9punkt - Die Debattenrundschau

Beten, Töten, Beten, Töten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2014. In der FR spricht Gerd Koenen über die Psychologie des Terrorismus und die neue Qualität der IS-Miliz. In Frankreich graut es dem Premier und den Zeitungen vor dem Polemiker Eric Zemmour, der das Vichy-Régime verteidigt - und damit Erfolg hat. In deutschen Zeitungen herrscht große Empörung über die Idee des "Social Freezing". In der SZ spricht der Hongkonger Kulturtheoretiker Oscar Ho über die Proteste seiner Studenten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.10.2014 finden Sie hier

Ideen

Arno Widmann unterhält sich mit Gerd Koenen über die Psychologie des Terrorismus von RAF bis IS, der eine neue Qualität für ihn darstellt: "Oben kreisen die Drohnen und Flugzeuge der Amerikaner, unten sind die jungen Männer mit Bombengürteln oder ganzen Autos voller Sprengstoff als "Lenkwaffen" unterwegs. Todesbereitschaft gegen Hochtechnologie. Der Islamismus als totale Lebenspraxis kommt dem natürlich entgegen. Als Ritus kann das etwas Narkotisierendes haben: Beten, Töten, Beten, Töten - eine Trance des Kampfs als innerem Erlebnis, gegen das Jüngers "Stahlgewitter" ziemlich fremdbestimmt wirken."
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Europa

Nun hat sich der französische Premier Manuel Valls erstmals zu einem recht beunruhigenden Medienphänomen im Land geäußert, den großen Erfolg des Publizisten Eric Zemmour, der behauptet, dass nicht alles schlecht gewesen sei am Vichy-Régime. Valls" Worte waren deutlich: "Dass man es heute als ein normales Argument ansehen kann, dass Vichy Juden gerettet hätte, zeigt sehr gut, dass wir hier einen größeren Kampf zu kämpfen haben." Die Huffingtonpost.fr erläutert: "Eric Zemmour erzielt zur Zeit einen beträchtlichen Erfolg mit seinem Buch "Le suicide français". Der Journalist und Polemiker, der sich selbst als Jude und Berber definiert (er ist algerischen Ursprungs), widmet dem Vichy-Régime sieben Seiten und sagt, dass es nicht völlig verdammenswert sei, da es erlaubt habe, Juden in Frankreich zu retten, "denn Pétain und Laval antworteten auf den deutschen Druck mit der Strategie, ausländische Juden zu opfern, um die französischen Juden zu retten"."

In Le Monde interviewt Nicolas Truong den Historiker Jacques Sémelin zum Thema, der Zemmours Thesen als "historischen Nonsens" einstuft. "Zemmour stellt dar, das 75 Prozent aller Juden in Frankreich überlebt haben und dass 90 Prozent aller französischen Juden verschont blieben. Das ist ein historisches Faktum. Aber seine Interpretation ist schändlich und er instrumentalisiert die Zahlen zu ideologischen Zwecken." Dass in Frankreich mehr Juden gerettet wurden als etwa in den Niederlanden erklärt Sémelin "zunächst einmal mit geografischen Gründen. Frankreich ist größer als die Niederlande oder Belgien. Es hatte eine "Freie Zone" und Grenzen mit Ländern, in die man fliehen konnte." Truong fragt in einem Kommentar: "Was ist mit dem Frankreich Jean Moulins geschehen, dass ein Buch, das den Maréchal Pétain rehabilitieren will, hier triumphiert?"
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Überwachung

Constanze Kurz fragt in ihrer FAZ-Kolumne zum NSA-Untersuchungsausschuss: "War den Parlamentariern klar, in welches Wespennest sie stechen? Seit der vergangenen Woche haben sie es schriftlich, denn die Bundesregierung machte den Mitgliedern mit dem Holzhammer klar, dass ihr an einer Aufklärung der skandalösen Machenschaften nicht gelegen ist und sie auch vor einer Einschüchterung der Abgeordneten mit Hilfe des Strafrechts nicht zurückschreckt."
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Politik

In der SZ spricht der Kulturtheoretiker und Hochschullehrer Oscar Ho über die Proteste in Honkong und den Idealismus der Jugend: "Ich habe auch Studenten vom Festland in meinen Kursen sitzen. Deren häufigste Reaktion auf die Bewegung hier ist: "Die Regierung wird sich ohnehin keinen Millimeter bewegen. Also warum sollte man sich die Mühe machen?" Das ist eine Kultur der totalen Ohnmacht. Natürlich wissen meine Hongkonger Studenten auch: Es ist unmöglich, was wir da wollen, die freien Wahlen 2017. Es müsste schon ein Wunder geschehen. Und dennoch sind sich alle einig: Wir müssen da draußen stehen!"

