9punkt - Die Debattenrundschau

Ein großes blaues Auge

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2015. Politico fürchtet, dass die Kampagne gegen Charlie Hebdo erfolgreich war. In Politico möchte auch Peter Pomerantsev Putin lieber nicht mit den Größenordnungen des Kalten Krieges messen. In der SZ begklagen die Soziologen Richard Alba und Nancy Foner die German Angst vor der Migration. Die taz wirft der Türkei eine indifferente Politik gegenüber dem Islamischen Staat vor. Und die NZZ lernt, auch mit dem Smartphone in der Hand zu flanieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.07.2015 finden Sie hier

Ideen

Michael Moynihan hat in Politico zwar Verständnis dafür, dass Charlie Hebdo oder Politiken erklären, keine Mohammed-Karikaturen mehr zu bringen, aber er bezeichnet es auch als das, was es ist: einen Sieg der Terroristen und eine Niederlage des Denkens. Die wohlmeinende Linke im Westen hat daran für ihn einen großen Anteil: "Die unermüdliche Kampagne gegen Charlie Hebdo als "rassistisch" oder "herabsetzend" hatte Wirkung. Einmal ausgesprochen, bleibt der Rassismusvorwurf an der Haut kleben wie Napalm, wie die Überlebenden von Charlie entdecken mussten. Niemand ist immun - nicht einmal ermordete Karikaturisten -, und es gibt keine Strafen für falsche Anschuldigungen. Falls sie nach dem Maschinengewehrmassaker eindeutige Solidarität erwarteten, wurden sie von nicht-frankophonen Autoren, die zuvor noch nie von Charlie gehört hatten und die Zeitschrift dann mit Denunziationen überschütteten, enttäuscht."

Aus allem die ziehen die Franzosen ein Argument gegen den Liberalismus, selbst und gerade aus George Orwell. Dieser Autor ist für Robin Verner in Slate.fr das Exempel eines Linken, der vor der Geschichte recht hat und seinen linken Idealen dennoch treu bleibt. Auf seiner Linie liegt für Verner der in Deutschland noch fast unbekannte Philosoph Jean-Claude Michéa. "Dieser Professor aus Montpellier richtete sich stets nach dem Leitstern Orwells aus, wie die Titel seines ersten Buchs "Orwell, anarchiste tory" und seines Essays von 2003 "Orwell éducateur" beweisen. Für Michéa ist die Moral des Autors von "Weg nach Wigan Pier" ein kräftiges Gegengift gegen die Religion des Fortschritts, die den Liberalismus auszeichnet, der sich nicht immer bewusst ist, dass er sozialen Schutz zerstört, die Individuen atomisiert und Traditionen kaputtmacht."
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Europa

Wer den Konflikt mit Russland in Begriffen des Kalten Kriegs beschreibt, tut Waldimir Putin nur einen Gefallen, meint Peter Pomerantsev in einem interessanten Denkstück für Politico: "Putins Ziel ist es, Russland als einen gleichwertigen "Anderen" gegenüber dem Westen zu positionieren, so wie der Kommunismus der Demokratie gegenüberstand. Damit vergrößert er seine Bedeutung und erscheint größer als er ist."
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Politik

Den Anschlag des Islamischen Staats in Suruç erklärt Jürgen Gottschlich in der taz mit der indifferenten Politik der türkischen Regierung, die dem Erstarken der Terrortruppe nichts entgegensetzte, weder im eigenen Land noch in Syrien: "Die Türkei tat zwar offiziell so, als würde sie die internationale Anti-IS-Koalition unterstützen, tatsächlich hintertrieb sie aber jede praktische Unterstützung. Insbesondere der große amerikanische Luftwaffenstützpunkt in Incirlik, die den Kampfgebieten in Syrien und im Irak nächstgelegene US-Air-Base, durften die US-Piloten gegen den IS nicht benutzen."

Cigdem Akyol interviewt für die NZZ den türkischen Journalisten Ahmet Sik, der auch während seines Jahres im Gefängnis nichts von seiner Unerschrockenheit verloren zu haben scheint: "Ich habe von meinen Eltern gelernt, die Dinge beim Namen zu nennen. Erdogan ist ein schlechter Mensch und hat viel Schuld auf sich geladen, weil er eine Seite der Regierungsgegner in Syrien mit Waffen unterstützt und somit aktiv in einen Bürgerkrieg verwickelt ist. Wenn jemand Konsequenzen fürchten sollte, ist es Erdogan selbst."
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Religion

