Efeu - Die Kulturrundschau

Ja, es ist ein Tatort

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08.07.2022. Die FAZ fordert, dem "würdelosen Verantwortungsverschiebekarussell" auf der documenta ein Ende zu setzen: mit dem Rücktritt Sabine Schormanns. In der NZZ erklärt Rainer Moritz, weshalb er Uwe Tellkamp trotzdem nach Hamburg einlädt. Die SZ ist hingerissen, wenn Romeo Castellucci in Aix-en-Provence Gustav Mahlers "Auferstehungssymphonie" als Kriegsszenario mit zwitschernden Vögeln inszeniert, die Welt ist genervt. Und die Filmkritiker trauern um Klaus Lemke, den verspielten Rebellen, der die Sprache der Straße sprach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.07.2022 finden Sie hier

Film

"Es war ein Vergnügen, diesen Film für Sie zu machen": Klaus Lemkes letzter Auftritt.

Bittere Nachricht vom späten Abend: Klaus Lemke ist tot. Das deutsche Gegenwartskino verliert seinen verspieltesten und freiesten Rebellen - und die Perlentaucher-Filmkritiker einen ihrer Lieblinge. Lemke starb nur einen Tag, nachdem sein nunmehr letzter Film "Champagner für die Augen - Gift für den Rest" im BR gezeigt wurde. In dem Essayfilm blickt Lemke zurück auf seine Filme der Siebziger - und unterschlägt dabei interessanterweise seinen bekanntesten Film "Rocker", in dessen Schatten seine anderen Filme zuweilen standen. Zur Festivalpremiere vor zwei Wochen gab er ein letztes Radiointerview. Im Münchner Merkur würdigt Michael Schleicher Lemke als Chronisten der Münchner Subkultur der Siebziger: "Was die Stimmung in dieser Stadt angeht, konnte ihm lange schon keiner mehr was vormachen." Er "fand seine Darsteller auf der Straße. Und es ist die Sprache der Straße, gerne auch Dialekt, die er in Filmen hören wollte. ... Er wollte rigoroser sein, unabhängiger, vor allem: näher ran ans Leben. Dabei hatte er einst selbst zum Kino-Establishment gehört. Er hat Filme gedreht, in denen er für Aufnahmen aus dem Helikopter so viel Geld ausgegeben hat, wie er später für eine gesamte Produktion brauchen sollte. Als seine Arbeiten drohten, Konfektionsware zu werden, hat Lemke mit der Filmerei aufgehört und hat als Reporter für die Quick aus der Welt berichtet." Dazu Archivhinweise: Der BR hat ein Radiofeature online, in Lemkes offiziellem Youtube-Kanal gibt es viele Ausschnitte und teils Filme in voller Länge, sein Klassiker "Amore" steht in der BR-Mediathek und bis heute vergnüglich zu lesen ist dieses legendäre SZ-Gespräch aus dem Jahr 2005. Eine Art Essay über seine Filme montierte er vor wenigen Jahren.

Als der Kapitalismus siegte: Margot Robbie und Ryan Gosling sind Barbie und Ken (Warner)

"Das Internet" schäumt über vor wahlweise Begeisterung oder Abscheu angesichts der ersten Bilder, die aus Greta Gerwigs "Barbie"-Film (mit Margot Robbie in der Haupt- und Ryan Gosling in der Ken-Rolle) veröffentlicht wurden. Das berichtet Daniel Haas in der NZZ und macht sich dabei auch gleich Gedanken nicht nur über "Barbie", sondern auch über die Frage, wie eine gestandene Autorenfilmerin nun ausgerechnet das Plastikspielpuppen-Franchise schlechthin mit Leben füllen wird. "Was für ein Leben wird das sein? Ein postmodern überspanntes aus dem Geiste von Andy Warhol und Jeff Koons? Das heißt eine Illustration der Idee, dass im Spätkapitalismus das Leben weitgehend ein künstliches Projekt geworden ist? Oder wird es ein grell-nostalgisches Spektakel sein? Die Outfits des neuen Ken und der neuen Barbie legen als erzählte Zeit jedenfalls die Neunzigerjahre nahe. Da war Amerika noch wer. Der Kapitalismus hatte gesiegt. Russland schien kaum mehr als eine Kältezone, die man wahlweise kaputtrüsten oder per Export mit Luxusartikeln bombardieren konnte. #MeToo, LGBTQ - alles in weiter Ferne." Dazu passend fragt sich im übrigen auch Isabella Caldart in einem 54books-Essay, was es rückblickend mit den Neunzigern und deren Popkultur auf sich hat.

