9punkt - Die Debattenrundschau

Luhmann würde Hören und Sehen vergehen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2014. Bernard-Henri Lévy und Pierre Mertens prangern  in La Règle du Jeu und Le Monde die jüngsten antisemitischen Morde in Europa an. Thierry Chervel erklärt im Perlentaucher, warum es ohne Medien wie Krautreporter um die Zukunft des Journalismus schlecht steht. Die NZZ staunt: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin bröckelt. Die Verantwortlichen schweigen. So wie die Chinesen zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, konstatiert die FAZ. Google muss sich jetzt auch mit Löschanträgen der Musikindustrie rumschlagen, meldet der Guardian.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.06.2014 finden Sie hier

Europa

Zum dritten Mal innerhalb weniger Jahre wurden in Frankreich, dann in Belgien Menschen umgebracht, einzig weil sie Juden sind. Bernard-Henri Lévy erinnert in seinem Blog an den Fall Ilan Halimis, der in der Pariser Banlieue zu Tode gequält wurde, an die Morde Mohammed Merahs, der vor einer jüdischen Schule in Toulouse um sich schoss, und jetzt an den Fall Mehdi Nemmouches, eines jungen Franzosen aus Roubaix, der die Morde im Jüdischen Museum von Brüssel verübte. "Haben unsere Gesellschaften die Wucht des Blitzes begriffen, der über ihren Köpfen niederging? Haben sie die Tragweite jenes Ereignisses begriffen, dessen einziger Sinn darin besteht, dass es sich nicht wiederholen darf?" Und Lévy macht auf die Verbindung zu Syrien aufmerksam, "das durch die Nicht-Intervention der Nationen wie vorausgesagt zur Heimstätte der Dschihadisten wurde" und das er in einen Kontext stellt "mit dem Klima der politischen, sozialen, moralischen Auflösung in Europa".

Der belgische Autor Pierre Mertens spießt in Le Monde Reaktionen auf das Brüssler Verbrechen auf, die Wörter wie "unsägliches Verbrechen" oder "unausprechliches Grauen" enthielten. Er findet nämlich, dass es durchaus ein Wort gibt: "Ein Wort hätte ausgesprochen werden müssen, gewiss, es ist nicht angenehm zu hören, denn es spricht von Sorglosigkeit und Voraussehbarkeit. Nichts war so wenig unerwartet... Spielen wir kein Ratespiel. Der Antisemitismus, die neue Judenfeindlichkeit breitet sich überall in Europa aus: Warum sollte Belgien davon verschont bleiben?"
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Medien

Thierry Chervel erklärt im Perlentaucher, warum er die Krautreporter unterstützt, die das Experiment wagen, sich künftig von ihren Lesern finanzieren zu lassen (sofern sie 15.000 Abonnenten finden). Vier Gründe nennt er dafür:
"1. Das Internet ist die Öffentlichkeit
2. Es gibt keine Ökonomie der Information
3. Es geht um die Zukunft der Öffentlichkeit, nicht des Journalismus
4. Wir müssen über die Öffentlich-Rechtlichen reden."

Thomas Knüwer mahnte die Krautreporter in Indiskretion Ehrensache allerdings schon am Freitag: " Ohne die Unterstützung der durchschnittlich Netz-Affinen wird es Krautreporter nicht geben - und diese Menschen müssen begeistert werden."
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Kulturpolitik

In der NZZ wundert sich Sieglinde Geisel über das anhaltende Schweigen und Herumdrucksen aller Beteiligten angesichts der Schäden am Berliner Holocaust-Mahnmal: Die Stiftung will sich nicht äußern, Architekt Eisenman lehnt jede Verantwortung ab. Und sie sind nicht die einzigen: "Kaum ein Bauwerk in Deutschland ist politisch so aufgeladen wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, davon kündet das Schweigen: Die Schäden liegen offen zutage, aber keiner mag darüber reden. Das Gutachten, das seit Januar 2012 vorliegt, ist unter Verschluss, der Gutachter Werner Brameshuber gibt angesichts des laufenden Verfahrens keine Auskunft mehr über seine Erkenntnisse. Die Firma Geithner-Bau, die für die Betonmischung der Stelen verantwortlich ist und nun eigene Untersuchungen durchführt, lehnt Gesprächsanfragen ab."

