Efeu - Die Kulturrundschau

Im trockenen Wind

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12.10.2022. Die SZ verfolgt fasziniert, wie Ruben Östlund in seinem palmenprämierten Film "Triangle of Sadness" eine  Luxusyacht auf den Schmerzpunkt der Gegenwart zudonnern lässt. Die FAZ fühlt sich dagegen zum Lachen erpresst. Der Guardian lauscht der Melodie der Zerstörung, die Cecilia Vicuña in der Tate Modern anstimmt. Die FAZ lässt sich von Irene Vallejo den epischen Kampf zwischen Wissen und Macht erzählen. ZeitOnline bewundert die paradoxe Ästhetik des Rappers Ka
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.10.2022 finden Sie hier

Film

Erpresste Komik: "Triangle of Sadness"

Tobias Kniebe nimmt in der SZ den Kinostart von Ruben Östlunds Reichen-Groteske "Triangle of Sadness" zum Anlass, um über den sagenhaften Erfolg des Regisseurs nachzudenken, der die internationale Filmbühne erst vor etwas über zehn Jahren betreten und sich seitdem schon zwei Goldene Palmen in Cannes abgeholt hat, auch wenn er "nicht der subtilste aller Meisterregisseure ist". Der schwedische Filmemacher operiere am "Schmerz der auseinanderdriftenden Wirklichkeit": "Wer definiert, was 'Wirklichkeit' ist? Alles nur eine Frage der besseren Beweismittel" oder doch nur "eine Machtfrage? ... Kein anderer Regisseur steuert im Augenblick derart zielsicher auf diesen Schmerzpunkt der Gegenwart zu, der sich in den vergangenen Jahren zur schwärenden gesellschaftlichen Wunde ausgeweitet hat. Bei der Frage etwa, ob es eigentlich eine Coronapandemie gibt oder wie gefährlich Wladimir Putin ist. Ziemlich eindeutige Wahrscheinlichkeiten, aber zwei oder noch mehr Wirklichkeiten, überall."

Andreas Kilb ist in der FAZ von "Triangle of Sadness" derweil deutlich genervt: Der Film exerziere sein Programm anhand dreier Episoden durch, jede dieser Episoden widmet sich einem aktuellen gesellschaftspolitischen Reizthema: Die Schauspieler "hätten die Chance, den Rahmen, den der Film um sie spannt, zu durchdringen, seine Themen lebendig, seine Abstraktionen konkret zu machen, wenn Ruben Östlund, der Regisseur, sie gewähren ließe. Aber Östlund lässt sie nicht, weil er sich für das, was in den Figuren steckt, im Grunde nicht interessiert. ... Der Film zwingt uns, über diese Karikaturen zu lachen, aber es ist eine unfrohe, erpresste Komik, weil sie von Gespenstern und Popanzen ausgeht, nicht von Abbildern der Wirklichkeit." Die Frankfurter Allgemeine Quarterly hat ihr Gespräch mit dem Regisseur online gestellt.

Weitere Artikel: In der Welt skizziert Hanns-Georg Rodek den seit Jahren anhaltenden filmischen Protest im Iran, dessentwegen mittlerweile einige namhafte Filmemacher vom Regime in Haft gesetzt wurden. Nachrufe auf die Schauspielerin Angela Lansbury ("Mord ist ihr Hobby") schreiben Manuel Brug (Welt) und Johanna Bruckner (SZ).

Besprochen werden Gina Prince-Bythewoods "The Woman King" (FAZ), Ana Lily Amirpours "Mona Lisa and the Blood Moon" (Tsp, mehr dazu bereits hier) und Andrina Mračnikars Dokumentarfilm "Verschwinden/Izginjanje" über das Verschwinden der slowenischen Sprache in Südkärnten (Standard).
Archiv: Film