Weitere Artikel: Auf Artechock resümiert Rüdiger Suchsland unter anderem das Filmfest München, an dem er viel zu kritisieren hat - positiv hervorheben will er allerdings doch Sophie Linnenbaums Debütfilm "The Ordinaries" (" einer der schrägsten und originellsten Filme seit langem") und Christopher Roths "Servus Papa, see you in hell!" ("eine abgründige Sehnsuchtsgeschichte, die zwingend, spannend und mit Stilbewusstsein erzählt ist"). Hanns-Georg Rodek berichtet in der Welt von seinem Treffen mit der Schauspielerin Vicky Krieps, die aktuell in der Sisi-Interpretation "Corsage" (unser Resümee) zu sehen ist. Mit deren Regisseurin Marie Kreutzer hat Thomas Abeltshauser für epdFilm gesprochen - aktuelle Kritiken des Films gibt es im Tagesspiegel, auf critic.de und bei Filmfilter. Die einschlägigen Sommer-Blockbuster lassen die Kinokassen klingeln, berichtet Marietta Steinhart im Filmfilter. Marius Nobach resümiert im Filmdienst das Filmfest München. Im Filmdienst verneigt sich Michael Ranze vor Judy Holliday, die vor 100 Jahren geboren wurde.  Bei einem Vortrag der Historikerin Lisa Silverman erfährt tazlerin Julia Hubernagel anhand des Beispiels des Regisseurs Veit Harlan viel über das Selbstbild des gängigen Nachkriegsantisemiten. In einem Welt-Essay wünscht sich Regisseur Dietrich Brüggemann deutsche Corona-Komödien. Und: Der Schauspieler James Caan ist gestorben - Nachrufe bringen die SZ, der Guardian und der Hollywood Reporter.

Besprochen werden Woody Allens "Rifkins Festival" ("schmeckt so fade wie der vierte Aufguss eines Salbeiteebeutels", ärgert sich Elmar Krekeler in der der Welt, ZeitOnline, mehr zum Film bereits hier), Anika Deckers "Liebesdings" (Eskalierende Träume, Artechock, Tsp), Laura Bispuris "Das Pfauenparadies" (critic.de, Artechock), Emmanuel Carrères "Wie im echten Leben" (Artechock), die Netflix-Satire "King of Stonks", die bemerkenswerte Ähnlichkeiten zur Wirecard-Affäre aufweist (taz), Nabil Ben Yadirs "Animals - Wie wilde Tiere" (Atzechock), die Ausstellung "Im Tiefenrausch" des Frankfurter Filmmuseums (Filmdienst), Marcus H. Rosenmüllers Animationsfilm "Willkommen in Siegheilkirchen" über das Leben des Karikaturisten Manfred Deix (Tsp), Taika Waititis neuer Marvel-Blockbuster "Thor - Love and Thunder" (FR, critic.de), die Komödie "Man vs Bee" mit Rowan Atkinson (NZZ) und ein Band mit Gesprächen mit dem französischen Auteur Claude Sautet (SZ).
Archiv: Film

Kunst

Das "würdelose Verantwortungsverschiebekarussell" der Documenta-Macher lädiert den Ruf der Documenta insgesamt, ärgert sich Niklas Maak in der FAZ und hält den Rücktritt von Sabine Schormann für längst überfällig: "Sie hatte nach dem Skandal angekündigt, sie werde zusammen mit Meron Mendel die gesamte Ausstellung auf antisemitische Inhalte durchforsten. Mendel sagt auf Anfrage der FAZ, er habe trotz mehrfacher Nachfrage von der Documenta-Leitung in dieser Sache seit gut zwei Wochen nichts mehr gehört. Man spielt offenbar auf Zeit und hofft, dass die Aufregung über den Sommer versanden möge. Mittlerweile kommen immer mehr Hintergründe zutage. Nach internen Informationen, die der FAZ vorliegen, soll ausgerechnet Frau Schormann gegen die Berufung von Ruangrupa und die Idee, dass Kollektive Kollektive einladen, gewesen sein, hatte aber kein Stimmrecht. Ursprünglich soll auch ein jüdisches Kollektiv aus São Paulo von Ruangrupa kontaktiert worden, dann aber nach Protesten palästinanaher Teilnehmer wieder ausgeladen worden sein. Von der Documenta war hierzu bis Druckschluss keine Stellungnahme zu bekommen."