In der SZ berichtet Tim Neshitov, dass Putin per Erlass Maßnahmen zur "Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit" angekündigt hat, mit denen die Minderheiten auf der Krim für ihre Deportation entschädigt werden sollen.
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Geschichte



(Jeremy Carvers Foto von "Stolpersteinen " in Frankfurt wurde unter CC-Lizenz auf Flickr publiziert.)

Petra Schellen berichtet in der taz von zunehmendem Unbehagen an den Projekt Stolpersteinen des Kölner Künstlers Gunter Demmig, der bei Opfern der NS-Justiz den Grund der Verurteilung einfach nur in Anführungszeichen festgehalten hat: ""Gewohnheitsverbrecherin" stand also auf dem Hamburger Stein für Erna Lieske. "Als ich das sah, war ich total geschockt", sagt Enkelin Liane. "Wie kann man ausgerechnet auf einem Gedenkstein die Sprache der Täter verwenden?" Und die Diffamierung der Nazis fortsetzen, in die sich die Enkelin plötzlich mit hineingesogen fühlte." Bei anderen Verfolgten steht die Brandmarkung "Rassenschande", "Volksschädling" oder "Plünderung". In der FAZ berichtet Patrick Bahners zum Thema.

Volker Breidecker erinnert in der SZ an die Gründung der Universität Frankfurt vor 100 Jahren, die sich Georg Simmel noch als Ort höherer Studien ohne elementaren Unterricht und praktische Zwecke erträumt hatte.
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Medien

Die neue Wochenendausgabe der SZ, die nun dicker und bunter ist und gleichzeitig mehr Weißraum hat und darum bis Sonntag in den Kiosken liegen bleibt, inspiriert Marc Reichwein in der Welt zu wehmütigen Abschiedsgedanken: "Das Wochenende wird zur neuen Kampfzone der gedruckten Konkurrenz der Tages-, Wochen-, Sonntagszeitungs- und Magazinleser untereinander. Die Pflege der eigenen Marke wird wichtiger. Es war einmal die Zeitung - in ihrer klassischen Ausprägung."
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Gesellschaft

Richtig verärgert kommentiert Harald Martenstein im Tagesspiegel das Social Freezing: "Es geht bei so etwas nicht um "Karriere". Etwas, das man "Karriere" nennen könnte, gelingt naturgemäß immer nur einer Minderheit des Personals. Schauen Sie sich einfach mal um im Büro. Sitzen neben, vor und hinter Ihnen, an all den anderen Computern, etwa lauter Chefs? Es geht um Arbeit. Die Frauen sollen, in den energiereichen Jahrzehnten zwischen dem 20. und dem 40. Geburtstag, ihre Energie vollständig der Firma zur Verfügung stellen. Das, was nach 20 Jahren branchentypischer 60- Stunden-Woche von den Frauen noch übrig ist, darf die Kinder haben."

In der FR befindet Christian Schlüter, dass mit dem Social Freezing Emanzipation zur Privatsache "einkommensstarker Selbstverwirklicher" geschrumpft ist: "Das Politische wird ersetzt durch einen naiven Szientismus, das heißt eine Technologie- und Wissenschaftsgläubigkeit."

Eine Frau, deren Gesicht verschleiert war, ist gebeten worden, ihren Gesichtsschleier abzunehmen oder die Pariser Oper zu verlassen, worauf sie sich mit Ihrem Mann erhob und ging, berichtet Libération. Ein solcher Vorfall hat sich zum ersten Mal in der Pariser Oper ereignet. Das Paar kam aus den Golfstaaten und kannte das französische Gesetz nicht, das es verbietet, sich an öffentlichen Orten zu maskieren. Der stellvertretende Chef der Oper sagt in Libération dazu: "Es ist nie sehr angenehm, jemand dazu aufzufordern, den Saal zu verlassen, wo wir im Prinzip eine Politik der Offenheit und des Verständnisses pflegen. Hier gab es aber eine Unkenntnis des Gesetzes, und die Frau musste ihm entweder entsprechen oder gehen."

Oliver Tolmein spricht sich im Aufmacher des FAZ-Feuilletons gegen die Idee eines von Ärzten assistierten Suizids aus: "Bedenklich erscheinen die Auswirkungen auf das Verhältnis zu Tod und Sterben, die so, als individuelle Ereignisse, jeder Besonderheit entkleidet werden und zusehends als steuerbar und kontrollierbar erscheinen."
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