Die Chancen auf eine umfassende Reformation im Islam bemisst der in Princeton lehrende Islamwissenschaftler Simon Wolfgang Fuchs in der FAZ momentan recht gering. Dafür seien die religiösen, aber auch die staatlichen Spielräume viel zu klein: "Rundum "verknöchert" oder "erstarrt" ist das islamische Erbe keinesfalls, allerdings ist Außenstehenden oftmals die Tragweite der internen Debatten, die in solchen Kontexten geführt werden, nicht bewusst. Von Gelehrten dieser Prägung ist keine blitzschnelle "radikale Reform" oder die Schaffung eines wie auch immer gearteten "Euro-Islams" zu erwarten, wohl allerdings Flexibilität, ein Fokus auf das Gemeinwohl und das Ermöglichen eines guten Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen, auf das alle islamischen Rechtsschulen seit jeher Wert gelegt haben."
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Medien

Die neuesten Zahlen der IVW, die die Auflage von Printtiteln misst, sind nicht ermutigend, meldet turi2: "Der Spiegel büßt im Jahresvergleich 5,9 Prozent verkaufte Auflage ein und erreicht 823.000 Exemplare, stern verkauft mit 736.000 Heften 2,7 Prozent weniger. Focus verbessert sich leicht. Bild kriegt mit einem fetten Minus von 9,4 Prozent ein großes blaues Auge und setzt noch 2,1 Mio Exemplare ab, die FAZ büßt deftige 13,5 Prozent ein und verkauft noch 265.000."
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Stichwörter: Der Spiegel

Gesellschaft

Judith Poppe unterhält sich in der taz mit einem palästinensischen Frauenpaar über Liebe und Freiheit im Westjordanland. Offenbar tut sich was: "Früher haben Frauen alles getan, um den schlechten Ruf, den eine Scheidung mit sich bringt, zu vermeiden. Heute ist es ihnen oft egal. Wenn Frauen nicht glücklich sind in der Ehe, können sie sich scheiden lassen und tun das in vielen Fällen auch. Das hat mich sehr überrascht... Wichtig zu verstehen ist aber, dass das Kopftuch Frauen nicht davon abhält, selbstbewusster zu werden. Okay, ich trage ein Kopftuch, sagen sie, aber es hält mich nicht davon ab, Pornos zu gucken."

Adrian Lobe eruiert mit dem Kulturgeografen Mike Duggan in der NZZ, wie sich der Flaneuer in Zeiten von Google Maps die Wahrnehmung für die Stadt als Ganzes bewahren kann: "Das ist einerseits praktisch, andererseits verändert es aber auch unsere Wahrnehmung von der Stadt. Der Punkt suggeriert, dass der Einzelne im Mittelpunkt steht. "Das ändert die Art und Weise, wie sich die Stadt uns präsentiert und vielleicht auch wie wir sie perzipieren", erklärt Duggan. "Die Präsentation der Umgebung hat den Effekt, dass sie die Komplexität der Stadtlandschaft reduziert.""

In der SZ unterhält sich Alex Rühle mit den amerikanischen Soziologen Richard Alba und Nancy Foner, die Einwanderung in Europa, Kanada und den USA untersuchen. Alba bemerkt vor allem, wie wenig Deutschland begreife, dass Migration gerade eine alternde Gesellschaft vital hält: "In keinem anderen Land, das wir untersucht haben, wirkt sich diese Veränderung so stark aus wie in Deutschland, weil es hier besonders wenige junge Menschen gibt. Gleichzeitig leidet Deutschland, wie einige andere europäische Länder, an einer Art Generalverdacht. Migration ist per se verdächtig. Es gibt eine German Angst bezüglich der längerfristigen ethnischen und kulturellen Folgen, vor allem was die außereuropäischen Migranten angeht." Foner weist dagegen auf die anhalte Segregierung in den USA hin: "Schwarze Migranten erleben in Metropolenregionen wie New York bis heute extreme Ausgrenzung. Hochzeiten zwischen Weißen und Schwarzen sind sehr selten, die Kinder gemischter Paare gelten weiterhin als "schwarz"."

Heribert Prantl erklärt in der SZ den Anwälten Sturmheerstahl, warum sie Beate Zschäpe weiter verteidigen müssen: "Für Pflichtverteidiger gilt: Nomen est omen. Er heißt nicht nur deswegen so, weil es bei schweren Verbrechen eine Pflicht des Gerichts ist, dem Angeklagten auf Staatskosten einen Verteidiger zu bestellen. Er heißt auch deswegen so, weil er die Pflicht hat zu verteidigen."

German Angst, German Disease, German Übermacht: In der FAZ kommt Jürgen Kaube gar nicht mehr mit, bei all den wechselnden Zuschreibungen, mit denen die Deutschen vom meist nicht-deutschprachigen Ausland behaftet wird.
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