Außerdem: Der Stadtplaner János Brenner berichtet in der NZZ vom geplanten Bau eines Museumsquartiers in Budapest in einem alten Park und fordert zu einem Boykott der Wettbewerbe auf.
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Stichwörter: Budapest, Holocaust-Mahnmal

Gesellschaft

"Das Andere, Neue, Unbekannte wird so instinktiv wie inbrünstig abgelehnt", findet Malte Lehming im Tagesspiegel. Das Volksbegehren zum Tempelhofer Feld ist da nur ein Beispiel. "Es soll sich nichts ändern. Alles soll bleiben, wie es ist, oder in seinen vorherigen Zustand zurückversetzt werden. Dieses Grundgefühl charakterisiert unsere Zeit."

Und ein Tip von Joseph von Westphalen aus seiner (hoffentlich nicht) letzten Kolumne in der Abendzeitung: "Museen machen mehr Spaß, wenn man nach etwas Bestimmtem sucht. Ist man zum Beispiel in eine Zahnarzthelferin verliebt, kann man nach gar nicht seltenen Bildern fahnden, auf denen mit genüsslicher Boshaftigkeit das Zahnziehen dargestellt wird. Foto oder Postkarte von dem Motiv sind ein ideales Mitbringsel beim nächsten Zahnarzttermin."

Weitere Artikel: Georg Renöckl spaziert für die NZZ durch den Wiener Karl-Marx-Hof, in dem heute vorwiegend FPÖ-Wähler leben. Angesichts des Streits von Hachette und Amazon fordert die amerikanische Historikerin Amanda Foreman in der FAZ die Zerschlagung des Internetbuchhändlers: "Amazon muss durch staatliche Regulierung in seine Bestandteile zerlegt werden, wie man es einst mit den Monopolbanken getan hat."
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Geschichte

Dies wunderbar symbolische Foto vom Platz des Himmlischen Friedens haben wir unter CC-Lizenz bei Flickr gefunden. Dimitry B. hat es im letzten Jahr aufgenommen. Der New Yorker bringt unterdes aus Anlass des 25. Jahrestags des Massakers auf dem Platz eine Strecke mit historischen Fotos.



25 Jahre nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat die chinesische Politik es geschafft, fast jede Erinnerung daran auszulöschen. Mark Siemons beschreibt in der FAZ, mit welch ausgeklügelten Methoden chinesische Politiker "Mainstream"-Denken herstellen: Einmal, indem sie direkt gegen Künstler, Blogger oder Bürgerrechtler vorgeht. "Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Das chinesische System stellt sich den Ausdifferenzierungen der modernen Gesellschaft nicht nur entgegen, es macht sich diese zum Teil auch zunutze und vermischt sie auf eine schwer zu entwirrende Weise mit den autoritären Strukturen der Partei. Luhmann würde Hören und Sehen vergehen, wenn er mitbekäme, mit welcher Perfektion die gegenseitige Abgrenzung der Teilöffentlichkeiten mit ihren Spielräumen und Regeln in China heute reguliert wird."

In der SZ erzählt der chinesische Journalist Chang Ping, wie er vor fünf Jahren, beim 20. Jahrestag des Massakers, an der Universität in Honkgong mit Studenten über die damaligen Ereignisse diskutierte. "Die meisten Studenten aus der Volksrepublik, so dachte ich, müssten doch verärgert darüber sein, dass ihnen jahrelang Fakten über das Geschehen vorenthalten wurden. Jetzt aber, nachdem sie zum ersten Mal in einer Gesellschaft mit Informationsfreiheit lebten und das volle Bild zu Gesicht bekamen, würden sie anders denken. Doch das Gegenteil war der Fall. In der Volksrepublik China gibt es mehr und mehr Menschen, die glauben, dass es richtig gewesen sei, die 4.-Juni-Bewegung zu unterdrücken und somit die Ein-Parteien-Diktatur in China zu erhalten, da sonst die Wirtschaft in den vergangenen Jahren nicht so atemberaubend schnell gewachsen wäre."

