9punkt - Die Debattenrundschau

Erst ein bisschen kryptisches Geschwurbel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.10.2022. Empört wendet sich Necla Kelek bei Cicero gegen die Behauptung Annelena Baerbocks, die Gewalt gegen Frauen im Iran habe "nichts mit Religion" zu tun. Die iranische Journalistin Niloofar Hamedi hat die Proteste im Iran durch ein Foto der Eltern Mahsa Aminis an ihrem Krankenbett ins Rollen gebracht - und wurde dafür ins Gefängnis gesteckt, so Reuters. Die SZ widmet sich abdriftenden Popgrößen wie Kanye West und Roger Waters - meist landen sie im Antisemitismus. Im Standard erklärt die Philosophin Hilge Landweer : Die Rechte hasst, die Linke ist empört.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.10.2022 finden Sie hier

Europa

Der gefürchtete "Schlächter von Syrien" Sergei Surowikin ist bekanntlich (unser Resümee) von Wladimir Putin zum Oberbefehlshaber in der Ukraine ernannt worden. Max Seddon erklärt in der Financial Times die einfache Taktik, die nun von diesem General zu erwarten ist. Dafür hat Seddon auch mit dem Experten Kirill Rogow gesprochen, der am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen lehrt: "Putins Entscheidung ging im eigenen Land zwar nach hinten los, da noch mehr Menschen nach Kasachstan flüchteten, um der Einberufung zu entgehen. Durch die Einberufung von 200.000 zusätzlichen Männern könne Russland jedoch weiter kämpfen und hohe Verluste in Kauf nehmen, sagt Rogow. 'In den letzten Monaten mussten die Russen darauf achten, wie viele Männer sie verloren, weil die Vertragssoldaten ihre Verträge einfach zerrissen und wegliefen', sagte Rogow. 'Jetzt müssen sie sich um die hohen Verluste keine Sorgen mehr machen.'"

Russland ist unfähig, den Ukrainekrieg mit konventionellen Waffen zu gewinnen, das macht die Gefahr eines Atomkriegs größer, fürchtet der Ex-CIA-Analyst George Beebe vom Think Tank Quincy Institute for Responsible Statecraft im Interview mit der SZ. Diplomatie sei deshalb essenziell, und wenn Putin paranoid ist, dann müsse man eben auch seine Paranoia ernst nehmen. Verhandeln müsse man "über das, um was es den Russen von Anfang an ging. Dass die Ukraine nicht Teil eines westlichen Militärbündnisses sein wird. Sie haben seit 2008, als die Nato zum ersten Mal die Entscheidung verkündete, dass die Ukraine und Georgien eines Tages Mitglieder des Nato-Bündnisses sein würden, die Bedeutung dieses Punktes betont. Und die Bereitschaft, einen Kompromiss zu finden, würde diese Krise oder diesen Krieg nicht von selbst lösen, aber sie würde einen Kontext schaffen, in dem ein Ausweg viel leichter zu finden ist als unter den derzeitigen Umständen." Dafür scheint Beebe auch bereit, einen Teil der Ukraine zu opfern: "Manchmal muss man Dinge flicken, anstatt sie gleich zu reparieren."

Wladimir Putin trifft morgen Tayyip Erdogan, der gern vermitteln möchte. Aber Verhandlungen haben keinen Sinn, schreibt Pierre Haski in seiner Kolumne bei France Inter: "Verhandlungen sind nur möglich, wenn eine der beiden Parteien in einer unterlegenen Position ist und verhandeln muss, um eine totale Niederlage zu vermeiden; dies ist weder bei Russland noch bei der Ukraine der Fall. Wladimir Putin wird zwar in die Schranken gewiesen, aber nachdem er eine Teilmobilmachung eingeleitet und die wahllose Bombardierung von Städten begonnen hat, ist er nicht auf Deeskalation aus, im Gegenteil. Zweifellos hofft der russische Präsident, dass die ukrainische Bevölkerung, die mit dem Raketenhagel auf die Städte einer dramatischen Prüfung ausgesetzt ist, die Kapitulation einer Fortsetzung des Leidensweges vorzieht. Wieder einmal unterschätzt Putin die Ukrainer."
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Medien

