Ein in der Berliner Zeitung veröffentlichter Aufruf fordert den Stop von Waffenlieferungen an die Ukraine: "Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere Nato-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht." Zu den Unterzeichnern gehören PDS- und SPD-Politiker, Theologen, der Liedermacher Konstantin Wecker und die Grünen-Politikerin Antje Vollmer.

Eine der Erkenntnisse aus dem Krieg in der Ukraine ist, dass sich auch die russischsprachigen Bevölkerungen von Städten wie Mariupol keineswesgs mit dem Angreifer identifizieren. "Dass sie sich mehrheitlich nicht nach dem vermeintlichen Mutterland sehnen, konnte man wissen", sagt der große Osteuropa-Kenner Karl-Markus Gauß im Gespräch mit Ralf Leonhard in der taz. "Dass sich aber so viele so vehement gegen die zwangsweise Befreiung vom 'ukrainischen Joch' durch Putin wehren, ist dennoch erstaunlich. Es ist ein starkes Zeichen dafür, dass dieses Bewusstsein, der demokratischen Ukraine angehören zu wollen, eben keine nationalistische oder völkische Angelegenheit ist." Die beiden sprechen auch über Gauß' neues Buch "Die Jahreszeiten der Ewigkeit".

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Würde Marine Le Pen morgen die französischen Präsidentschaftswahlen gewinnen, was zum Glück eher unwahscheinlich ist, wäre dass auch der Beweis, dass das Hufeisen existiert - denn  Le Pen bräuchte die Stimmen der linken Mélenchon-Wähler, um zu gewinnen. Mit zusammengebissenen Zähnen ruft Libération deshalb auf dem Titel expressis verbis, wenn auch kleingeschreiben, dazu auf, Emmanuel Macron zu wählen.

Vor der Wahl zwischen extrem rechts und nicht links standen die französischen Wähler erstmals vor zwanzig Jahren, ruft das Editorial von Libé in Erinnerung. Hier offenbare sich ein "fürchterliches Frankreich" hieß es damals im Editorial. "Viele unserer Leser werden darin die Feder von Serge July wiedererkannt haben, der sich damals über die Konfrontation zweier schändlicher Wesen beklagte, die er 'Supermenteur und Superfacho' nannte. Wenig überraschend gab er von Anfang an seine Präferenz für 'Supermenteur' den Super-Lügner, bekannt. Zwar hat sich an der Haltung dieser Zeitung nichts geändert, doch die Umstände sind ganz anders. Einerseits ist 'Superfacho' keine karikaturhafte Minderheitenfigur mehr, andererseits fühlen sich viele linke Wähler heute vom scheidenden Präsidenten stärker verachtet als von Jacques Chirac. Und da sie diesen neuen Aufruf zum Dammbruch nicht akzeptieren können, denken sie darüber nach, zu Hause zu bleiben, weil sie mit ihrer Zeitung nicht einverstanden sind." Libé tröstet die linken und nicht selten Putin-freundlichen Wähler damit, dass die Wahl Macrons ein "antifaschistisches Referendum" sei.
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Kulturmarkt

Julia Hubernagel beschreibt in der taz, wie der Papiermangel in der Verlagsindustrie und die Weltpolitik zusammenhängen: "An welch dünnen Fäden eigentlich ein Betrieb in einer globalisierten Welt hängt, wird gerade wieder anschaulich. Reprodukt druckt viel in Litauen. Die litauischen Druckereien arbeiten jedoch mit ukrainischen Lkw-Unternehmen zusammen, deren Fahrer wiederum gerade im Krieg kämpfen. Probleme bereite zudem China", sagt Reprodukt-Sprecher Filip Kolek. "Shanghai befindet sich in einem strengen Lockdown, die Häfen sind dicht. US-Verlage ließen viele ihrer Bücher in China drucken und schwenken kurzfristig nun auf Osteuropa um, was die europäischen Verlage unter Druck setze, die auf die dortigen Druckereien angewiesen seien."
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Stichwörter: Papiermangel, Litauen

Ideen

Lukas Leuzinger interviewt für die NZZ Francis Fukuyama zum Krieg in der Ukraine und der Reaktion der Demokratien. Auf die Frage, ob diese stärker von innen oder außen bedroht seien, antwortet Fukuyama: "Das hängt von dem jeweiligen Land ab. Die osteuropäischen Nato-Mitglieder sind einer direkten Bedrohung durch Russland ausgesetzt, die die USA nicht kennen. Die USA werden stärker von innen bedroht. Donald Trump und seine Anhänger sind von Putin manipuliert worden und scheinen gerne mit Russland zusammenzuarbeiten. Mit solcher internen Subversion hatten wir während des Kalten Krieges nicht zu tun. Doch letztlich handelt es sich um eine einzige Bedrohung."

