9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne Dialektik geht es nicht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2023. In der SZ erzählt der Schriftsteller Stephan Thome die nicht sehr freundschaftliche Geschichte der chinesisch-russischen Beziehung. In der FAZ fragt die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, wo eigentlich der größte Teil der Benin-Bronzen ist, die laut Datenbank in Nigeria stehen müssten. Im Interview mit der FR fordert Omri Boehm einen radikalen Universalismus, der nicht westlicher Provenienz ist. Auf Zeit online hofft Can Dündar, dass Erdogan bei den anstehenden Wahlen sein Blatt endgültig überreizt hat. Ansonsten streitet man sich über eine neue Friedensbewegung, scheitert aber schon an einer gemeinsamen Wirklichkeitsbetrachtung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.02.2023 finden Sie hier

Geschichte

Wahre Freundschaft herrschte nie zwischen Russland und China, schreibt der in Taipeh lebende Schriftsteller Stephan Thome, der in der SZ die lange gemeinsame Geschichte beider Reiche seit den ersten Verhandlungen über die gemeinsame Grenze im Jahr 1689 nachzeichnet. Auch nach der Gründung der Volksrepublik China herrschte keine Eintracht zwischen den beiden kommunistischen Ländern: "Als Mao 1949 zum Antrittsbesuch nach Moskau reiste, wurde er von Stalin schwer gedemütigt. Stolz hatte Mao bei der Staatsgründung verkündet, das chinesische Volk sei aufgestanden, wirtschaftlich aber lag das vom Krieg zerrüttete Land am Boden und brauchte dringend Kredite aus Moskau. Stalin zögerte und taktierte. Wochenlang ließ er den Gast in einer Datscha am Stadtrand warten und plante mit Kim Il-sung den nordkoreanischen Überfall auf Südkorea. Mao wurde erst eingeweiht, als der Plan stand. Auf Drängen Stalins versprach er den koreanischen Genossen, was Moskau ihnen ausdrücklich versagte: Im Bedarfsfall mit eigenen Truppen zu helfen. Als der Koreakrieg ausbrach und die USA intervenierten, sah der Mann im Kreml die Chance, Amerikas Aufmerksamkeit von Europa abzulenken und gleichzeitig Chinas Abhängigkeit von Moskau zu erhöhen - ohne eigenes militärisches Risiko. Mao hingegen musste Soldaten schicken, die eigentlich Taiwan hätten 'befreien' sollen."
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Kulturpolitik

Politiker und Museumsleute lassen sich derzeit gern dafür loben, wieviel "Raubkunst" sie zurückgeben. Aber guckt auch mal jemand, was mit der zurückgegebenen Kunst geschieht, fragt in der FAZ die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin. Immerhin gibt es jetzt in Hamburg eine digitale Datenbank, in der 5246 Benin-Bronzen in 131 Museen in zwanzig Ländern registriert sind. Da lässt sich auch nachverfolgen, was aus einzelnen Objekten wurde: 81 werden im Nationalmuseum in der früheren Hauptstadt Lagos verzeichnet, doch es müssten "rund vierhundert bis fünfhundert Objekte" sein, die der nigerianische Archäologe Ekpo Eyo in den Achtzigerjahren schriftlich festgehalten hat. 2016 sollen es immerhin noch über zweihundert gewesen sein. Wo sind sie? Das British Museum hatte in den 50er Jahren 54 Reliefplatten an Nigeria verkauft, "die Benin-Datenbank listet jedoch bloß achtzehn auf; bei nur zweien ist als Herkunft das British Museum angegeben". Das Metropolitan Museum in New York hat über 150 Artefakte zurückgegeben, doch "in New York weiß man nichts über ihren Verbleib, und in der Datenbank der Museen in Lagos und Benin sind sie nicht vermerkt. Ähnliches gilt für das Museum of Fine Arts in Boston", so Hauser Schäublin, die sich außerdem sehr darüber ärgert, "dass die mit Drittmitteln finanzierte Datenbank letztlich dazu dient, eine schöngeredete und glorifizierende Geschichte des Königreichs Benin zu verbreiten. Die über Jahrhunderte geführten Angriffskriege, in denen der Kriegerstaat seine Nachbarn terrorisierte, ausplünderte, massakrierte und hunderttausendfach versklavte, werden mit keinem Wort benannt. Auch nicht, dass die Benin-Bronzen Ausdruck des auf diese Weise erworbenen Reichtums sind."
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Ideen