In der taz berichtet Sonja Vogel von einer Belgrader Veranstaltung über die Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit dabei: Der Historiker Christopher Clark, dessen Buch "Schlafwandler" wenig freundlich mit den Serben umgeht. "Von Clarks zurückhaltenden Ausführungen fühlte sich Dusan Batakovic provoziert. Der Vorsitzende des Belgrader Instituts für Balkanstudien der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, einer nationalen Kaderschmiede, nahm die oft vergessene Ostfront in den Fokus. Der Krieg wurde schließlich an der Saloniki-Front entschieden, und Serbien hatte die meisten Opfer im Ersten Weltkrieg zu verzeichnen: ein Viertel der Bevölkerung starb. ... Den Attentäter Gavrilo Princip nennt Batakovic einen "Nelson Mandela mit falschen Mitteln". Für ihn und die Gruppe "Junges Bosnien" seien die Österreicher barbarische Kolonialherren gewesen - eine Lesart, die im heutigen Serbien gängig ist."
Archiv: Geschichte

Internet

(Via Neunetz) Nun, da Google scheinbar ohne weitere Umstände die Anfragen von Personen auf Löschung von Suchanträgen bearbeitet, kommt gleich ein Rattenschwanz an Forderungen. Der Guardian zitiert Lobbyisten der Musikindustrie, die Löschungen von Links fordern, die zu Downloadseiten führen und zitiert einen Funktionär: "Google sagt, dass es seinen Algoritmus nicht verändern will. Aber der Algoritmus ist kein Naturphänomen. Er ist von Google-Ingenieuren geschrieben, sie entscheiden, wie er arbeitet und ob er ethisch und verantwortlich funktioniert oder nicht." Google sagt, es nehme bereits Seiten mit schwarzen Downloads aus seinen Suchergebnissen.
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Überwachung

Online ist jetzt die Zeit-Reportage aus der jüngsten Ausgabe zur Überwachung in Europa. Die Autoren stellen unter anderem eine deutsche Firma vor, die Überwachungskameras entwickelt, die anhand bestimmter Bewegungsmuster eigenständig verdächtige Menschen erkennen soll. Ihre Forschung ist Teil des 15 Millionen Euro teuren EU-Projekts Indect: "In dem EU-Projekt wird auch an einem noch viel weitreichenderen Überwachungssystem gearbeitet, das Kamerabilder mit Informationen verknüpft, die über eine verdächtige Person im Internet und in Polizeidatenbanken zu finden sind. Fast alle europäischen Polizeibehörden haben bereits ihr Interesse bekundet. Die Wissenschaftsethikerin Regina Ammicht Quinn von der Uni Tübingen sagt: "Indect ist der Albtraum jeder freien Gesellschaft." Vor allem aber ist Indect nur ein kleiner Teil einer riesigen Überwachungsindustrie, an der die EU seit Jahren abseits der Öffentlichkeit forschen lässt. Mehr als 1,4 Milliarden Euro wurden investiert, weitere zwei Milliarden sind bereits bewilligt."

Weitere Artikel: Auf der Medienseite der FAZ ist ein Auszug aus dem Interview abgedruckt, das Thilo Jung für seinen Youtubekanal "jung und naiv" mit Glenn Greenwald führte. Die Snowden-Affäre hält uns inzwischen seit genau einem Jahr in Atem. Christian Stöcker hält bei Spiegel Online Rückschau: "Machtloser Held, schamlose Mächtige... Für Journalisten in aller Welt... war das erste Snowden-Jahr deshalb nicht zuletzt ein frustrierendes: Selten hatten Enthüllungen von derart globalem, historischem Ausmaß so wenige konkrete Konsequenzen."
Archiv: Überwachung