In der taz zieht Annekathrin Kohout, Autorin einer "Popkulturgeschichte" über den Typus des "Nerds", im Gespräch mit  Julia Hubernagel Analogien: "Ich glaube, dass der Nerd für das 20. Jahrhundert eine ähnliche Figur ist wie das Genie für die Romantik, für das 18. Jahrhundert. Er ist eine Art Künstlerfigur, nur eben nicht für das klassische Bildungsbürgertum, sondern für das digitale Bildungsbürgertum, nicht High Culture, aber High Technology."
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Medien

Katerina Sergatskova, Chefredakteurin des unabhängigen Onlinemediums Zaborona, übt in der taz scharfe Kritik an den westlichen Medien, die nach 2014 nur sehr halbherzig und unter falschen Vorzeichen über den russischen Angriff berichteten: "Acht Jahre lang hat ein Großteil westlicher Medien seinem Publikum erzählt, dass die Annexion der Krim und die Besetzung des Donbass nachvollziehbare Gründe hätten. Sie versäumten es, ihre Leser ordentlich über die Aggressionen Russlands gegen die Ukraine aufzuklären. Ukrainische Journalisten, Politiker und Diplomaten schrien buchstäblich, dass die Russen unsere Gebiete gewaltsam eingenommen hätten. Sie wurden nicht gehört."

Amerikanische Medien sollen künftig statistischen Aufschluss über die "Diversity" in ihren Redaktionen geben, bevor sie den Pulitzer-Preis bekommen, fordert ein auf Twitter gefeierter Aufruf. Im Nieman Lab schreibt Sarah Scire, eine der Initiatorinnen: "Journalisten haben die ethische Pflicht, Verantwortung zu zeigen und transparent zu sein. Wir müssen unseren Lesern und unseren Mitarbeitern gegenüber Rechenschaf ablegen, indem wir sicherstellen, dass unsere Redaktionen die demografische Zusammensetzung unserer Leser widerspiegeln."

Eric Bonse fragt in der taz, warum die EU-Granden sich nicht zum Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange äußern, dem die Auslieferung in die USA und eine Gefängnisstrafe biblischen Ausmaßes drohen: "Dabei wäre diese Woche eine gute Gelegenheit gewesen, endlich mal den Mund aufzumachen. Ein britisches Gericht hat formell die umstrittene Auslieferung in die USA genehmigt. Nur Innenministerin Priti Patel kann Assange jetzt noch retten. Der Fall ist damit endgültig zum Politikum geworden. Die Justiz ist durch, nun muss die Politik Farbe bekennen. Und das nicht nur in Großbritannien, wo Patel eine historische Entscheidung treffen muss - hoffentlich gegen die Auslieferung."
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Kulturpolitik

Die Benin-Bronzen werden nach Nigeria zurückgegeben, das ist beschlossen. Nur wohin? Ursprünglich in das von einer privaten Stiftung geplante neue Edo Museum of West African Art, für das die Europäer bereits acht Millionen Dollar gezahlt haben. Aber außer einem Bauzaun ist nichts zu sehen, berichtet Bernd Dörries auf der Seite 3 der SZ. Statt dessen beansprucht der Oba, der traditionelle König, die Bronzen für sich und möchte sie in einem Museum unterbringen, das ihm gehört: "Der Oba entwickelte jedenfalls eigene Pläne für ein 'Royal Museum', einen Ort für Artefakte, die die Briten seinen Vorfahren gestohlen hatten. Entwürfe oder auch nur ein Budget gibt es nicht für dieses Museum, der Palast versprach Details, blieb sie aber bisher schuldig. Vor einigen Wochen kam schon mal der britische Botschafter beim Oba Ewuare II vorbei und überbrachte einen Hahn aus Bronze im Namen der Universität Cambridge. Der König lächelte und brachte den Hahn in seinen Palast."
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Stichwörter: Nigeria, Benin, Benin-Bronzen

Gesellschaft

Auf Zeit online erzählt eine Afghanin, unter welchen Bedingungen Frauen in ihrem Land nach der von den Taliban durchgesetzten strikten Geschlechtertrennung - wenn überhaupt noch - studieren: "An unserer Uni hatten nur fünf oder sechs junge Frauen Masterstudiengänge belegt. Infolge der jüngsten Ereignisse sind es jetzt sogar nur noch zwei oder drei, und für zwei, drei Studierende bietet eine Universität keinen eigenen Studiengang an. Eine Kommilitonin, TESOL-Studentin im Abschlusssemester, sagt: 'Unsere Kommilitonen kommen weiter. Aber für uns bieten sie auch zwei Wochen nach Semesterbeginn noch immer keine Kurse an. Wir drei Studentinnen hängen einfach in der Luft. Manche Kommilitoninnen aus unserem Freundeskreis sind ins Ausland gegangen, andere haben ihr Studium abgebrochen. Präsenzunterricht findet für uns nicht statt. Wir gehen nur donnerstags kurz zur Uni und geben unsere Hausarbeiten bei unseren Dozenten ab. Meine Masterarbeit schreibe ich unter größten Schwierigkeiten, weil ich keine Beratung bekomme und auch die Bibliothek nicht nutzen kann. Ich entdecke, dass ich unsichtbar geworden bin und völlig im Dunkeln tappe.'"
Archiv: Gesellschaft