9punkt - Die Debattenrundschau

Komplett entdiabolisiert

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.03.2015. Slate.fr erzählt, wie schwer es für rückkehrwillige Dschihadisten in Syrien und Irak ist, tatsächlich zu brechen und zurückzukommen. Auf starke-meinungen.de erklärt Alan Posener, warum er trotz Pascal Bruckner am Begriff der "Islamophobie" festhält. Und sonst heideggert es sehr kräftig heute: Bei Peter Sloterdijk gar auf französisch. Die FAZ verabscheut Heideggers Schwarzen Hefte und Markus Gabriel in der SZ die Uni Freiburg, die mit Heideggers Lehrstuhl kippelt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.03.2015 finden Sie hier

Politik

Julie Hamaïde erzählt in Slate.fr, wie schwer es für rückkehrwillige Dschihadisten in Syrien und Irak ist, tatsächlich mit dem IS zu brechen und zurückzukommen. Zum Beispiel Nadia, die längst von der Gewalt und Barbarei des Islamischen Staats abgestoßen ist: "Fast ein Jahr nach ihren ersten Hilferufen, ist Nadia immer noch in Syrien und will ihren Alptraum immer noch beenden. Nach monatelangen Kommunikationen mit ihrer Familie, entfernt sie sich immer mehr. Sie ist bedroht, lebt in einer Situation, für die es keinen Ausweg zu geben scheint. Auch wenn der Weg nach Syrien voller Hindernisse ist - die Rückkehr nach Frankreich ist noch schlimmer und noch gefährlicher. Die Financial Times hat jüngst berichtet, dass der Islamische Staat im Dezember hundert "Deserteure" hingerichtet haben soll - öffentliche Hinrichtungen, um Skeptiker abzuschrecken."

Stefanie Schoene liest für den Freitag einige Neuerscheinungen zum Thema Salafismus und macht darauf aufmerksam, dass viele der Autoren aus Sicherheitsbehörden stammen: "2002 erhielt das Bundesinnenministerium aus dem Antiterrorpaket 350 Millionen Euro für die zusätzliche Bekämpfung des "religiösen Extremismus". Damit stieg die Nachfrage nach Islamexperten. Allein der bayerische Verfassungsschutz (VfS) suchte für 50 neue Stellen gezielt nach Islamwissenschaftlern, ebenso wie Berlin, Brandenburg, Hessen, Hamburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt."

In der SZ konstatiert der Sinologe Sebastian Heilmann, dass Chinas KP unter Xi Jingping nach innen und außen einen deutlich rigideren Kurs eingeschlagen hat: "In Chinas Politik steht heute statt der "Befreiung des Denkens" die Bekämpfung "westlicher Werte" im Medien- und Bildungssystem im Vordergrund. Die ideologische Indoktrinierung hat sich insbesondere in Polizei und Armee drastisch verstärkt."

Weiteres in Politik: Herfried Münkler schreibt in der Welt, dass Deutschland als Hegemon von Europa nur aufgrund seiner Beschädigung durch die Geschichte akzeptiert werde.
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Ideen

Alan Posener setzt sich auf starke-meinungen.de ausführlich mit Pascal Bruckners Artikel "Die vertauschten Opfer" im Perlentaucher auseinander und verteidigt den Begriff der "Islamophobie": "Man wird in einer freien Gesellschaft nicht als Kommunist oder Nationalsozialist geboren; wohl aber, wenn die Eltern gläubige oder auch nur traditionelle Anhänger einer Religion sind, als Christ, Jude, Moslem, Hindu oder Atheist. Denn die Kinder können nicht beeinflussen, was ihnen erzählt oder vorenthalten wird... Und deshalb ist die Islamophobie - wenn sie denn unterstellt, dass jeder Moslem für jedes im Namen des Islam begangene Verbrechen, für jedes dumme Koran-Wort oder für die unterstellte Rückständigkeit der islamischen Kultur sozusagen als Mitglied des Kollektivs auch mit haftet, eine neue Form des Rassismus."

Und sonst heideggert es kräftig heute in den Feuilletons. Zunächst mal ein längerer Vortrag über Heidegger von Peter Sloterdijk für alle Spezialistinnen unter unseren Lesern, die Sloterdijk (ab und zu mal von Werbung unterbrochen) auf französisch lauschen mögen.


Colloque «Heidegger et "les juifs"» - Peter... von laregledujeu

In der FAZ bespricht Jürgen Kaube einen Band von Heideggers "Schwarzen Heften" und macht aus seinem Abscheu keinen Hehl: "Eine Verfolgung von Juden, die sich moderner Technik, Bürokratie und biologistischer Argumente bedient, erscheint ihm also, weil für ihn Judentum und Moderne Komplizen sind, als eine Selbstvernichtung wahlweise der Technik oder des "Jüdischen". Dass es Männer, Frauen, Kinder waren und nicht Wesenheiten oder Repräsentanten von Modernität, die ins Gas geschickt wurden, erreicht den durch Denken offenbar erkalteten Denker so wenig wie der Gedanke, dass die Entfaltung seines Syllogismus ihn zu dem aberwitzigen Urteil "Himmler war wesenhaft jüdisch" zwänge."