In der taz resümiert Andreas Fanizadeh die Tagung des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien zur documenta. Komisch, dass Schormann und Geselle fernblieben, zeigt man sich doch sonst recht selbstbewusst: "Auf Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und ihr 'dünnes Scheckheft', so Geselle auf einem SPD-Parteitag in Kassel, könne man verzichten. Und aus Kassel tönt es, wenn man auswärtige Expertise brauche, könne man sich an das MoMA in New York wenden." Sehr ausführlich resümiert Hanno Hauenstein in der Berliner Zeitung die Sitzung: "Sie spiegelte (…)  auch verhärtete Fronten sowie ideologisch zugespitzte und teils schablonenhaft wirkende Analysen, die den faktischen Antisemitismus auf der Documenta 15 auf eher unsachliche Weise mit politisch motivierten und weitgehend unbegründeten Vorwürfen vermischten." Für artechock sichtet Axel Timo Purr auf der documenta indes lieber Videoarbeiten von Hito Steyerl, Sebastián Diaz Morales und Isaac Godfrey Geoffrey Nabwana - und ist begeistert.

Bestens gelaunt kommt Gundula Bartels (Tagesspiegel) aus der Ausstellung "Vergoldet - Doré" im Schloss Biesdorf, in der Künstler wie Via Lewandowsky, David Krippendorff, He Xiangyu und Künstlerinnen wie Alicja Kwade, Ruth Campau und Luka Fineisen versuchen, Gold als "Farbe des schönen Scheins" zu entlarven. Sebastian Neeb mit seinen hochglanzvergoldeten Keramikskulpturen etwa: "Die beiden Skulpturen auf ihren Podesten aus groteskem Materialmix lassen zuerst an höfische Prunkhumpen denken. Doch entpuppen sie sich bei näherer Betrachtung als ironische Gnome und Fratzen, denen Gold nur als schlechte Tarnung ihrer fragwürdigen Gestalt dient. Noch witziger ist Neebs Goldschwarm vom Mini-Fratzenköpfen, die die Wände der Rotunde bedecken. 'Dilettante Kartoffeln wetteifern um die Gunst des Vaters', so der Titel, ist mit Sicherheit nichts, was man erwartet, wenn man über den Glanz des Goldes nachdenkt."

Besprochen wird die Ausstellung "Künstliche Biotope" im Berliner Kolbe-Museum, die Mies van der Rohe, Kolbe und Lehmbruck mit Installationen von Anne Duk Hee Jordans kombiniert (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Literatur

Viele von Uwe Tellkamps politischen Äußerungen der letzten Jahre hält Rainer Moritz zwar "für bedenklich", schreibt der Leiter des Literaturhauses Hamburg in der NZZ. Eingeladen hat er ihn aber dennoch in sein Haus - mit erwartbarem, teils giftigem Echo aus dem Literaturbetrieb. "Man darf Uwe Tellkamps neuen Roman für misslungen und seine gesellschaftspolitischen Verlautbarungen für grundfalsch halten, umso dringlicher ist eine offene, kritische Auseinandersetzung mit Autor und Werk. Im 'alten Westen' Deutschlands trat Uwe Tellkamp mit 'Der Schlaf in den Uhren' außer in Hamburg bisher lediglich in Karlsruhe und Münster auf. Ist man einfach konfliktscheu? Dass man fernab von Dresden inzwischen einen großen Bogen um diesen Autor macht, ist bezeichnend. Der Ost-West-Konflikt scheint über dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung virulenter denn je. Nun manifestiert er sich auch noch in moralischer Überheblichkeit."

