9punkt - Die Debattenrundschau

Die nötige systemgefährdende Kraft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2022. Die Ukrainer müssten unter anderem deshalb vom Westen noch viel stärker unterstützt werden, weil ihre Erfolge die Welt besser gemacht haben, sagt Timothy Snyder bei t-online.de. Auch Thomas Piketty ist im FR-Interview optimistisch: das europäische Modell sei stärker als das chinesische. Zwei Beiträge in der FAZ und bei bpb.de befassen sich mit Vorteilen und Tücken der Identitätspolitik. Die New York Times beklagt einen rasanten Anstieg von Hate Speech bei Twitter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.12.2022 finden Sie hier

Europa

Die Ukrainer müssten unter anderem deshalb vom Westen noch viel stärker unterstützt werden, weil ihre Erfolge die Welt besser gemacht haben, sagt Timothy Snyder im Interview mit Marc von Lüpke und Florian Harms bei t-online.de. Ein Beleg für seine These: "Die Chinesen sehen jetzt, dass der Westen zu einem sinnvollen Sanktionsregime fähig ist. Und vor allem sehen sie, wie schwierig eine solche Offensivoperation für sie wäre."

Barbara Oertel und Gemma Terés Arilla unterhalten sich für die taz mit dem ukrainischen Justizminister Denys Maljuska über die Verfolgung russischer Kriegsverbrechen. Mehr als 40.000 Strafverfahren seien bereits eröffnet. Da die Russen von der Gegenoffensive überrascht waren, hätten sie viele Beweise hinterlassen - "anders als im Krieg im Donbass seit 2014, in dem wir keinen Zugang zu den Tatorten hatten. Jetzt bekommen wir auch viele anonyme Anrufe. Allerdings werden nicht alle Fälle bekannt oder den Vollzugsbehörden gemeldet. Viele Opfer haben die Ukraine inzwischen verlassen. Wir arbeiten auch mit ukrainischen und ausländischen Nichtregierungsorganisationen sowie mit Behörden im Ausland zusammen - auch das ist anders als beim Krieg im Donbass. Der Internationale Gerichtshof sammelt ebenfalls Beweise für Kriegsverbrechen in der Ukraine. Diese ganzen Informationen werden für künftige Entschädigungsforderungen wichtig sein."
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Ideen

In Berlin tagte der neue Pen Berlin. Der amerikanische Pen-Präsident Ayad Akhtar hielt eine Rede (abgedruckt in der FAZ) über das polarisierte Klima in den USA, für das er die üblichen Verdächtigen verantwortlich macht, die sozialen Medien und den Kapitalismus. Wie dieser allerdings an der folgenden Geschichte schuld sein soll, erklärt er nicht. Es geht um ein Buchprojekt, "das allen größeren Verlagen angeboten worden ist. Es handelt sich um die erste umfassende wissenschaftliche Biografie von Medgar Evers - einer der wichtigsten Protagonisten der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre. Der Autor gilt als führender Evers-Fachmann. Doch sein Buchprojekt findet keinen Verlag. Niemand will es machen. Nicht jetzt, nicht in diesem Klima: Denn Medgar Evers war ein Schwarzer, und der Autor des Buches ist weiß."

Identitätspolitik existiert allerdings schon viel länger als das Internet - Jörg Scheller geht in einem Essay für bpb.de bis in die Sechziger zurück. Sie leite sich sehr oft zurecht aus Diskriminierungserfahrungen bestimmter Gruppen her. Die organisierte Kritik an dieser Diskriminierung stellt Heucheleien eines offiziellen Universalismus bloß und ist darum zu begrüßen, so Scheller. Aber Identitätspolitik hat Tücken: "Identitätspolitik ist auch dort destruktiv, wo sie nurmehr Gruppen statt auch Individuen sieht. Je länger man 'strategischen Essenzialismus' betreibt, desto größer ist die Gefahr, dass gewohnheitsmäßiger daraus wird. Dass Menschen als soziale Wesen qua Geburt irgendeiner Gruppe angehören, bedeutet nicht, dass sie sich mit diesen Gruppen identifizieren oder in ihnen schwimmen wie Fische im Wasser. Sie fremdeln vielmehr oft mit ihnen und identifizieren sich mit anderen Kulturen, wie etwa die frühen Skinheads in England mit 'Black Culture'. Gerade in den dynamischen modernen 'Multioptionsgesellschaften' (Peter Gross) sind Identitätswechsel an der Tagesordnung."

