9punkt - Die Debattenrundschau

Wohl konnte sich niemand fühlen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.05.2023. In der FAZ geht der Historiker Andreas Kötzing  der Geschichte eines Fotos nach, das in Medien und Schulbüchern als Dokument des Reichstagsbrands galt - und in Wirklichkeit ein Standbild aus einem Defa-Film von 1955 ist. Karl-Markus Gauß erklärt in der SZ, warum Gedenken gerade in dem Moment wichtig wird, in dem es keine überlebenden Opfer mehr gibt. In der Berliner Zeitung rechtfertigt sich Verleger Holger Friedrich für seinen Besuch in der russischen Botschaft. Die FAZ gibt Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu in den türkischen Wahlen recht gute Chancen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.05.2023 finden Sie hier

Europa

In der Türkei konkurrieren nach dem Rückzug eines dritten Kandidaten nur noch Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kilicdaroglu um die Präsidentschaft. Die Chancen stehen gut, dass Erdogan am Sonntag verliert. Friederike Böge bilanziert seine zwanzigjährige Amtszeit, in der Erdogan anfangs sogar Hoffnungszeichen setzte. Aber nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013  und erst recht "nach dem Putschversuch von 2016 nahm Erdogans Herrschaftsstil zunehmend autokratische Züge an. Er verhängte den Ausnahmezustand, ließ Zehntausende festnehmen und mehr als 130.000 Staatsbedienstete entlassen, darunter nicht genehme Richter und Staatsanwälte. Er brachte mehr als 90 Prozent der Medien unter seine Kontrolle. 2018, inzwischen Präsident, führte er über ein Verfassungsreferendum das Präsidialsystem ein und entmachtete das Parlament."

Der Bundestag soll nicht nur verkleinert werden, die "Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit" schlägt auch vor, die Wahlperioden von vier auf fünf Jahre zu verlängern, so wie es in den meisten Landesparlamenten bereits der Fall ist. Daniel Deckers ist in der FAZ skeptisch: "Wenn etwa die Häufigkeit von Wahlkämpfen gegen eine vierjährige Legislaturperiode sprechen soll, dann wird umgekehrt ein Schuh daraus: Fundierte Gesetzgebung erfordert nach aller Erfahrung selten mehr als zwölf Monate. Die Bürger aber fünf Jahre warten zu lassen, ehe sie ihr Votum über die Leistung von Regierung und Opposition abgeben können, läuft auf eine Entpolitisierung der Öffentlichkeit wie des Lebens als Bürger hinaus."
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Medien

Es stellt sich immer wieder heraus: Interviews mit antidemokratischen Politikern, die von Fernsehsendern auch noch wie eine Staatsaktion inszeniert werden, haben keinen Sinn. CNN lud Donald Trump zu einem "Town Hall", einer Bürgerfragung ein, und dieser machte die Moderatorin Kaitlan Collins platt, berichtet unter anderem  Nina Rehfeld in der FAZ: "Collins hatte gegen das, was der einstige Trump-Berater Steve Bannon 'flood the zone with shit' nannte, keine Chance. Als sie mit Fragen zu den Regierungsdokumenten, die er mit in seine Privatresidenz nahm, hartnäckig blieb, nannte er sie eine 'nasty person'. Das Publikum johlte: ein Trump-Klassiker!"

Die Berliner Zeitung setzt ihre bizarre Berichterstattung über die Feiern zum "Tag des Sieges" in der russischen Botschaft fort. Herausgeber Michael Maier hatte ja zuerst berichtet (unser Resümee), gekommen waren außer Gerhard Schröder nur Politiker der AfD und Linkspartei. Und sein Verleger Holger Friedrich, der allerdings von Maier nicht erwähnt wurde. Maier resümiert heute AfD-internen Streit über die Veranstaltung. Und Holger Friedrich betont in einem Rechtfertigungsartikel, dass er nicht nur die russische, sondern auch andere Veranstaltungen zum Anlass besucht hatte. Zur Veranstaltung in der russischen Botschaft schreibt er: "Ein Freund, der in der Administration arbeitet, hatte mir angeboten mitzukommen. Ich sagte zu, aus Interesse, aber auch, weil ablehnende Vereinfachungen häufig genug das Gegenteil von dem bewirken, was gewollt ist. Zudem, weil der Tag eine aktuelle, aber auch diese historische Dimension hat. Wohl konnte sich niemand fühlen. Die russische Hymne war ergreifend. Dieser Moment der Besinnung wurde der Ehrung Überlebender gewidmet. Mit diesem Blick in die weite Vergangenheit verlief sich die Veranstaltung. Es wäre vielleicht die Möglichkeit gewesen, an so einem Tag in Berlin der Ukraine die Hand zu reichen, einen Prozess der Verständigung einzuleiten, auch über die sich immer weiter auftürmende Schuld Russlands. Aber das war leider kein Thema."