Und in der SZ attackiert der Philosoph Markus Gabriel scharf die Pläne, den Freiburger Lehrstuhl Heideggers und Husserls abzuschaffen - zugunsten einer Juniorprofessur für Logik und sprachanalytische Philosophie: "Freiburg droht, in einem suizidalen, durch Machenschaften und provinzielle Universitätskabale gesteuerten Akt, die Selbstabschaffung eben der Philosophie, mit der es international sichtbar wurde. Als Grund wird vorgeschoben: Heidegger sei wegen seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus eine zu kontroverse Figur, und für die Husserl-Forschung brauche man keinen Lehrstuhl. An Heidegger hängt aber mehr als seine Verstrickungen."
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Kulturmarkt

Franz Haas fürchtet in der NZZ, dass sich Silvio Berlusconi ernsthaft Hoffnung machen kann, seinem Medienimperium nun auch die Verlagsgruppe RCS einzuverleiben (nach Mondadori, Einaudi, Adelphi und Bompiani): "Sollten die jetzt geplanten Eroberungen - des RCS-Verlags und der Rai-Antennen - gelingen, könnte das im grellen Licht der politischen Bühne auch wie ein Trostpreis für Berlusconi aussehen, den ihm die Regierung von Matteo Renzi zugesteht, um ihn vielleicht noch ein wenig bei Laune zu halten. Renzi hatte bekanntlich unter der Hand mit Berlusconi paktiert, weil er fallweise dessen Stimmen im Parlament brauchte. Dann brüskierte er ihn durch die Wahl des expliziten Berlusconi-Gegners Sergio Mattarella zum Staatspräsidenten. Da Renzis prekäre Situation aber anhält, könnte er die Unterstützung des Medienhais noch brauchen."
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Europa

Erich Rathfelder wirft in der taz einen Blick auf die orthodoxe Kirche in der Ukraine, die sich - unter anderem - in ein Kiewer und ein Moskauer Patriarchat aufteilt und damit auch der Spaltung des Landes höheren Weihen verleihen möchte: "Noch will man in Moskau Rücksicht auf die verbündete Bruderkirche in der Ukraine nehmen, die vor weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen warnt. Doch die Töne werden schärfer. Kyrill sieht jetzt russische Minderheiten außerhalb Russlands als Teil seiner Kirche an. Der Patriarch Filaret der orthodoxen Kirche im Kiewer Patriarchat dagegen bezeichnete den russischen Präsidenten als "Lügner und Mörder", Putin sei "vom Satan erfasst"."
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Geschichte

Micha Brumlik war in Augsburg und fragt sich in seiner taz-Kolumne, warum sich der frühneuzeitliche Antikapitalismus eigentlich nur gegen die Juden und nicht gegen die Fugger richtete. Auch daran war Luther schuld: "1518 - lange vor seinen Hetzschriften - war Luther in Augsburg, wo er vor dem päpstlichen Gesandten seine aufmüpfigen Lehren widerrufen sollte, aber die Stadt fluchtartig verließ, da ihm Verhaftung drohte. Die Bauern aber, die Luther zu wörtlich nahmen, wurden Objekt seines geradezu genozidalen Hasses. In der 1525 verfassten Schrift "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" rief der Theologe zum Mord auf: "Drum soll hier erschlagen, würgen und stechen, wer da kann, und daran denken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch.""
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Medien

Die neue Nummer von Charlie Hebdo erscheint morgen am Kiosk, berichtet Libération mit AFP, und macht sich auf dem von Willem gezeichneten Titel über die angebliche neue Harmlosigkeit des Front National lustig: ""Komplett entdiabolisiert", ruft im Vordergrund ein Mann mit Schlägervisage und Tarnkleidung aus, der aber Engelsflügel und eine Harfe trägt."

Weiteres in Medien: Ronnie Grob porträtiert in der Medienwoche den einstigen Welt-Chefredakteur und jetztigen Weltwoche-Chef Roger Köppel, der in die Politik geht - er will für die Schweizerische Volkspartei (SVP) als Nationalrat ins Parlament einziehen. In der Welt fragt Swantje Karich nach einem Video aus Los Angeles, das die Erschießung eines Obdachlosen durch die Polizei zeigt, wie man sich als Medienkonsument heute eigentlich der extremen Brutalität ins Netz gestellter Bilder erwehren soll.
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