"Ich bin schon immer sehr optimistisch gewesen", sagt Thomas Piketty im Interview mit Michael Hesse von der FR. Zu Unrecht sei er als ein Kritiker der Globalisierung gesehen worden, die immer größere Ungleichheit schafft: Diese Tendenz gebe es zwar, aber auch die historische Erfahrung, dass sich die Welt durch Kämpfe für Gleichheit verbessert. Heute liege der Neoliberalismus im Sterben. Und Europa sei mit seinem sozialen Modell auch stärker als China. Piketty macht das an der Coronakrise fest: "Die Menschen lassen sich nur dann impfen, wenn sie den Regierungen vertrauen. So ist es in Deutschland, Frankreich oder den USA. In China ist das nicht so. Man kann sie nicht dazu zwingen. Man weiß nicht genau, was da passiert, aber das ist schon eine mächtige und ernste Herausforderung für Peking. Ich glaube, dass China viel schwächer sein wird. Ich war sehr traurig über die Entwicklung in Hongkong und den Angriff auf die demokratischen Strukturen. Wir sollten China viel stärker entgegentreten. Das chinesische Modell ist fragil, wir in Europa sind stark."
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Politik

Diese Woche haben wir in China die größten Proteste seit 1989 gesehen, aber sie haben kaum eine Chance, fürchtet Felix Lee in der taz: "Chinas hochtechnologisierter Polizeistaat und die Zensoren schlagen derart effizient und wuchtig zu, dass schon organisatorische Ansätze im Keim erstickt werden. Zum anderen fehlt es an Oppositionellen, die bereit sind, für die Proteste auch zu sprechen und ihr so die nötige systemgefährdende Kraft zu verleihen. Die hatte es in Form der Studentenführer*innen 1989 gegeben. Und: Die meisten sind eben doch wegen der Covid-Maßnahmen der Regierung wütend. Um eine umfassende Systemkritik handelt es sich also nicht."
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Stichwörter: Chinesische Unruhen 2022

Internet

Hate Speech ist auf Twitter seit der Übernahme durch Elon Musk drastisch angewachsen, berichten Sheera Frenkel und Kate Conger in der New York Times unter Bezug auf Studien verschiedener Organisationen: "Konten, die Twitter früher regelmäßig entfernt hat - wie etwa solche, die sich als Teil des Islamischen Staates zu erkennen gaben und die verboten wurden, nachdem die US-Regierung ISIS als Terrorgruppe eingestuft hatte - sind wieder aufgetaucht. Konten, die mit QAnon, einer weit verbreiteten rechtsextremen Verschwörungstheorie, in Verbindung gebracht werden, haben für den Verifizierungsstatus bei Twitter bezahlt und diesen erhalten, was ihnen einen Anschein von Legitimität verleiht. Diese Veränderungen sind alarmierend, sagen die Forscher und fügen hinzu, dass sie noch nie einen so starken Anstieg von Hassrede, problematischen Inhalten und ehemals gesperrten Konten in einem so kurzen Zeitraum auf einer Mainstream-Social-Media-Plattform gesehen hätten."
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Gesellschaft

Alice Schwarzer ist achtzig geworden. Dass sie streitbar ist und bei unterschiedlichen Streitthemen unterschiedliche BündnisgenossInnen hat, weiß jeder. Carolina Schwarz sichtet für die taz eine Dokumentation, die in der ARD-Mediathek zu sehen ist, ein Podcast der SZ und das zweitilge Biopic, ebenfalls in der ARD, das ziemlich hagiografisch geraten sei. Das verwundere nicht, "wenn man herausfindet, dass Schwarzer selbst an dem Biopic beteiligt war. Auf Anfrage der taz, wie diese Zusammenarbeit ausgesehen hat, antwortet die ARD, die Autor*innen Daniel Nocke und Silke Steiner hätten eigenständig kreativ gearbeitet, jedoch viele sehr 'persönliche und intensive Gespräche' mit Schwarzer zur Recherche geführt. Zudem hatte sie Mitspracherecht bei der Besetzung der drei Hauptfiguren." In der FAZ gratuliert Kai Spanke.
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Kulturpolitik

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist im Vergleich mit Institutionen wie dem Louvre oder der Smithsonian Institution unterbesetzt und unterfinanziert, und verstrickt sich in ihren verwirrenden Hierarchien. Vor drei Jahren hatte der Wissenschaftsrat eine Auflösung der Stiftung vorgeschlagen, resümiert Andreas Kilb in der FAZ. Stattdessen wurde eine Reformkommission gegründet, die nun ein Eckpunktepapier formuliert hat. Kilb ist bestürzt - das Papier gibt nun den Bundesländern wieder viel Mitsprache: "Dabei ist die Finanzlage klar: Der Bund trägt 85 Prozent des Stiftungshaushalts, das Land Berlin sechs Prozent, die Restsumme verteilt sich auf die übrigen fünfzehn Bundesländer. Dennoch zählen ihre Stimmen im Stiftungsrat nicht weniger als die des Bundes. Diesen Missstand sollte eine Reform der SPK als Allererstes beenden. Stattdessen wird er nun perpetuiert."
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