Im Freitag diskutieren Medienwissenschaftler Marcus Maurer und Welt-Journalist Tim Röhn, moderiert von Michael Angele über die Frage, ob die Medien während der Corona-Pandemie und in der Kritik an den Maßnahmen versagten. Ein klares Resümee lässt sich nicht ziehen. Maurer sagt: "In unserer Studie haben wir gesehen, dass Christian Drosten und später Karl Lauterbach die Debatte weitgehend bestimmt haben. Wir hatten in den Medien eine Fokussierung auf ein paar wenige Experten, Virologen, bei einem Thema, das auch andere Wissenschaftsdisziplinen betrifft." Röhn  hätte sich gern noch mehr Krawall gewünscht - also mehr Corona- oder Impfskeptiker in den Talkshows. "Es war auf jeden Fall ein Fehler, diese Leute nicht mit in die Debatten zu nehmen - denn ein großes Publikum hatten sie ja ohnehin... Die Stars der Alternativszene waren ja nun nicht nur Wissenschaftler, die von der Materie von Grund auf keine Ahnung haben. Klaus Stöhr etwa hat das Globale Influenzaprogramm der WHO geleitet. Schauen Sie, wie Lockdown-Fanatiker mit ihm umgegangen sind! Ja, man hätte mehr Wissenschaftler in die Debatten integrieren müssen, und zwar schon zu Beginn der Krise. Mal hätte man ihnen recht geben müssen, mal wären sie knallhart widerlegt worden. Aber der Diskurs wäre offener gewesen."
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Geschichte

Erst neulich wurde die Öffentlichkeit durch den Journalisten Uwe Soukup darauf aufmerksam gemacht, dass ein häufig verwendetes Foto des Reichstagsbrands in Wirklichkeit aus einem Defa-Film von 1955 stammt. Für den Film wurde ein verkleinertes Modell des Gebäudes in Brand gesetzt. Der Historiker Andreas Kötzing geht in der FAZ der Geschichte der missbräuchlichen Verwendung dieses Fotos in Medien, Dokumentationen und Schulbüchern nach. Seine Erklärung für die Beliebtheit des Fotos: Es ist so schön spektakulär. Aber es verfälscht die Geschichte: "Da die Defa den gesamten Reichstag in Flammen setzte, erscheint der Brand noch dramatischer, als er in Wirklichkeit war. Das Feuer am 27. Februar 1933 zerstörte zwar den gesamten Plenarsaal, der Rest des Gebäudes blieb davon aber weitestgehend unberührt. Flammen und Rauch traten nur aus der Kuppel hervor, nicht aus allen Fenstern des Reichstags. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass die Darstellung der Defa die Rezeption des historischen Ereignisses maßgeblich beeinflusst hat. Nicht selten liest man in Büchern oder Zeitungsartikeln über den Reichstagsbrand, der gesamte Reichstag habe in Flammen gestanden oder sei gar bis auf die Grundmauern niedergebrannt."

Einerseits gibt es bei den Veranstaltungen, die des Horrors des Zweiten Weltkriegs gedenken, kaum noch Überlebende. Andererseits gibt es immer mehr, meist imaginierte Opfergruppen, wie unlängst die Coronaleugner, die sich am liebsten mit verfolgten Juden gleichsetzen. Darum ist das Gedenken auch über den Tod der Zeitzeugen hinaus so wichtig, schreibt Karl-Markus Gauß in seiner SZ-Kolumne: "Die Selbstidentifikation der Heutigen als heldenmütige Opfer und aufopferungsvolle Helden zeugt von zweierlei: vom narzisstischen Wunsch, die eigenen, oft egoistisch verengten Interessen zu historischer Bedeutsamkeit aufzublähen, und von einer selbstzufriedenen Gleichgültigkeit, was den Faschismus und sein System der Verfolgung anbelangt - also von einem Desinteresse, in dem sich die Mitleidlosigkeit dem tatsächlichen und die Wehleidigkeit dem halluzinierten Leid gegenüber die Waage halten."
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Ideen

Die FR veranstaltet eine Artikelreihe zur Frage "Brauchen wir eine neue Aufklärung?" Das finden einige in dieser Frage offenbar als qualifiziert geltende Autoren wie Omri Bohm oder Susan Neiman. Aber die Philosophin Kathrin Witter ist heute nicht zufrieden mit deren Positionen. Selbst Susan Neiman etwa ist ihr nicht links genug: "Dabei fehlt es Neiman nicht an Beobachtungsgabe, sie sieht beispielsweise die Inkorporierung von Diversitätsidealen durch den Kapitalismus. Weil sie sich dessen Gesetzmäßigkeiten aber nicht zum Gegenstand macht, sieht sie als Gegner nur den Faschismus; im Hintergrund ihrer Argumentation steht so auch drohend Donald Trump. Damit begeht sie den gleichen Fehler, wie die Identitätspolitik: sie definiert sich defensiv über ihren Gegner."
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Politik

Israel ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, schreibt der ehemalige ARD-Korrespondent Richard C. Schneider im Tagesspiegel. Aber am 75. Geburtstag des Landes brechen auch Widersprüche auf, die schon von Beginn an angelegt waren: "Es war David Ben Gurion, der spätere erste Premier Israels, der den Ultraorthodoxen im Prinzip das Monopol auf religiöse Angelegenheiten im Land überließ. Eine Trennung von Staat und Synagoge gibt es bis heute nicht, der Einfluss der Frommen wächst stetig. Ein zweites Problem: Israel hat keine Verfassung, unter anderem weil die Orthodoxie stets darauf beharrte, das jüdische Volk hätte mit der Halacha, dem Religionsgesetz, de facto ja bereits eine."

Bei aller Kritik an den rechten beziehungsweise religiösen Parteien in Israel: "Die großen und beständigeren friedenspolitischen Durchbrüche gelangen in 75 Jahren Israel eher den Partikularisten als den Universalisten", schreibt Michael Wolfssohn in der Welt.

Inge Günther stellt in der FR die israelische Organisation Akevot vor, die mit Archivmaterial "Dinge zutage fördert, die sich schlecht mit der offiziellen Erzählung vertragen, wonach Israels Streitkräfte seit Staatsgründungszeiten die moralischsten der Welt sind". Auf palästinensischer Seite scheint es keine Ensprechung dazu zu geben: "Das palästinensische Wissen um die Nakba beruht wiederum hauptsächlich auf mündlicher Überlieferung."
Archiv: Politik
Stichwörter: Israel, Nakba, ARD