Im FR-Gespräch mit Michael Hesse spricht Omri Boehm über die Verbindung zwischen jüdischer Philosophie und Immanuel Kant und die Doppelmoral des westlichen Verständnisses von Universalimus, die er auch in seinem aktuellen Buch untersucht: "Der Freiheitsbegriff der westlichen Kultur wird harsch kritisiert wegen ihres Kolonialismus, Sklaventums, Positivismus. Die Frage ist, ob das Konzept der Freiheit ein allgemeines ist oder mit der westlichen Kultur zu tun hat und nicht universell ist. Erst mit einem radikalen Universalismus, der nicht westlicher Provenienz ist, sind wir in der Lage, sowohl unsere Kultur als auch andere Kulturen zu kritisieren."
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Europa

Auf ZeitOnline macht sich Can Dündar leise Hoffnung, dass die kommenden Wahlen Erdogans Ende bedeuten könnten: "Seinen Kredit im Westen hat Erdoğan verspielt, als er die Ukraine-Krise in eine Chance umzumünzen versuchte und den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens behinderte. In der Türkei selbst fällt die Zustimmung zu Erdoğan aufgrund der schlechten Wirtschaftslage, der grassierenden Korruption und des staatlichen Versagens nach den jüngsten Erdbeben. Demgegenüber ist das aus sechs Parteien von Mitte-rechts und Mitte-links gebildete Bündnis der Opposition im Aufwind. In den Umfragen der vergangenen Monate lagen beide Lager Kopf an Kopf. Dass die Opposition im Gegensatz zu Regierungsstellen angesichts des Erdbebens den Opfern unverzüglich zu Hilfe eilte, wird das Gleichgewicht zuungunsten Erdoğans verändern."

Elke Schmitter, die eher der Ukraine-Unterstützer-Fraktion angehört, und Olaf Müller, der eher für Verhandlungen ist, führen im Freitag eine Debatte über diesen ungelösten Streit - und Müller stellt die Frage der Fragen, die das gegenwärtige Diskussionsklima nicht nur bei diesem Streit treffend resümiert. "Ich frage mich: Warum haben wir schon bei der Wirklichkeitsbetrachtung so verschiedene Positionen, obwohl wir uns bemühen, die Argumente des anderen zu hören und die Fakten im Blick zu haben?"

Einer Friedensbewegung, die die Ursache des Krieges und die Eskalation von russischer Seite überspielt, wie es Wagenknecht und Schwarzer tun, erteilt der Linken-Politiker Paul Schäfer im Interview mit der taz eine klare Absage. Frieden will er aber natürlich auch: "Eine Friedensbewegung muss eben beides tun - sowohl für Diplomatie werben als auch für konsequente Sanktionen. Trotz der nötigen Waffenlieferung an die Ukraine bleibt es richtig, grundsätzlich eine restriktive Rüstungsexportpolitik zu fordern. Auch muss eine Politik kritisiert werden, die jetzt so tut, als sei das Thema Rüstungskontrolle und Abrüstung im Zuge einer neuen globalen Konfrontation vom Tisch. Das finde ich fatal."

In der Welt (und in seinem Blog) ruft Thomas Schmid die Grünen auf, ihre Fundamente zu überprüfen: Das Nein zur Atomkraft und ihre Wurzeln in der Friedensbewegung, die "politisch vollkommen daneben" lag: "Sie forderte, oft mit antiamerikanischem Drall, einseitige Abrüstungsschritte des Westens. Wären diese erfolgt, hätten sich die Staaten Europas der Willkür der hochgerüsteten Sowjetunion ausgeliefert. Dass der prekäre Frieden des Kalten Krieges gewahrt wurde, war ein Erfolg der Nachrüstungspolitik Helmut Schmidts und von Ronald Reagans Beharren auf der antikommunistischen Wehrhaftigkeit. Während weite Teile der Friedensbewegung in der Sowjetunion keine Gefahr erkennen wollten. Ein wesentlicher Teil der Grünen setzte sich zwar klar vom (großen) moskaufreundlichen Teil der Friedensbewegung ab. Wollte aber die einfache Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen, dass die einseitige Abrüstung nur des Westens den Frieden nicht gesichert, sondern gefährdet hätte."