Die iranische Journalistin Niloofar Hamedi hatte durch ein Foto der Eltern Mahsa Aminis an ihrem Krankenbett die jüngsten Aufstände im Iran ausgelöst. Nun befindet sich Hamedi ohne Anklage im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis, berichtet Parisa Hafezi bei Reuters: "Das Committee to Protect Journalists (CPJ) hat die iranischen Behörden aufgefordert, 'alle Journalisten, die wegen ihrer Berichterstattung über den Tod von Mahsa Amini und die darauf folgenden Proteste verhaftet wurden, unverzüglich und bedingungslos freizulassen'. Im vergangenen Monat hieß es, dass mindestens 28 Journalisten von den Sicherheitskräften inhaftiert worden seien, darunter Hamedi. Freunde von Hamedi schildern sie als eine mutige Journalistin, die sich leidenschaftlich für Frauenfragen und -rechte einsetzt. Ihre investigativen Artikel behandeln Themen wie die Selbstverbrennung von Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, und sie interviewte die Familie von Sepideh Rashno, einer iranischen Schriftstellerin und Künstlerin, die im Juli verhaftet wurde, weil sie sich der islamischen Kleiderordnung widersetzt hatte."

Bertelsmann will offenbar mehrere ehrwürdige ehemalige Gruner und Jahr-Titel verkaufen, meldet turi2 unter Bezug aufs Handelsblatt. Neulich war gemeldet werden, dass nach der Gleichschaltung des Zeitschriftenkonzerns Gruner und Jahr nur noch Titel weiter betrieben werden sollen, die "synergetisch" seien: "Das Handelsblatt sieht Stern, Gala und Geo als gesetzt, Magazine wie Schöner Wohnen oder Beef könnten 'auf Sicht' auf dem Basar landen oder eingestellt werden."
Archiv: Medien

Religion

Empört wendet sich Necla Kelek bei Cicero (leider nicht online) gegen die Behauptung von Politikerinnen wie Annalena Baerbock oder Lamya Kaddor, die Gewalt gegen Frauen im Iran habe "nichts mit Religion" zu tun. Damit nehmen die Politikerinnen die Religion in Schutz, nicht die Frauen, so Kelek, und gibt eine historische Nachhilfestunde: "Nach der Machtübernahme machte Ayatollah Khomeini am 8. März 1979, dem Internationalen Frauentag, die Verhüllung der Frauen unter dem Tschador zum Gesetz. Die Scharia wird in der islamischen Theologie als vollkommene Ordnung Gottes verstanden, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Die Scharia ist die Gesamtheit des islamischen Gesetzes, wie es im Koran, in der islamischen Überlieferung und in den Auslegungen maßgeblicher Theologen und Juristen vor allem der frühislamischen Zeit niedergelegt wurde. Das Ehe- und Familienrecht gilt als Kern der islamischen Gesetze, der Scharia, und ist mit wenigen Ausnahmen heute in allen islamischen Ländern eine wesentliche, teilweise auch einzige Grundlage des Personenstandsrechts und damit der Rechtsprechung in Zivilprozessen." Auf deutsche Politikerinnen werden sich Feministinnen aus muslimischen Ländern nicht stützen können, so Keleks bitteres Resümee nach Jahren des Engagements.

Der Hidschab ist weit mehr als ein Stück Stoff, das die Haare bedeckt, versichert im Interview mit Zeit online Reza Sharifi, Professor im Iran. "Viele verstehen nicht, wie fundamental wichtig der Hidschab für die islamische Republik ist. Ich habe beispielsweise noch nie die Haare meiner Großmutter gesehen. Wenn die Frauen also jetzt ihren Hidschab herunterreißen und ihn verbrennen, geht es um nicht weniger als die islamische Republik selbst. Es geht den Demonstrierenden darum, das theokratische Regime zu stürzen." Er gibt auch zu, dass viele Demonstranten, die meisten sehr jung, die Unterstützung der Älteren vermissen. "Ich habe schon öfter gehört: Wo sind unsere Väter? Wo sind unsere Professoren? Sie fühlen sich alleine gelassen. Ich schäme mich dafür, dass ich nicht mit ihnen auf der Straße stehe, aber ich traue mich nicht. Ich habe Angst um mein Leben, um das Leben meiner Familie und meinen Job. Aber ich versuche zu tun, was ich kann."
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Gesellschaft