Kunst

Cecilia Vicuna: Brain Forest Quipu. Foto: Matt Greenwood / Tate Modern

Die chilenische Künstlerin und Dichterin Cecilia Vicuña zeigt in der Turbinenhalle der Tate Modern ihr Großwerk "Brain Forest Quipu", das Adrian Searle im Guardian als bewegenden Klagegesang auf den Verlust der andinen Quechua-Kultur preist: "'Brain Forest Quipu' besteht aus geknüpften, gewebten und geflochtenen Skulpturen, deren Präsenz die Blässe toter Dinge, gebleichter Vegetation und letzter Spuren annimmt, es ist eine Elegie auf die verlorene Sprache und die mutwillige Zerstörung. Eingeflochten in diese Skulpturen sind Vogelgezwitscher und das Rauschen des Wassers, das begleitende Geräusch von Insekten, klagende Volkslieder und die eigene Stimme der Künstlerin. Wir hören Streicherensembles, Gitarren und Chöre, Feldaufnahmen und ferne, widerständige Schreie ... Visuell sind diese herzzerreißenden Skulpturen ansprechend, taktil und ziemlich schön, doch sie erinnern an abgestorbene Reben und abfallende Rinde, vertrocknete Kürbisse und menschliche Hinterlassenschaften. Ich dachte an majestätische, aber elende Leichentücher, die sich im trockenen Wind wiegen."

Weiteres: Ruangrupa ist jetzt in der Gruppenausstellung "Loving Others" im Wiener Künstlerhaus vertreten, im Imterview mit dem Standard spricht Iswanto Hartono über den Antisemitismus, die Medienattacken und die eigene Überforderung. Verantwortung schiebt er allerdings auf die Documenta-Leitung: "Die Organisation war nicht wirklich offen für Diskussionen. Wir waren immer offen für Gespräche." In Hamburg, wo zwei Ruangrupa-Mitglieder Gastprofessuren bekamen, versucht man die Antisemitismusdiskussion jetzt begleitetenden Veranstaltungen einzuhegen, meldet der Tagesspiegel. In der FR schreibt Arno Widmann voller Verehrung zum zweihundertsten Todestag des Bildhauers Antonia Canova, an dessen Marmorgruppe "Amor und Psyche" Widmann sich nicht satt sehen kann..

Besprochen werden die die Ausstellung "The New Abnormal" mit Fotografien aus dem Ukraine-Krieg im Hamburger Phoxxi (taz) und eine eine Ausstellung zur glanzvollen Geschichte der Tudors im Metropolitan Museum in New York (NY Times, Welt).
Archiv: Kunst

Literatur

Paul Ingendaay schlendert für die FAZ mit Irene Vallejo durch deren Heimatstadt Saragossa, wo der spanischen Autorin ein völlig unwahrscheinlicher Erfolg geglückt ist: Ihr als Hommage an die Antike konzipiertes, zwischen Memoir und Sachbuch changierendes und unter eher kümmerlichen Arbeitsbedingungen verfasstes Buch "Papyrus - Die Geschichte der Welt in Büchern" wurde erst in Spanien und schließlich in aller Welt zum Bestseller. "Sie habe über die Themen und Motive, die sie besonders faszinierten, im Stil der Geschichtenerzähler geschrieben, sagt Vallejo, 'wie Boccaccio oder Tausendundeine Nacht'. An der Pinnwand der kleinen Bücherklause hängen verschiedenfarbige Haftnotizen mit den Leitideen: Bibliotheken in der Antike zum Beispiel. Lesekultur. Horaz. Frauen ohne Stimme. 'Mein Buch ist das Epos des Wissenserwerbs', sagt Vallejo. 'Ich erzähle es anhand von Kämpfen, mit denen erreicht wurde, dass aus Wissen Macht wurde, die nun nicht mehr einigen wenigen gehörte, sondern einer großen Mehrheit.' Sie selbst, die sich als 'Generation Kugelschreiber' bezeichnet, empfand sich in der Schule immer als Minderheit. Das erschütternde Kapitel 86, das davon erzählt, wie sie von Mitschülern ausgegrenzt, gequält und geschlagen wurde, lässt ahnen, dass Bücher ihre Rettung vor einer feindlichen Umwelt waren."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Der Tagesspiegel dokumentiert Sasha Marianna Salzmanns Laudatio auf die Schriftstellerin Maria Stepanova und deren Übersetzerin Olga Radetzkaja zur Auszeichnung mit dem Brücke-Preis. Der Standard meldet die Bekanntgabe der Shortlist zum Österreichischen Buchpreis: Hoffen dürfen nun Helena Adler ("Fretten"), Anna Kim ("Geschichte eines Kindes"), Verena Roßbacher ("Mon Chéri und unsere demolierten Seelen"), Robert Menasse ("Die Erweiterung") und Reinhard Kaiser-Mühlecker ("Wilderer"). Und: Dlf Kultur hat aus Merle Krögers von der Kritik gefeierten Thriller "Die Experten" ein fünfteiliges Hörspiel gemacht.

