9punkt - Die Debattenrundschau

Geranie und Pistaziensplitter

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2015. Nun fangen auch die Feuilletons an und retten Griechenland: Das geht nur mit einer politischen Union, meint die Politologin Christine Landfried in der FAZ.  Die Zeit teilt es sogar auf Griechisch mit: Liebe Griechen, bitte stimmt mit Ja zu uns. Nur aus Italien kommt laut FR eine unerwartete Hommage auf Deutschland. Wenigstens mit Scientology geht's kräftig bergab, berichtet slate.fr. Schuld ist das Internet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.07.2015 finden Sie hier

Europa

In der FAZ ruft die Politologin Christine Landfried dazu auf, das griechische Referendum als Chance zu betrachten und schließt sich Thomas Pikettys Vorschlag einer Schuldenkonferenz für Griechenland (mehr hier) an: "In dieser Debatte müsste auch zur Sprache kommen, dass es höchste Zeit ist, die Europäische Union ganz bewusst zu einer politischen Union weiterzuentwickeln. Die wichtigste Voraussetzung dafür wäre eine öffentliche Debatte über die Ziele der europäischen Integration."

Der Ton in der Berichterstattung über die Krise in Griechenland wird in den deutschen Zeitungen zunehmend schärfer und höhnischer, stellt Rudolf Walther in der taz fest: "Schon in seinem Samstag-Kommentar schrieb Holger Steltzner, einer der vier FAZ-Herausgeber, offenbar verärgert über die griechischen "Reformverweigerer", vom "ewigen "Retten"" und mokierte sich über "eine kleine Mehrwertsteueranpassung" und ein "Rentenreförmchen". Mit neudeutscher, ins offen Rassistische abdriftender Herablassung gegenüber Südeuropäern meinte er: "Die Währungsunion wird noch italienischer.""

Auf der Titelseite der Zeit sucht Marc Brost dagegen nach versöhnlichen Worten und bittet im auf Deutsch und Neugriechisch abgedruckten Aufmacher um ein "Ja" zum Euro in dem am Wochenende womöglich abzuhalten Referendum: "Dies ist ein wunderbarer demokratischer Moment: Sie können jetzt einen Pakt mit den Regierungschefs der Gläubigerstaaten schließen, viel direkter als durch jede Wahl." Beziehungsweise: "Τώρα είναι μια θαυμάσια δημοκρατική στιγμή: Μπορείτε να κάνετε μια συμφωνία με τις κυβέρνηεις των πιστωτών, πιο άμεση από οπειεσδήποτε εκλογές."

Im Gespräch mit Heike Buchter (Zeit) sieht der amerikanische Ökonom Joseph E. Stiglitz die Schuld für die Eskalation der Krise in der in seinen Augen unnachgiebigen Haltung Deutschlands gegenüber Griechenland. Sollten sich die Griechen für den Austritt aus dem Euro entscheiden und anschließend wirtschaftlich erholen, könnte Deutschland gar den Anfang vom Ende des Europäischen Projekts eingeläutet haben: "Das ist gar nicht so unwahrscheinlich. Griechenland würde nicht gerade im Wohlstand schwimmen, aber zumindest aus der Rezession herauskommen. Wenn das einträfe, dann würden sich die Spanier, Portugiesen und andere Länder das anschauen und bei der nächsten Krise sagen: Es gibt eine bessere Alternative. Warum sollen wir um den Verbleib im Euro kämpfen? Das wäre dann in der Tat der fatale Riss im Fundament des Euro." (Offenbar haben für Stiglitz die Stimmen der anderen EU-Staaten überhaupt keine Bedeutung.)

Balsam auf die deutsche Seele ist hingegen die Streitschrift "Germania europea/Europa tedesca", in der der italienische Intellektuelle Luigi Reitani die Errungenschaften Deutschlands rühmt und die Vorurteile seiner Landsleute abzubauen sucht, wie Peter Iden in der FR berichtet: "Er beobachtet die Vorzüge einer Gesellschaft, die sich offen hält für die Einflüsse auch anderer Kulturen, Lebensweisen und Überzeugungen, beschreibt die Bereitschaft, widersprüchliche Ansichten in öffentlichen Diskursen zu verhandeln, rühmt die tolerante Duldung von der eigenen Position abweichender Meinungen als Merkmal einer gelebten Demokratie..., die Erinnerungskultur im Umgang mit den Verbrechen der Vergangenheit, das mehrstufig funktionierende Bildungssystem, die (jedenfalls im Vergleich mit anderen Nationen) großzügige Förderung von Wissenschaft und Forschung, die für kulturelle Einrichtungen aufgewendeten Subventionen..."
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Kulturpolitik

