9punkt - Die Debattenrundschau

Er taucht, er reitet, er fliegt mit den Kranichen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.03.2014. Zwei Russen, Michail Ryklin in der Zeit und Wladimir Kaminer bei Facebook, schämen sich für ihren Präsidenten. Enzensberger muss sein Handy nicht wegschmeißen: Es gibt im Netz bereits europäische Alternativen zu amerikanischen Giganten, hält die Zeit fest. In der FAZ fordert Christian Lindner mit treuem Blick auf Martin Schulz, dass die EU Datenaustauschabkommen mit den Amerikanern aussetzt. Gehen deutsche Medien russischer Propaganda auf den Leim? Timothy Snyder ist jedenfalls empört über Artikel bei Spiegel Online. Und warum die Abendzeitung pleite geht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.03.2014 finden Sie hier

Europa

Nein, nicht alle Russen sind für die Besetzung der Krim, und nicht alle Russen sind schwulenfeindlich, schreibt Wladimir Kaminer in einem Verzweiflungsausbruch auf Facebook (Welt und taz machen den Beitrag publik). Er schildert die nihilistische Untertanenmentalität der Bevölkerung mit samt ihrem scheindemokratisch gewählten Präsidenten: "Ein kleiner, in einer sowjetischen KGB-Schule ausgebildeter Mann ohne Frau und ohne Freunde, von der Welt abgeschottet, von Minderwertigkeitskomplexen geplagt, regiert ein riesengroßes Land, in dem die Menschen jede Hoffnung längst aufgegeben haben, jemals ihre bürgerlichen Rechte zu erlangen und selbst ihren Präsidenten wählen zu können."

Im Gespräch mit Peter Kümmel in der Zeit sieht der russische Philosoph Michail Ryklin den Präsidenten Wladimir Putin in Zugzwang, da er sich gegenüber dem "verweichlichten, liberalen "Homo-Europa"" jahrelang als starker Mann inszeniert hat: "Europa gilt als das Paradies der Schwachen und Schwulen - es ist schwer zu glauben, dass ein einst so gebildetes Volk wie das russische so weit kommen konnte. Putin ist ein physisch absolut fitter Mann; er taucht, er reitet, er fliegt mit den Kranichen - ein Superman. Und dann gibt er sich diese Blöße in der armen Ukraine. Sein Macho-Image steht auf dem Spiel. Er erträgt nicht, als schwacher Mann dazustehen." (Im Freitag bespricht Ekkehard Knörer Ryklins "Buch über Anna".)

Ebenfalls in der Zeit beklagt der Schriftsteller Eugen Ruge die Selbstherrlichkeit des Westens, der bei den Russen als "Invasion" anprangere, was für ihn selbst gang und gäbe sei: die Wahrung nationaler Interessen.

Auch der Völkerrechtler Michael Bothe hat in der SZ viel Verständnis für die russische Argumentation bei der Besetzung der Krim, die er als eine Retourkutsche für das westliche Eingreifen im Kosovo begreift: "Politisch ging und geht es in beiden Fällen um die Stabilität in einem Bereich, den jede Seite als eigenen Einflussbereich beansprucht." Dass es im Kosovo auch um den Schutz der Bevölkerung ging, ist für Bode sozusagen die bessere Ausrede.
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Medien

Timothy Snyder hat auf Facebook einen empörten Leserbrief an Spiegel Online publiziert, um gegen Uwe Klußmanns Bericht unter dem Titel "Nationalisten stiften Tataren zu Anschlägen an" zu protestieren: "It is simply not journalism to rely upon unnamed Russian hackers as a source for the highly provocative claim that Ukrainian nationalists are encouraging Ukrainian Muslims to revolt. Such claims are made in Russian propaganda every day. They are part of a campaign to present the Russian military occupation as a necessary response to fascism and terrorism in Ukraine. The Russian attack upon Ukraine was entirely unprovoked."

Berichten deutsche Online-Medien oberflächlich oder gar tendenziös über die Ukraine-Krise? Boris Reitschuster von Ostpol hat fast den Eindruck: "Der Newsticker-Journalismus vieler Internet-Seiten mit seinen Nachrichten-Häppchen wird der Komplexität der Ereignisse nicht gerecht. Schon die Berichterstattung vom Maidan war zuweilen erschreckend eindimensional. In der gedruckten Presse und im Fernsehen dagegen wird ein überwiegend differenziertes Bild der Krim-Krise gezeichnet."

