9punkt - Die Debattenrundschau

Wir sind kein Rohstoff

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2015. Im Dradio Kultur erkennt Garri Kasparow: Diktatoren fragen nicht nach dem Warum. Sie fragen: Warum nicht? Auf Zeit Online lässt Malte Spitz keine Ausreden gelten: Die Vorratsdatenspeicherung ist eine Tat mit Vorsatz. Die SZ wagt einen Blick in die chinesischen Sweatshops der Pronto Moda. Die taz ist nicht einverstanden mit dem neuen Anti-Roma-Gesetz. Der Tagesspiegel fragt, wie qualifiziert Historiker eigentlich sind, um über die Gegenwart zu sprechen. Die Welt beobachtet beglückt ein wachsendes Interesse am Christentum von außen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.10.2015 finden Sie hier

Europa

Im Dradio Kultur insistiert Ex-Schachweltmeister und Oppositionspolitiker Garri Kasparow, dass man Wladimir Putin mit Stärke begegnen müsse. Der Westen könne sich die Untätigkeit nicht mehr leisten: "Die Kräfte, die Mächte, die sich nun gegen die Modernität erheben, die sich gegen Demokratie erheben, die auch gegen die freie Welt kämpfen, die werden nun stärker. Ich denke, der Westen und die anderen haben Putin häufig zu lange ignoriert und eben nicht auf Konfrontation gesetzt. Das heißt, eine Person wie Putin muss gestoppt werden. Die Ambitionen dieser Person müssen gestoppt werden. Denn wenn man das nicht tut, dann gehen solche Personen weiter. Diktatoren fragen nicht nach dem Warum. Sie fragen nur: Warum nicht?"

Franziska Augstein weicht wieder einmal auf die FAZ aus, diesmal um sich über die ukrainische Geschichtspolitik zu empören: Dort wird nach einem neuen Gesetz jetzt Kritik am Ultranationalisten Stephan Bandera geahndet, der als Partisan gegen die sowjetischen Besatzer auf Seiten der deutschen Invasoren gekämpft hat.

Die Zahl der Migranten ist in Italien seit der Jahrtausendwende von einer Million auf sagenhafte fünf Millionen gestiegen, berichtet Thomas Steinfeld in der SZ. Die chinesischen Einwanderer etwa haben eine ganz eigene Textilindustrie mit eigenen Sweatshops errichtet: "Pronto Moda, schnelle Mode heißt das Gewerbe, in dem es darauf ankommt, irgendwo ein interessantes Kleidungsstück zu entdecken, gleich welcher Marke und welchen Preises, es zu fotografieren und das Bild in eine solche Fabrik zu schicken."

Jörg Heiser empfiehlt in der SZ allen Kunstprojekten, die mit Flüchtlingen arbeiten wollen, das Manifest der australischen Hilfsorganisation Rise zur kritischen Selbstbefragung: "Erster Punkt: "Prozess, nicht Produkt: Wir sind kein Rohstoff, der in dein nächstes Projekt einfließt... wer profitiert von dem Austausch?""

In der taz attackiert Rudko Kawczynski, der Vorsitzende des Hamburger Vereins Rom und Cinti, das neue Asylgesetz, das Albanien, Montenegro und Kosovo zu sicheren Herkunftsländern erklärt: "Das neue Gesetz erlaubt, willkürlich bestimmte Gruppen auszusieben und nur die Gruppen dazubehalten, die genehm sind. Es gibt bei den Anhörungen meistens keine Übersetzung in Romanes. Diese Verfahren sind völkerrechtswidrig. Es ist ein Anti-Roma-Gesetz, auch wenn das keiner so offen sagt. Man redet vom westlichen Balkan, aber meint die Roma."
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Überwachung

Die aktuelle Debatte um die Vorratsdatenspeicherung unterscheidet sich maßgeblich von früheren, weil seit Edward Snowden die Folgen und Probleme bekannt sind, schreibt der Grünen-Politiker und Datenschutz-Aktivist Malte Spitz auf Zeit Online: "Konnte man sich 2007 noch mit Unwissenheit, einer anderen Bewertung der Situation oder der Hoffnung auf Datensicherheit herausreden, ist das Votum für die Vorratsdatenspeicherung heute eine Tat mit Vorsatz. Kein Befürworter kann sich herausreden. Es liegt alles auf dem Tisch: die Wirkungslosigkeit, die Risiken, die Grundrechtseingriffe, die Missbrauchsanfälligkeit und die vielen Kritikpunkte unserer obersten Gerichte."

Wolfgang Janisch weist in der SZ auf einen kleinen technischen Defekt bei der Vorratsdatenspeicherung hin: Bei SMS muss leider auch der Inhalt der Nachricht gespeichert werden: "Also - nur zum Beispiel - was Frau Merkel Herrn Kauder gesimst hat."
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Medien

Das ist die Zukunft: Rue89 weiß, womit der Playboy im Oktober 2016 seine Leser locken wird, wenn es nicht mehr die nackten Frauen sind.