In der SZ antwortet Hilmar Klute dem Spiegel-Redakteur Tobias Rapp, der vor einigen Tagen bekannte, er habe in einem Brief an das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) seine Wehrdienstverweigerung zurückgezogen. (Unser Resümee). Klute schlägt ein freiwilliges soziales Jahr für Boomer vor, denn: "Einer Umfrage des Meinungsforschungs-Instituts Yougov zufolge hegen die meisten Deutschen kein besonderes Interesse daran, ihr Vaterland mit der Waffe zu verteidigen. Die meisten würden einfach versuchen, so weiterzuleben wie bisher (...), andere träfen die Entscheidung, aus Deutschland zu fliehen. (…) Das ist eben das Blöde an den Deutschen, dass ihnen nach 1945 die Freude am Kämpfen abhanden gekommen ist, weil sie beim Stichwort Kriegsteilnahme irgendwie immer daran erinnert werden, dass sie am großen Menschheitsverbrechen schuldig sind."

777 Millionen Euro sind für die geplante Erweiterung des Bundeskanzleramts veranschlagt, geplant ist unter anderem ein neuer Helikopterlandeplatz und ein Logistikzentrum, weiß Claudia Schwartz in der NZZ, die für die deutsche "Empörung" kein Verständnis hat: "Deutschland als die sich selber flach haltende Mittelmacht: Dieses Konzept geht nicht mehr auf. Die Deutschen wollen es nicht wahrhaben, dass sie eine Großmacht sind, aber wenn sie jetzt bauen müssen, um ihre Bürokraten unterzubringen, spricht das eine andere Sprache. Man hoffte ein bisschen, man könne unter Berliner Bedingungen die beschauliche Bonner Zwergenrepublik fortführen, nun lässt sich am Maßstab der Bauten ablesen, dass das eben nicht funktioniert. Das zu klein gewordene Kanzleramt hält den Deutschen den Spiegel vor."
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Medien

Im Tagesspiegel befürchtet Gregor Dotzauer mit Blick auf den von Frank Berberich, Herausgeber der Lettre International, angestrengten Rechtsstreit - er klagt gegen die staatliche Subventionierung der Zeitschrift Sinn und Form - einen "kulturpolitischen Orkan". Denn Berberich will gegen weitere subventionierte Kulturzeitschriften klagen: "Berberichs Motive sind … so verständlich wie widersprüchlich. Das Dossier, das er auf lettre.de unter dem Titel 'Staatspresse oder Pressefreiheit' zusammengestellt hat, intoniert den Konflikt allerdings, als würde es sich um einen Querdenker-Slogan handeln. Denn von einer 'Staatspresse', die sich niemand wünscht, kann bei den öffentlich subventionierten Kulturzeitschriften, um deren Schicksal es geht, keine Rede sein. So politisch sie im Einzelnen Akzente setzen mögen, nehmen sie doch grundsätzlich andere Aufgaben wahr als die systematisch berichterstattende, in die Breite von Politik, Wirtschaft, Sport und Feuilleton gehende Tages- und Wochenpresse, die sogenannte vierte Macht im Lande." Vor allem bleibt Dotzauer jedoch völlig unverständlich, was Berberich davon hätte, wenn es Sinn und Form nicht mehr gäbe.

Patricia Schlesinger klagt vor dem Landgericht Berlin auf Zahlung eines monatlichen Ruhegeldes von 18.384 Euro, vertraglich steht es ihr zu, schreibt Joachim Huber im Tagesspiegel. Künftig werde das Ruhegeld allerdings zur "Charakterfrage", meint er: "Sollte Katrin Vernau über die Interimszeit hinaus RBB-Intendantin bleiben, wird die von ihr vorgeschlagene Martina Zöllner zur Programmdirektorin gewählt, müssen mit beiden Verträge geschlossen werden. Mit Regelungen zum Ruhegeld oder ohne? Das haben die Führungskräfte wie auch der Verwaltungsrat des Rundfunk Berlin-Brandenburg in der Hand."
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