9punkt - Die Debattenrundschau

Ihr habt um eure Behaglichkeit gebangt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.08.2022. In der NZZ erzählt die ukrainische Kulturwissenschaftlerin Kateryna Botanova, wie russische Soldaten Vergewaltigung als Kriegswaffe einsetzen. Anders als in früheren Kriegen kann Russland nicht gewinnen, indem es eine Überzahl an eigenen Soldaten verheizt, lernt der Observer von Lawrence Freedman. Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen jetzt das Volk sprechen lassen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, fordert der sachsen-anhaltinische CDU-Politiker Rainer Robra mit Blick auf den RBB-Skandal in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.08.2022 finden Sie hier

Europa

Gestern wurde Darja Dugina, die Tochter des rechtsextremen Philosophen Alexander Dugin, durch eine Autobombe getötet. Der Anschlag galt wohl Dugin selbst, der nach einer Veranstaltung im letzten Moment in ein anderes Auto gestiegen war. Seine Tochter galt als seine rechte Hand und war selbst in der nationalistischen Szene aktiv, berichten Dan Sabbagh und Luke Harding im Guardian. Die Ukraine weist jede Beteiligung an dem Attentat zurück, dennoch werden jetzt russische Repressionen befürchtet: Das ukrainische Militär des Landes habe gewarnt, "dass Russland fünf mit Marschflugkörpern bestückte Kriegsschiffe und U-Boote ins Schwarze Meer entsandt habe und dass Moskau Luftabwehrsysteme in Weißrussland in Stellung gebracht habe. Große Versammlungen wurden in Kiew ab Montag für vier Tage verboten. In der Nacht zum Samstag hatte der ukrainische Präsident Selenski davor gewarnt, dass 'Russland in dieser Woche, in der das Land den 31. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert, versuchen könnte, etwas besonders Böses, etwas besonders Grausames zu tun'." Die Guardian-Autoren berichten auch über Gerüchte, dass eine russische Untergrundgruppe, die "Nationale republikanische Armee", die Putin stürzen wolle, für das Attentat verantwortlich sei. Hier der taz-Bericht zum Mord.

In einer erstaunlichen Koinzidenz legt eine Reportergruppe im Newlines Mag eine Recherche zur Organisation Zargrad vor, die dem fundamentalistisch orthodoxen Oligarchen und Putin-Freund Konstantin Malofejew untersteht. Die Organisation betreibt auch den Sender Zargrad TV, wo Alexander Dugin 2015 zum Chefredakteur ernannt wurde. Zargrad, so schreiben die Autoren, spielte eine maßgebliche Rolle bei der Anbahnung von Kontakten zwischen dem Putin-Regime und rechtsextremen Parteien in Westeuropa: "Zargrad und seine Offiziere in Moskau fungierten weiterhin als Ansprechpartner für rechtsextreme Parteien in Russland. Sie ergriffen geheime Maßnahmen, um Verbindungen zwischen europäischen Politikern und Dugin... zu verschleiern. In einigen Fällen suchten die rechtsextremen Parteien Rat bei ihren so genannten 'russischen Freunden', um antirussische Vorschläge im Europäischen Parlament zu verhindern." Auch Darja Dugina wird in den Artikel einmal als Anlaufstelle für Kontakte erwähnt.

Russland spielte in vergangenen Kriegen meist einen strategischen Vorteil aus, den es im aktuellen Krieg nicht mehr aufbieten kann, lernt Peter Beaumont im Observer im Gespräch mit dem Militärhistoriker Lawrence Freedman. Anders als in früheren Kriegen kann es nicht mehr eine übergroße Zahl von Soldaten verheizen: "Während sich russische Militäroperationen seit in den letzten hundert Jahren häufig auf den Einsatz einer überwältigenden Zahl von Soldaten stützen (oft ohne Rücksicht auf Verluste), scheint Russland in der Ukraine durch innenpolitische Erwägungen gehindert zu sein, eine allgemeine Mobilisierung einzuleiten, was den Umfang der Streitkräfte, die es einsetzen kann, begrenzt hat."

Wie konnten die europäischen Politiker so blind gegenüber Putin sein, fragt sich im Guardian der russische Autor Michail Schischkin. Und warum sind sie immer noch blind gegenüber dem ganzen russischen System, egal, wer regiert? "Wer Teil dieser Machtstruktur ist, scheut sich nicht, den Westen anzugreifen. Denn vor wem sollten sie Angst haben? Wenn eine Rakete auf dem Gebiet eines Nato-Mitglieds landet, was dann? Weitere Treffen, Erklärungen, Erklärungen, Aufrufe zum Frieden? Es ist höchste Zeit, dass die freie Welt begreift, dass sie es nicht mit einem verrückten Diktator zu tun hat, sondern mit einem autonomen und sich selbst regenerierenden aggressiven Machtsystem."