Via Turi2: Im Handelsblatt weiß Kai-Hinrich Renner schon, was Sascha Lobo heute auf der Buchmesse enthüllen wird: Dass nämlich der Roman "Cybris" von Carol Felt, den er im Literatur Spiegel groß gefeiert hat, gar nicht existiert: "Lobo will mit der Aktion zeigen, dass selbst hanebüchener Blödsinn als solcher nicht weiter auffällt, sobald er in einem etablierten seriösen Medium erscheint."
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Stichwörter: Lobo, Sascha, Rue89, Handelsblatt, Felt

Ideen

Auf Politico zeichnet Pierre Briançon nach, wie sich im Streit um den Philosophen Michel Onfray die Fronten der französischen Intellektuellen neu formiert haben. Onfray hatte unter anderem den Pariser Polit-Eliten vorgeworfen, die normalen Menschen zu verraten: "Und über die FN-Chefin Marine Le Pen sagte er: Sie verabscheue ich nicht so wie ich jene verachte, die sie möglich gemacht haben."
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Politik

Dass sich prominente Historiker wie Heinrich-August Winkler und vor allem Jörg Baberowski verstärkt zur aktuellen politischen Lage äußern, findet Tobias Bütow im Tagesspiegel problematisch: "Sind Nationalhistoriker eigentlich ausgebildet, die komplexen Themen des 21. Jahrhunderts zu verstehen, zu analysieren und zu vermitteln? Kann jemand, der Deutschland oder Russland im 20. Jahrhundert überzeugend erklärt, im Handumdrehen die europäischen Komplexitäten im Globalisierungs-Zeitalter erfassen? Natürlich nicht. Wer Vergangenheit versteht, muss noch lange nicht auf die Kernfragen der Zukunft vorbereitet sein."

Andreas Zielcke porträtiert in der SZ den Anwalt Wolfgang Kaleck, der unter anderem Edward Snowden, aber auch Opfer der lateinamerikanischen Militärdiktaturen verteidigt hat und in seinem Buch "Mit Recht gegen die Macht" von seinem Kampf für die Menschenrechte erzählt: "Schier aussichtslos erscheint es darum, gegen diese übermächtige politische Ignoranz oder gar Komplizenschaft und die bleierne Indolenz der Justiz anzukämpfen, egal in welchem Land. Dass sich gegen alle Widrigkeit dennoch Lichtblicke auftun, ist vor allem jenen vergleichsweise winzigen Häufchen engagierter Individuen, NGOs und Anwälten zu verdanken, die sich dem lähmenden Trend entgegenstellen. Jeder von ihnen ein David gegen Goliath, aber ohne Steinschleuder."
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Kulturpolitik

Zum Jahresende endet auch die Gurlitt-Task-Force, meldet Joachim Güntner in der NZZ und zieht Bilanz: "Zwei Werke, Henri Matisse" "Sitzende Frau" und Max Liebermanns "Zwei Reiter am Strand", konnten als Raubgut identifiziert und an legitimierte Erben restituiert werden. Bei zwei weiteren steht die Rückgabe an." Dass das angesichts von insgesamt rund 1500 Werken keine eindrucksvolle Quote ist, mag Güntner jedoch nicht gelten lassen: "Provenienzforschung ist ein umständliches Geschäft. Umso mehr in diesem Fall, da das historisch Notwendige (Genauigkeit und Sorgfalt), das moralisch Opportune (rasche vollständige Transparenz) und das juristisch Gebotene (Schutz der Persönlichkeitsrechte Betroffener) einander wechselseitig in die Quere kommen."

Bei der von der Bundesstiftung Initiative Musik verliehenen "Auszeichnung der Programmplanung unabhängiger Spielstätten" für Popmusik-Veranstalter macht Jörg Augsburg im Freitag ein "Ungleichgewicht der Preisvergaben nach West und Ost" aus: "Es verweist auf einen immer noch grundlegenden infrastrukturellen Nachteil des Ostens außer in Berlin. Die Dichte an Clubs ist deutlich geringer, sowieso außerhalb der Popkulturell halbwegs erschlossenen Metropolen, von denen es im Moment genau genommen nur eine gibt; das derzeit eh schon allerorten gehypte Leipzig. Sogar dort allerdings zählt Populärkultur immer noch eher als lästig, als kulturell nicht weiter fördernswert und nur im Ausnahmefall als expliziter Bestandteil von Stadtplanung."
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Religion

Die christliche Theologie erhält Verstärkung von unerwarteter Seite, konstatiert Matthias Kamann in der Welt mit Blick auf die zahlreich erscheinenden Bücher, die sich dem Christentum aus jüdischer, muslimischer, literaturwissenschaftlicher oder atheistischer Perspektive nähern: "Kaum kommt man noch hinterher mit dem Lesen von Büchern, in denen solche Leute ein staunendes, zuweilen beglücktes Interesse am Christentum zeigen. Ein Interesse, das diesen Glauben auch theologisch befruchtet."
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