Außerdem: In einem taz-Essay befragt Peter Weißenburger die Literaturgeschichte, wie er es mit Weltschmerz und Idealismus halten soll. Im Tagesspiegel erklärt Gerrit Bartels, wie Marcel Proust über einen Springbrunnen des Malers Hubert Robert schrieb. Außerdem erzählt der Soziologe Steffen Mau in der SZ, was er derzeit liest - nämlich Stephan Malinowskis preisgekrönte Studie "Die Hohenzollern und die Nazis".

Besprochen werden unter anderem neue Bücher zum 90. Geburtstag des Lyrikers Jürgen Becker (FR), Johannes Laubmeiers "Das Marterl" (SZ), Scott Thornleys Krimi "Der gute Killer" (online nachgereicht von der FAZ) und Carla Kasparis "Freizeit" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Bild: Monika Rittershaus


In der SZ ist Helmut Mauró hingerissen: Romeo Castellucci hat für das Festival in Aix-en-Provence Gustav Mahlers "Auferstehungssymphonie" als "düsteres, immerwährendes Kriegsszenario" inszeniert, viel passiert nicht, aber das Stück entwickelt ungeheure Sogkraft: "Vögel zwitschern, ein kleiner Schimmel trabt herein, schnüffelt im Sand, geht weiter, schnüffelt wieder, verharrt lange so. Man ahnt noch nicht, was das Pferd da gerochen hat. Ein dunkles Bratschen-Cello-Tremolo setzt ein, Menschen betreten die Szenerie, immer mehr, ziehen sich weiße Schutzanzüge über. Ja, es ist ein Tatort. Es wird lange und akribisch gegraben, aber dann geht es Schlag auf Schlag. Leichen werden aus der Erde geholt, auf weiße Leichensäcke gelegt. Bis der größte Teil der Bühnenfläche mit Leichen bedeckt ist."

Ganz anders erlebt Manuel Brug in der Welt die Inszenierung und ihre "Bühnenkitsch-Verlogenheit": "Gnadenlos brutal hört man, wie wenig der räumlich geteilte Chor zusammenkommt, wie grob die schönen Stimmen von Crebassa und Golda Schultz verstärkt sind, dass die Fernmusiken immer wieder wegbrechen, der ganze Satz ohne Zusammenhalt bleibt. Man versteht schon, was Romeo Castellucci hier - lange vor dem Massaker in Butscha konzipiert - als enervierende Antiklimax sagen will. Aber es verfängt nicht wirklich. Weil das Sehen abstumpft. Und weil man diese Begleitmusik zu einer grässlichen Aufklärungsverrichtung auch von der Konserve hätte abspielen können. Der riesige Liveaufwand, der sich doch nur schlecht und mechanisch anhört, wäre gar nicht notwendig gewesen." Für die FAZ berichtet Anja-Rosa Thöming aus Aix-en-Provence.

Standard
-Kritiker Helmut Ploebst lernt von der südkoreanische Choreografin Geumhyung Jeong Maschinen als "Körpererweiterungen" zu betrachten. Das Festival Impulstanz zeigt sechs Schlüsselwerke der Künstlerin, darunter die Performance "7ways": "Während ihrer Performances holt Jeong ihre männerähnlichen 'Mitarbeiter' ganz nahe an den eigenen Körper heran. Oft performt die Künstlerin nackt, und sie spart nicht mit deutlichen, oft ironischen Anspielungen auf die erotischen Aspekte der Beziehungen zwischen Menschen und ihren mechanischen Körpererweiterungen. Die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge von Jeongs Werk reichen zurück bis zu den Mythen von Prometheus und dem Pygmalion, sie sind verbunden mit Heinrich von Kleists 'Über das Marionettentheater' und E. T. A. Hoffmanns Erzählung 'Der Sandmann' und münden in den Mensch-Maschine-Diskurs der Gegenwart."