Das auf dem russischen Social-Media-Dienst VK.com veröffentlichte Tagebuch des (mittlerweile aus dem Land geflohenen) russischen Fallschirmspringers Pawel Filatjew sorgt gerade für einiges Aufsehen: Der Text ist eine große Kritik am russischen Krieg in der Ukraine. Er berichtet von erheblichen Defiziten in der Armee, vom durch die Propaganda angestachelten Glücksrausch der ersten Kriegstage und der Ernüchterung, als sich nicht mehr verleugnen ließ, dass Russland sein Land und seine Armee in einen Krieg geschwindelt hat. "Die Erzählperspektive von unten erinnert an Tolstois berühmte Darstellung der Schlacht von Borodino in 'Krieg und Frieden', die als unüberblickbares Chaos erscheint", schreibt Ulrich M. Schmid in der NZZ. Schließlich mündet der Text in eine scharfe Anklage: "Russland habe kein 'moralisches Recht' gehabt, die Ukraine anzugreifen. In der russischen Militärorganisation herrschten 'schreckliche Korruption und Chaos'. Im Zerfall der Armee spiegle sich die Dekadenz des Staates. Filatjew benennt offen die Sinnlosigkeit des Kriegs: 'Hat Russland nicht genug Territorium? Haben nicht alle, die in Russland leben wollen, schon russische Pässe erhalten und sind zu uns gezogen?' Filatjews Bericht gipfelt in einer Schmährede gegen die 'Biomassen mit russischen Pässen', die der Schlächterei in der Ukraine gefühllos gegenüberstehen: 'Wo wart ihr, als wir ums Leben kämpften, verletzt wurden und Entbehrungen litten? Wo?! Ihr habt um eure Behaglichkeit gebangt und wart nicht in der Lage, zum Verwaltungsgebäude zu gehen und 'Kein Krieg!' zu sagen.'"

"Immer wenn sich die Russen aus einem Ort zurückziehen mussten oder eine Massenevakuierung aus besetzten Gebieten stattfand, schwappte eine Welle von Vergewaltigungen hoch", erzählt in der NZZ die ukrainische Kulturwissenschaftlerin Kateryna Botanova. Und die russischen Soldaten haben eine Spezialität daraus gemacht, dies öffentlich zu tun: "Mütter sind gezwungen, mit anzusehen, wie ihre Töchter vergewaltigt werden, oft tagelang, oft von Gruppen von Soldaten. Kleine Kinder werden genötigt, den Vergewaltigungen ihrer Mütter zuzuschauen ... selbst wenn der Körper es übersteht, werden Augen, Ohren, Geist und Seele vergewaltigt. Wie einem Vater, der tagelang in einer Küche eingesperrt ist, während eine Gruppe russischer Soldaten seine Tochter und seine Frau vergewaltigt. Die Nachbarn hören die Geräusche durch die dünnen Wände. Die Großmutter kocht für die Besatzer, die sich in ihrem Haus verschanzt haben, während sie ihre Enkelinnen vergewaltigen. Männer werden in Präsenz ihrer Kollegen oder ihrer Familien vergewaltigt." Worauf es jetzt ankommt, so Botanova, "ist, die Vergewaltigungen nicht zur 'Normalität' zu erklären und diesen Krieg nicht einfach mit anderen Kriegen gleichzusetzen, sondern die Untaten der russischen Besetzer schonungslos als Verbrechen zu benennen und zu verfolgen. Es darf keine Milde und kein Wegschauen geben."

taz-Autor Daniél Kretschmar wuchs in Rostock-Lichtenhagen auf. Das Pogrom vor dreißig Jahren prägt ihn bis heute: "Ein hohes Fest für organisierte Neonazis aus der gesamten Bundesrepublik, genauso wie lokale Gelegenheitsfaschisten, war das Pogrom eben auch eine beunruhigende Aufführung der Staatsgewalt. Unter wohlwollendster Betrachtung war sie überfordert, wenn man sie nicht sogar der offenen Kumpanei beschuldigen muss. Im Nachgang dann war Lichtenhagen der willkommene aktuelle Hebel für die lange geplante faktische Abschaffung des allgemeinen Asylrechts. Volkes Stimme hatte schließlich mit Nachdruck ihren Debattenbeitrag abgeliefert."
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Medien