Ein neuer Faschismus ist aufgezogen, und er wird erst einmal bleiben, fürchtet Georg Diez in dlf kultur nach den Wahlerfolgen der Rechten in Schweden, Italien, Niedersachsen und der jüngsten AfD-Demo in Berlin: "Da war einmal diese extreme Aggression, die in die Straße getragen wird, ein Hauptschauplatz faschistischer Machteroberung. In Berlin sah man Menschen, die wahllos auf Passanten einbrüllten, die sie als Feinde sahen, als Gegner, die weg müssen. 'Faules Pack, faules Pack', riefen sie, was durchaus an die Arbeitslager der Nationalsozialisten oder anderer faschistischer Bewegungen erinnert. Dazu die Attacken auf die Medien. ... Zur Wut kommt jetzt die Irrationalität - und hier liegt eine besonders große Gefahr. Die Wut mag in vielem verständlich sein, sogar berechtigt, nachvollziehbar. Es geht vielen Menschen schlechter, die wirtschaftliche Lage ist bedrückend für viele Menschen. Der Faschismus setzt genau hier an - und zündet den Funken, der sich über den Verstand erhebt. Damit, und auch das wurde in Berlin sichtbar, entziehen sich viele dieser Menschen dem Gespräch, sie weichen zurück in die Bastionen ihres eigenen Wahns. Das Völkische, das Rassistische, das Ausgrenzende sind verschiedene Varianten dieses Wahns."

Kann Hass auch ein Gerechtigkeitsgefühl sein? Das lehnt die Berliner Philosophin Hilge Landweer im Interview mit dem Standard rundheraus ab: Der antikapitalistische linke Diskurs übte noch Kritik, "Kritik an den Verhältnissen. Kritik passiert aus dem Gefühl heraus, dass dasjenige, was von ihr vorgefunden wird, nicht rechtens sei. Es handelt sich um Ungerechtigkeiten. Das Gefühl, das genau diese Empfindung ausdrückt, heißt Empörung. Hass ist niemals ein Gerechtigkeitsgefühl. Er fixiert sich auf den Gehassten und unterstellt ihm irgendwelche Eigenschaften oder Taten. Er lässt sich nicht rechtfertigen. Empörung dagegen nimmt Maß an dem, worüber sie sich empört: Die Ungerechtigkeit muss der Größe des Gefühls entsprechen."

Kanye West ist das selten zu beobachtende Phänomen des rechten Schwarzen: Er stellte die Verbrechen der Sklaverei in Frage, nannte Abtreibung ein Verbrechen und trug ein 'White Lives Matter'-Shirt auf einer Modenschau. Und jetzt gibt er auch noch antisemitische Parolen von sich. Ein Problem, findet Moritz Baumstieger in der SZ, denn West ist nur "das jüngste Beispiel eines Großkünstlers mit erhöhtem Mitteilungsbedürfnis, der erst abdreht und sich dann den Juden und Israel zuwendet, um mal nach dem Rechten zu sehen. Der deutsche Sänger Xavier Naidoo: erst ein bisschen kryptisches Geschwurbel, dann Reichsbürger-Rhetorik, dann Holocaust-Relativierung. Roger Waters, genialischer Mitbegründer von Pink Floyd: kämpft seit jeher für die Unterdrückten dieser Erde, seit rund 15 Jahren nun schwer verbohrt mit Theorien zum 'Apartheidsstaat' Israel unterwegs und nicht mehr zu stoppen. Nun der Rapper aus den USA."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Am Sonntag beginnt der Parteitag, bei dem Xi Jinping entgegen vorher geltender Regeln, eine weitere Amtsperiode beschert wird. FAZ-Korrespondentin Friederike Böge erzählt in einem ganzseitigen Porträt, wie Xi ein geradezu an Mao erinnerndes Machtsystem schuf. Es gibt Risse in diesem System, die sich unter anderem in der rigiden Null-Covid-Politik offenbarten, hinter die Xi jetzt nicht mehr zurückkann: "Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf 20 Prozent gestiegen. Die chinesische Wirtschaft steht so schlecht da wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Seit einigen Monaten wächst der Unmut in der Bevölkerung über die strikte Corona-Politik. Breite Proteste wie derzeit in Iran sind in China dennoch schwer vorstellbar. Die flächendeckende digitale Überwachung, die Zensur des Internets, das Fehlen alternativer Informationsquellen und die Verfolgung von Kritikern erschweren die Mobilisierung."
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