Weitere Artikel: Christian Mayer schreibt in der SZ eine Art Nachruf auf die zwar nicht tote, aber insolvente Münchner Abendzeitung: "Es wird, falls der AZ irgendwann tatsächlich das letzte Stündlein schlägt, auch eine große Schaumwein-Ära zu Ende gehen. Keine Ausgabe ohne Champagner-Fest, ohne die Rituale der Bussi-Gesellschaft, ohne Perlen vor Publikum." Auf Seite 3 der SZ schreiben Claudia Fromme und Andrian Kreye zum Thema: "Wer wirklich begreifen will, welche Münchner Ära mit der Insolvenz der Abendzeitung einen Schlusspunkt bekommt, der muss in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der Stadt gelebt haben." Auf der Medienseite der SZ erklärt Verleger Johannes Friedmann, warum er für die defizitäre Zeitung kein Geld mehr zur Verfügung stellt: Da spielt auch die mit der FAZ verschwisterte Societätsdruckerei eine Rolle, mit deren süddeutschem Ableger die Abendzeitung laut Friedmann einen höchst unvorteilhaften Vertrag hatte.
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Überwachung

Die FDP-Hoffnung Christian Lindner tritt in der FAZ zu Schirrmachers Appell an und stimmt in Martin Schulz' Klage über den drohenden digitalen Totalitarismus ein ("Allerdings kann man Martin Schulz nur wünschen, dass die Distanz zwischen seinen Entscheidungen als Parlamentarier und seiner wachen Problemsensibilität zukünftig geringer wird"). Die Amerikaner, konstatiert er, halten das Machbare für das zu Tuende (über die Briten spricht er nicht): "Das ist keine Sachfrage, die Frank-Walter Steinmeier im Cyber-Dialog zerkauen kann - es ist eine Machtfrage. Darauf haben sich Deutschland und Europa einzustellen." Lindner unterstützt die Forderung, Datenaustauschabkommen mit den USA vorerst auszusetzen.
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Internet

Die Verbraucher sind viel weniger abhängig von amerikanischen Kommunikatonsgiganten wie Apple, Google und Facebook als sie glauben, stellt Götz Hamann in der Zeit fest und widerspricht damit Hans Magnus Enzensbergers Aufruf zum Verzicht auf Internet und Mobiltelefonie. Seit dem Verkauf von WhatsApp an Facebook wechselten die Nutzer beispielsweise in Scharen zur Schweizer Alternative Threema: "Denn die bietet eine vollständige Datenverschlüsselung. Also Privatsphäre. Was wiederum die Tatsache ins Gedächtnis ruft, dass es dort, wo europäische Firmen führend sind, auch die geringsten Schwierigkeiten gibt, europäische Vorstellungen von Datenschutz durchzusetzen."
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Politik

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak beschreibt in der Zeit das Klima aus Misstrauen, Paranoia und Verschwörungstheorien, das die Regierungskrise in der Türkei ausgelöst hat: "Wenn Erdoğan spricht, wendet er sich an unser Unterbewusstsein. Er erinnert uns an die tief verwurzelte Wahnvorstellung, die Türken hätten keine Freunde. Er weckt unsere Urängste und unseren Fremdenhass. Ohne es zu merken, werden Millionen von uns wieder zu den Kindern, die auf dem Schulhof darauf warten, dass unser Direktor, unser Baba, uns erklärt, welch böse Absichten die Ausländer hegen und dass wir zusammenstehen müssen, um uns gegen den Rest der Welt zu verteidigen."
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Ideen

Im Gespräch mit Iris Radisch in der Zeit beschreibt Hermann Heidegger, der 93-jährige Sohn des Philosophen Martin Heidegger, seinen Vater als einen eher weltfremden und politisch kaum interessierten Mann: "Er war handwerklich durchaus begabt, er konnte sägen, Holz spalten und Vieh hüten. Die Geldwirtschaft war ihm vollkommen fremd. Er hatte keine Ahnung, wie viel er verdient. Die Mutter hat ihm Taschengeld gegeben, damit er nach der Vorlesung noch ein Viertele trinken konnte... Als Hitler am 29. Juli 1932 hier in Freiburg im Möslestadion seine Wahlrede hielt, marschierte meine Mutter mit ihren beiden Söhnen dorthin. Der Vater kam nicht mit."
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