9punkt - Die Debattenrundschau

Ein schwacher Grund zur Freude

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2022. In Atlantic zeigt Anne Applebaum auf, was die Ukrainer geleistet haben und was ihnen und der Welt gedroht hätte, wenn Putins Pläne aufgegangen wären. Der Westen ist kein ideologisches Konstrukt des Kalten Krieges, betont Heinrich August Winker in der SZ, sondern durch Gewaltenteilung und Pluralismus entstanden. Er sollte allerdings die Idee der Menschenrechte entkolonisieren, findet die FAZ. In der taz hält Noshin Shahrokhi den Mullahs vor, den Iranern die Religion verhasst gemacht zu haben. Im Guardian schöpft Jonathan Freedland allerdings für die Welt leichte Hoffnung. Ist ja schließlich Weihnachten!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.12.2022 finden Sie hier

Europa

Im Atlantic ruft Anne Applebaum in Erinnerung, was Präsident Wolodimir Selenski und das ukranische Volk in diesem Jahr geleistet haben. Und vor welchen Katastrophen sie das Land und die Welt bewahrt haben: "Wäre der russische Plan so ausgeführt worden, wie er geschrieben war, wäre Kiew in wenigen Tagen erobert worden. Selenski, seine Frau und seine Kinder wären von einem der Killerkommandos, die durch die Hauptstadt zogen, ermordet worden. Der ukrainische Staat wäre von den Kollaborateuren übernommen worden, die sich bereits ihre Kiewer Wohnungen ausgesucht hatten. Dann hätte die russische Armee Stadt für Stadt, Region für Region gegen die Reste der ukrainischen Armee gekämpft, bis sie schließlich das ganze Land erobert hätte. Ursprünglich ging der russische Generalstab davon aus, dass dieser Sieg sechs Wochen in Anspruch nehmen würde. Wäre alles nach Plan verlaufen, wäre die Ukraine heute übersät mit Konzentrationslagern, Folterkammern und Behelfsgefängnissen, wie sie in Butscha, Isjum, Cherson und all den anderen zeitweilig von Russland besetzten und von der ukrainischen Armee befreiten Gebieten entdeckt wurden. Eine Generation von ukrainischen Schriftstellern, Künstlern, Politikern, Journalisten und führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wäre bereits in Massengräbern begraben."
Archiv: Europa

Ideen

In der SZ betont der Historiker Heinrich August Winkler, dass der Westen kein ideologisches Produkt des Kalten Krieges sei, wie seine Verächter gern meinen, sondern das Erbe des Lateinischen Europas, Renaissance und der Menschenrechtserklärungen von 1776 und 1789. Großes Gewicht misst Winkler dem Beginn der Gewaltenteilung mit dem Investiturstreit bei: "Als im Investiturstreit des hohen Mittelalters die geistlichen und die weltlichen Herrschaftsansprüche aufeinanderprallten, beriefen sich einige der Beteiligten auf ein von drei Evangelisten überliefertes Wort von Jesus: 'Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.' Man könnte dieses Wort, frei nach Goethe, eines der 'Urworte, christlich' nennen. Durch die kategorische Unterscheidung der Sphären von Gott und Kaiser, von göttlichem und weltlichem Recht, wurde der weltlichen Gewalt ein autonomer Bereich der Eigenverantwortung zugesprochen. Eine Priesterherrschaft oder Theokratie war damit nicht vereinbar, ein totalitäres, den ganzen Menschen für sich beanspruchendes System auch nicht."

Die deutsch-iranische Autorin Noshin Shahrokhi beschwört in der taz die persische Dichtung, die schon für Hazif und Ferdowsi eine Bastion des Widerstands gegen aufgezwungene Religion war: "Damals hatte die Macht immer zwei Säulen. Die Monarchie neben der Religion. Wenn der König die Religionsvertreter verachtete, putschten diese gegen den König. Aber nun, da die Religiösen ganz allein an der Macht sind und Hunderttausende Sicherheitskräfte diese Macht mit Gewalt und schweren Waffen sichern, werden nicht nur die Machthaber, sondern auch ihre Religion mit all ihren 'göttlichen Gesetzen" gehasst. Die Verbrennung eines Kopftuchs ist deshalb viel mehr als nur ein Stück Stoff, das in Flammen aufgeht. Es zeigt das erlittene Trauma, entstanden durch ein Regime, das sein eigenes Religionsverständnis der ganzen Bevölkerung aufzwingt. Deshalb singen die Protestierenden auf den Straßen unter Lebensgefahr: 'Ich hasse eure Religion, eure Sitten und auch eure Bräuche!"