Besprochen werden unter anderem Javier Marías' "Tomás Nevinson" (NZZ, FAZ), Lauren Groffs "Matrix" (taz), Michael Kumpfmüllers "Mischa und der Meister" (SZ), Ian Rankins und William McIlvanneys Krimi "Das Dunkle bleibt" (FR) und Serhij Zhadans "Himmel über Charkiw" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Besprochen werden Oliver Frljićs Inszenierung von Brechts "Mutter Courage" am Maxim-Gorki-Theater Berlin (die Peter Laudenbach in der SZ "bestenfalls halb gelungen" findet, aber zu einer Eloge nutzt auf "die Dringlichkeit und den oft ziemlich umwerfenden Lebensmut", mit dem das Gorki Theater macht, Tsp), Mozarts "Don Giovanni" in Darmstadt (FR), Stefan Puchers Inszenierung von Robert Ickes Diskurs-Stück "Die Ärztin" am Schauspiel Hannover (FAZ) sowie Ibsens "Nora" und Edward Louis' "Die Freiheit einer Frau" an den Münchner Kammerspielen (FAZ) .
Archiv: Bühne

Musik

Auf ZeitOnline erzählt Julian Brimmers die Geschichte des Rappers Ka, der mit 50 Jahren ein fürs Genre schon biblisches Alter hat, notorisch medienscheu ist und dessen im Selbstvertrieb veröffentlichte Platten weg gehen wie warme Semmeln. Auf seinen Alben schöpft er aus dem Bildungsfundus der Kulturgeschichte, sie "ergeben einen Bildungsroman über Kas Erziehung zwischen dem Wissen der Straße, radikaler Literatur, Schwarzer Geschichte und Musik. ... Die Abwesenheit des Menschen Kaseem Ryan in der Musik von Ka, die sich doch so sehr aus der detaillierten Erinnerung an die Traumata seiner Jugend speist, verleiht ihr eine ganz eigene, paradoxe Ästhetik. In seinen Songs wird Ka selbst zur flüchtigen Erzählerstimme, die durch die Straßen einer schwierigen Kindheit mäandert. Die kargen, oft selbstproduzierten Beats erinnern an das Rattern eines Projektors, der die Bilder in losen Zusammenhängen abspult. Mit diesem Sound steht Ka exemplarisch für eine Strömung im US-Rap der letzten Jahre, in der klassischer lyricism - der Fokus auf verschachtelte Reimstrukturen und ausdrucksstarke Texte - unterstützt wird von reduzierter, samplebasierter Musik ohne dazu programmierte Drums."



Weitere Artikel: Diviam Hoffmann porträtiert für die taz das (allerdings aus Essen stammende) Duo The Düsseldorf Düsterboys: Das klanglich mitunter "Unperfekte passt zur poetischen Uneindeutigkeit ihres Schreibens". Ueli Bernays spricht in der NZZ mit dem Klarinettisten Giora Feidman über die Geschichte von Klezmer.

Besprochen werden ein Sting-Konzert (NZZ), eine Box zum Spätwerk Joe Strummers (Standard), ein Beethoven-Abend von Anne-Sophie Mutter mit Streichquartett (FR), Gilla Bands "Most Normal" (Pitchfork), Daphnis "Cherry" (Pitchfork) und neue Popveröffentlichungen, darunter eine Box mit dem Gesamtschaffen der Krautrocklegende Neu: "Diese Kunst klingt noch immer unglaublich frisch", staunt Standard-Kritiker Christian Schachinger.

Archiv: Musik
Stichwörter: Rap, Hiphop, Ka