Sven Felix Kellehroff berichtet in der Welt über neue Querelen bei der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV), nachdem einige Beiratsmitglieder wegen der ihrer Aussage nach zu geringen Qualifikation des designierten Leiters Winfrid Halder zurückgetreten sind.
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Überwachung

Wegen übermäßiger Überwachung des grenzüberschreitenden E-Mail-Verkehrs hat die Organisation Reporter ohne Grenzen den BND verklagt, berichtet Christian Rath in der taz: "Dabei machen die Reporter anhand offizieller Daten eine einfache Rechnung auf: Es seien wohl "Hunderte Millionen E-Mails" gescannt worden, dabei habe es aber nur 15.401 Treffer gegeben, von denen wiederum nur 118 als "nachrichtendienstlich relevant" eingestuft wurden. Das sei eine "absurd niedrige Erfolgsquote" und könne nicht rechtfertigen, dass bei Bürgern und Journalisten ein "Gefühl ständigen Überwachtwerdens" erzeugt wird."

Für die SZ werten John Goetz, Hans Leyendecker und Georg Mascolo von Wikileaks veröffentlichte Dokumente aus, die belegen, dass die NSA seit den Neunzigerjahren weite Teile der Bundesregierung ausgespäht hat.
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Internet

Die Gema hat zwar in ihrem Prozess gegen Google verloren, berichtet Zeit online mit Agenturen, aber das ändert nichts daran, dass Videos mit Gema-geschützter Musik bei Youtube derzeit nicht zu sehen sind: "Das dürfte auch noch eine Weile so bleiben. Die beiden Urteile des Oberlandesgerichts Hamburg vom heutigen Mittwoch sind nicht rechtskräftig. Revisionen vor dem Bundesgerichtshof sind möglich."

Für die FAZ unterhält sich Mathias Müller von Blumencron mit dem Virtual-Reality-Pionier und Internetskeptiker Jaron Lanier, der an seiner Diagnose des "digitalen Maoismus" festhält und im gleichen Atemzug zugibt, dass der Vergleich hinkt, "weil durch die Kulturrevolution Millionen umgekommen sind, durch die digitale natürlich nicht". (Mal abgesehen davon, dass die Millionen nicht erst durch die Kulturrevolution ums Leben gekommen sind.)
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Gesellschaft

In der FAZ unterhält sich Melanie Mühl mit dem Mediziner Hartmut Imgart über das Thema Magersucht, die bei immer jüngeren Mädchen festgestellt wird. Anlass ist der Dokumentarfilm "Seht mich verschwinden" von Kiki Allgeier, der diese Woche startet.

In Paris ist "Canicule" (Hundstage sind das). Der angesagteste Eisladen auf dem rechten Ufer ist eindeutig das Scaramouche in Montmartre, 22, Rue la Vieuxville, berichtet das Figarosope: "Zu bevorzugen sind in diesen Tagen die Sorten Rosmarin-Olivenöl-Pinienkerne, Honig-und-Thymian, Geranie-und-Pistaziensplitter, Frisches Lavendel, Minze mit Schokoladensplittern."
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Geschichte

Die Zeit druckt Auszüge aus Victor Klemperers Reportagen aus der Münchner Räterepublik 1919, die demnächst unter dem Titel "Man möchte immer weinen und lachen in einem" im Berliner Aufbau Verlag erscheinen. Ebenfalls in der Zeit unterhält sich Christian Staas mit dem Historiker Stefan Ihrig über die Rolle Atatürks als Vorbild Hitlers, und der Rechtshistoriker Benjamin Lahusen erinnert an die Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1957, "Unzucht" unter Männern weiterhin unter Strafe zu stellen.
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Religion

Mit der Scientology-Kirche scheint es glücklicherweise rapide bergab zu gehen, berichtet Claire Levenson bei Slate.fr. Schuld daran ist das Internet: "Trotz all der von der Organisation bei Google gesponserten Seiten wird die Botschaft der Sekte von einer Sintflut von Blogs, Websites und Foren überschwemmt, die von ehemaligen Scientology-Anhängern betrieben werden. Und anders als die Scientology-Kritiker, die im Netz sehr effizient sind, scheint die Sekte selbst vom digitalen Universum und den sozialen Netzen komplett überfordert zu sein."
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Stichwörter: Scientology, Soziale Netze, Sekten