Dass große Teile der Welt dem Westen nicht abnehmen, uneigennützig für Menschenrechte einzutreten, sollte zu denken geben. In der FAZ glaubt Mark Siemons, dass die meisten Menschen eben kein so unverbindliches Verhältnis zu ihrer Kultur haben. So habe der frühere Generalsekretär von Amnesty International, der indische Aktivist Salil Shetty, die 'Entkolonialisierung' der Menschenrechte gefordert: "In Indien zum Beispiel würden sich gebildete Leute, die die progressive Verfassung Indiens in höchsten Tönen loben, im selben Atemzug gegen 'Menschenrechte' aussprechen. Obwohl der Begriff erst im Zuge der Entkolonialisierung seinen Siegeszug antrat, werde er immer noch mit den idealistischen Motiven in Verbindung gebracht, mit denen der Kolonialismus seine Eroberungen ummäntelte, als dessen zeitgemäße Variante im Zeichen des fortgesetzten westlichen Hegemoniestrebens gewissermaßen. Deshalb plädiert Shetty dafür, den Begriff stärker als bisher mit den lokalen Kämpfen gewöhnlicher Leute gegen Unrecht und Unterdrückung zu verbinden. 'Für zu lange Zeit haben sich viele von uns zu sehr auf die amerikanische und europäische Vormundschaft über die Menschenrechte verlassen.'"
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

In großen taz-Interview mit Andreas Fanizadeh spricht Kulturstaatssekretärin Claudia Roth über den Ukrainekrieg, die Krise des Kulturbetriebs und den Kulturpass gegen die Digitaldepression der Jugend. Hitzig wird es natürlich beim Thema Antisemitismus auf der Documenta. "Ich habe die Alarmglocke bei ihnen geläutet. Vielleicht nicht heftig genug, nicht öffentlich genug", antwortet Roth auf den Vorwurf, nicht energischer eingeschritten zu sein: "Einer der Hauptfehler war, dass niemand greifbar und verantwortlich war. Es herrschte eine kollektive Verantwortungslosigkeit. Das ist ein strukturelles Problem gewesen. Aber was auch nicht geht, ist, eine Gruppe, weil sie aus einem islamischen Land kommt, generell gleich unter Verdacht zu stellen, was im Vorfeld der documenta teilweise zu beobachten war."
Archiv: Kulturpolitik

Geschichte

Die Ukraine hat mit Millionen Toten zweifellos am stärksten unter der von Stalin verursachten Hungersnot, dem Holodomor, gelitten, aber ob es sich dabei um einen gezielt gegen das ukrainische Volk gerichteten Völkermord handelte, sei unter Historikern strittig, schreibt Ulrich M. Schmid in der NZZ: "Über der Diskussion um den Holodomor geht oft vergessen, dass es in den Jahren 1930 bis 1933 auch in Kasachstan zu einer großen Hungersnot kam, die im Kasachischen als 'Ascharschylyk' bezeichnet wird. Damals kam mit etwa 1,5 Millionen Opfern ein Viertel der kasachischen Bevölkerung ums Leben. Zwar hatte sich der langjährige kasachische Präsident Nasarbajew nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunächst für eine Anerkennung des Ascharschylyk als Genozid eingesetzt. Allerdings verschwand dieses Thema später von der politischen Agenda, weil man die Beziehungen zu Russland nicht belasten wollte." Ähnlich sah es bereits Norbert Frei vor zwei Wochen in der SZ (unser Resümee).
Archiv: Geschichte

Politik

Im Guardian schließt sich Jonathan Freedland denjenigen an, die den Höhepunkt von Autokratie und Populismus überwunden glauben: "Dass Boris Johnson und Donald Trump sich geschlagen geben mussten, waren ermutigende Zeichen für die Widerstandsfähigkeit der Demokratie, aber auch für den weltweiten Rückzug der nationalistischen Populisten. Nicht überall: Benjamin Netanjahu ist in Israel wieder an der Macht und steht an der Spitze einer Koalition, der auch diejenigen angehören, die einst als Teil der unberührbaren, rassistischen Rechten gemieden wurden. Aber in Brasilien ist Jair Bolsonaro dem Club der Abgelehnten beigetreten, und in Frankreich hat Marine Le Pen ihre Mitgliedschaft bestätigt. Wenn Ihnen das wie ein schwacher Grund zur Freude vorkommt, überlegen Sie einmal, wie Sie sich fühlen würden, wenn die Ergebnisse andersherum ausgefallen wären."
Archiv: Politik