Der CDU-Politiker Rainer Robra ist Staatsminister aus Sachsen-Anhalt, dem Land, das den öffentlich-rechtlichen Sendern am kritischsten gegenübersteht (der AfD-Anteil im Landtag des Landes liegt bei 24 Prozent). Außerdem ist er Mitglied im Fernsehrat des ZDF. Auf der "Gegenwart"-Seite der FAZ greift er den RBB-Skandal auf. Nach langen Erwägungen technisch finanzieller Natur wird er auch inhaltlich: "Zum Respekt vor dem Beitragszahler gehört ferner die Einsicht, dass es keinen volkserzieherischen Auftrag gibt. Im aufgeklärten 21. Jahrhundert ist die Bundeswehr nicht mehr Schule der Nation, und die Rundfunkanstalten sind es schon gar nicht. Das Volk spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Der Rundfunk ist nicht berufen, es politisch korrekt sprechen zu lehren oder sonst Verhaltensstandards zu setzen. Übersetzt in die Sprache des Medienrechts: Die Anstalten sind vermehrt - oft missionarischer - Faktor der öffentlichen Meinungsbildung geworden und weniger Medium; das sollte sich wieder umkehren." Die übrigen ARD-Intendanten haben der Geschäftleitung des RBB unterdessen ihr Misstrauen erklärt, ein system-historisch einmaliger Schritt, den Michael Hanfeld auf Seite 1 des FAZ-Feuilletons kommentiert.

In der FR berichtet Moritz Serif von einem SWR-Podcast zum Bosnienkrieg, in dem eine Serbin unwidersprochen das Massaker in Srebrenica in Frage gestellt hatte. Der Podcast ist immer noch online, so Serif. "Melina Borčak, die selbst aus Bosnien stammt und infolge des Genozids nach Deutschland flüchtete, wirft dem SWR in einem Journalist-Artikel vor, falsche Fakten und Genozid-Leugnung zu verbreiten" und forderte eine Richtigstellung. "Eine Sonderfolge des Podcasts sollte eigentlich die Wogen glätten und das Geschehene aufarbeiten. Darin versucht Borčak mit SWR-Moderatorin Stephanie Haiber und Redakteurin Karin Feltes darüber zu sprechen, was bei der Folge falsch gelaufen ist. Doch dazu kommt es nicht wirklich. Haiber und Feltes unterbrechen sie ständig, lassen sie nicht ausreden. Teilweise wird sie sogar ausgelacht."
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Geschichte

Letzten Dienstag hatte der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas vor der deutschen Presse auf die Frage, ob er sich für das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft in München vor 50 Jahren entschuldigen wollen, mit der Beschuldigung reagiert, Israel habe 50 Holocausts an den Palästinensern verübt. Niemand widersprach, auch nicht Bundeskanzler Scholz, der daneben stand. Das allein war schon ein Skandal. Im nachhinein gesehen, könnte man sich außerdem mal an die eigene Nase fassen, meint Arno Widmann in der FR: "Es ist ganz unwahrscheinlich, dass an der Vorbereitung und Durchführung der Aktion nur die bekannten palästinensischen Fachkräfte beteiligt gewesen sein sollen. Es gab damals in jeder deutschen Universitätsstadt ein Palästina-Komitee und ein Palästinensertuch galt als schickes APO-Accessoire. München war ein Zentrum linken Antisemitismus'. Am 13. Februar 1970 hatte es einen Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in der Reichenbachstraße in München gegeben. Sieben Menschen waren dabei umgekommen. 'Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die Heilige Kuh Israel?' war damals die weniger als Frage als vielmehr als Aufforderung gemeinte Parole der mit der den palästinensischen zusammen arbeitenden deutschen Terroristen." Wäre es nicht an der Zeit, einer möglichen deutschen Beteiligung an dem Attentat nachzuforschen, fragt Widmann.

Immer noch ist unklar, ob die Angehörigen der Opfer des Olympia-Attentats 1972 an der Gedenkfeier am 5. September teilnehmen werden, berichtet Aaron Wörz in der taz. Dabei gehe es nicht nur um die Höhe der Schmerzensgelder: "Ankie Spitzer zeigt sich auf  taz-Anfrage empört. Die Familien der Athleten verhandelten nicht über Wiedergutmachungszahlungen. 'Das ist Sache unserer Anwälte.' Über das Angebot einer Analyse des Archivmaterials, das nun offenbar endlich deutschen und israelischen Expert:innen verfügbar gemacht werden soll, sei man hingegen sehr froh. 'Ich möchte den Untersuchungsbericht einsehen. Das ist alles. Ich möchte wissen, was meinem Mann passiert ist.' Außerdem gehe es den Familien um eine 'Anerkennung der eigenen Verantwortung und eine Entschuldigung', dafür, dass man fünfzig Jahre lang versucht habe, Tatsachen zu vertuschen und 'die Angehörigen zu ignorieren'."
Archiv: Geschichte