Außerdem: Im NZZ-Gespräch mit Marianne Zelger-Vogt erklärt Elisabeth Sobotka, weshalb sie bei den Bregenzer Festspielen gerade jetzt Umberto Giordanos Oper "Sibiria" von dem russischen Regisseur Vasily Barkhatov inszenieren und dem russischen Dirigenten Valentin Uryupin dirigieren lässt: "Ich würde Kriegstreibern niemals eine Plattform geben, doch ich kenne die Gesinnung von Valentin Uryupin und Vasily Barkhatov, beide sind klar demokratisch orientierte Künstler, und ich finde, dass man Menschen, die sich für ein freieres Russland einsetzen, unterstützen, nicht ausschliessen sollte." In der SZ befürchtete heute auch Peter Laudenbach, dass sich das designierte Leiterinnen-Kollektiv künftig in die Jury-Entscheidungen des Berliner Theatertreffens einmischen wird: "Angesichts ihrer ambitionierten Arbeitsbiografien fällt die Vorstellung nicht leicht, dass sich die vier neuen Leiterinnen des Theatertreffens auf die Rolle guter Organisatorinnen beschränken wollen." Besprochen werden die von den Sophiensälen ausgerichtete performative Bootstour "The River" von Aimé C. Songe (Berliner Zeitung).
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Architektur

Die Fassade des Berliner GSW-Hochhauses soll "radikal" umgebaut werden, weil die ursprünglichen Lüftungssysteme überlastet sind - die Berliner Architektenlandschaft ist empört, meldet Nikolaus Bernau in der FAZ: "Zur Debatte steht somit auch eine Architektur, die in den Neunzigerjahren einer der wichtigsten Kontrapunkte war zu den Rasterbauten des Wiederaufbaus der Innenstadt nach dem Fall der Mauer. Das GSW-Hochhaus wurde damals als Symbol einer neuen, kritisch die Erinnerung an das vergangene Berlin überdenkenden Zeit gefeiert, durchaus vergleichbar mit dem fast gleichzeitig errichteten Jüdischen Museum Daniel Libeskinds. Beide Bauten brachen demonstrativ mit der in der Stadtplanung jener Jahre unter Senatsbaudirektor Hans Stimmann verbreiteten Anknüpfung an die Blockrandstruktur der Kaiserzeit. Sie setzen sich stattdessen mit der nach dem Krieg entstandenen, lockeren Stadtstruktur der südlichen Friedrichstadt auseinander."
Archiv: Architektur

Musik

Vor der Box, die Albert Aylers "Revelations"-Liveaufnahmen von 1970 erstmals in voller Länge zugänglich macht, ist schon Andrian Kreye auf die Knie gegangen (unser Resümee), Benjamin Moldenhauer tut es ihm in der taz gleich: Was hätte Ayler danach wohl noch schaffen können, wäre er nicht kurze Zeit später gestorben? Die hier versammelte Musik "ging weiter ins Offene, war getragen von dem Versuch, bei aller Kompromisslosigkeit die Hörenden zu erreichen. Hin zu einem vollends befreiten Jazz, der wieder verstärkt auf Komposition, Struktur und Melodie zurückgreift." Auch religiöse Tiefen gibt es zu hören: "Man kann sich vorstellen, wie krisenfördernd es sein muss, zugleich derart beseelt zu sein und als Schöpfer einer Musik, die nicht weniger als die 'Healing Force of the Universe' sein soll, zu Lebzeiten weitgehend ignoriert zu werden. Das Wundervolle an Aylers Musik ist, dass man diese Beseeltheit auch jenseits aller religiösen Metaphorik hören kann. Und was man hören kann, kann man auch spüren. Transzendenzmöglichkeiten für Agnostiker und Atheisten." In dieser Spannung "zeigt sich die als religiös codierte Liebe, die diese Musik transportieren soll, als Ausdruck eines radikalen Humanismus durch Sound".

Außerdem: The Quietus kürt die 100 besten Platten der ersten Hälfte von 2022. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jörg Thomann über David McWilliams' Song "The Days of Pearly Spencer".



Besprochen werden Jens Balzers Buch "Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache" (FR), ein Auftritt von Johnny Depp und Jeff Beck in Offenbach (FR, FAZ) sowie Clara Frühstücks und Oliver Welters Neuinterpretation von Schuberts "Winterreise": "Dagegen hören sich die frühen Songs von Nick Cave beinahe wie die größten Sommerhits aller Zeiten an", staunt Christian Schachinger im Standard. Wir hören rein:

Archiv: Musik