9punkt - Die Debattenrundschau

Überall Friede, Freude und Federschmuck

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2015. Kaum hat die Telekom die Abschaffung der Netzneutralität durchgesetzt, will sie auch schon Geld sehen, berichtet Spiegel online. Die SZ fordert angesichts der Flüchtlingkrise eine "reflektierte Eigen- und Andersheit" der demokratischen Gesellschaften. Die NZZ fühlt sich fremd unter Indigenen. Und sie fragt sich, ob der Feminismus ausgerechnet in der PKK eine Bastion  hat. Dank Adblocker und Internetgiganten geht Medien im Netz immer mehr die Luft aus, berichten FAZ und taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.10.2015 finden Sie hier

Internet

Kaum haben die Lobbyisten der Telekomgiganten in Brüssel die Abschaffung der Netzneutralität durchgesetzt, wollen die Läden Geld sehen für bestimmte Dienstleistungen, schreibt Fabian Reinbold bei Spiegel online und verweist auf eine Stellungnahme des Telekom-Chefs Timotheus Höttges, dem bereits das Wasser im Munde zusammenläuft: "Aus Sicht der Telekom kommen viele Internetprodukte für die Vorzugsbehandlung infrage. 'Das fängt bei Videokonferenzen und Online-Gaming an und geht über Telemedizin, die automatisierte Verkehrssteuerung und selbststeuernde Autos bis zu vernetzten Produktionsprozessen der Industrie', schreibt Höttges."
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Politik

Gestern kam die Meldung, dass die Auspeitschung Raif Badawis womöglich wieder aufgenommen wird (unser Resümee). Heute schreibt Nicholas Kristof in der New York Times, dass die Hinrichtung des jungen Schiiten Ali al-Nimr möglicherweise kurz bevorsteht: "Sein Einspruch gegen diese grauenhafte Hinrichtung ist nicht angehört worden, die Frist ist abgelaufen. Jederzeit können nun Wachen Nimr zu einem öffentlichen Platz führen und seinen Kopf mit einem Schwert abhacken, während Zuschauer dabeistehen. Dann folgt nach dem saudischen Protokoll für Kreuzigungen die öffentliche Zurschaustellung seines Körpers zur Warnung für alle anderen."

Weiteres: CNN meldet, dass der Rapper Denis Cuspert, der sich bei den IS-Milizen verdingt hatte, bei einem Angriff ums Leben gekommen ist.
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Europa

Geradezu feierlich liest sich Andreas Zielckes Feuilletonaufmacher in der SZ. Die Flüchtlinge werden sich so oder so nicht abweisen lassen, meint er. Ohnehin müssten sich Demokratien nicht erst von außen "die höhere Einsicht aufzwingen lassen, dass sie sich auch im Inland mit dem Fremden zu arrangieren haben. Das Fremde ist das konstitutive Element ihres inneren Zusammenhalts. Selbst wenn wir ganz unter uns sind - sind wir Mitbürger und Fremde. Auch hier gilt das Paradox: Ausgerechnet der progressive Individualismus kann, eben weil er sich aus reflektierter Eigen- und Andersheit zusammensetzt, dem Fremden sehr viel emphatischer begegnen als scheinhomogen verklebte Kollektive."
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Geschichte

Marion Löhndorf besucht für die NZZ das Leo Baeck Institute in London, das die Geschichte des deutschsprachigen Judentums in Europa erforscht. Berthold Seewald besucht für die Welt die Ausstellung "Der versunkene Schatz. Das Schiffswrack von Antikythera" im Antikenmuseum in Basel.
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Gesellschaft

Veronika Hartmann unterhält sich für die NZZ mit Feministinnen in der Türkei. Während Erdogans Ehefrau gleich zwei Kopftücher übereinander trage, rühmen einige der Aktivistinnen die Rolle der PKK beim Streben nach Gleichberechtigung: Öcalan habe viel für die Gleichberechtigung und die Befreiung der Frau getan, behauptet etwa die Autorin Arzu Demir. "Dazu gehört auch, dass die Frauen in der PKK nicht in die typische Frauenrolle gedrängt werden, sondern tatsächlich an vorderster Front kämpfen. Anfangs keine Selbstverständlichkeit, aber ein ausdrücklicher Befehl Öcalans mit weitreichender Konsequenz: 'Männer ändern ihr Verhalten signifikant, wenn die Frauen plötzlich eine bewaffnete Macht sind', glaubt Demir."

In der Welt fordert Cigdem Toprak, den Einwanderern in Deutschland mit Sympathie, aber auch mit Selbstbewusstsein zu begegnen. Insbesondere in der Schule müssten demokratische Werte vermittelt werden, um die Integration zu erleichtern: "In Deutschland wird sogar stärker darauf geachtet, dass kulturelle und religiöse Normen eingehalten werden. Auch und insbesondere in deutschen Großstädten. Wie oft habe ich es als ungerecht empfunden, weil ich nicht die gleichen Freiheiten hatte wie meine deutschen Freunde? Wie können wir uns für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen, wenn wir so viele Ungerechtigkeiten ignorieren? Mit welchem Gerechtigkeitssinn wachsen junge Menschen in diesem Land auf, wenn sie zusehen müssen, dass sie nicht nur auf der Straße, sondern von den eigenen Eltern diskriminiert werden, weil die glauben, das Beste für ihre Kinder zu wissen."

Samuel Herzog wurde vom Goethe Institut ins brasilianische Palmas eingeladen, zu den ersten Weltmeisterschaften der indigenen Völker. Der NZZ-Autor fühlt sich entsetzlich unwohl bei dieser Veranstaltung, die ein seltsames Bild vom "Indigenen" transportiert: "Gleichzeitig sitzt man dann in dieser Arena und schaut zu, wie verhältnismäßig sanft diese Spiele im Sand vonstattengehen - wie fair die Sportler sind, wie kameradschaftlich sie miteinander umgehen. Man merkt, wie gut sich die Menschen um einen herum unterhalten, wie familiär die Stimmung ist. Auch vor dem Stadion wirken alle fröhlich und beschwingt. ... Überall Friede, Freude und Federschmuck. Vielleicht allerdings sind es - stärker noch als die Unstimmigkeiten selbst - gerade auch diese Heiterkeit und die ergebene Disziplin, die von Tag zu Tag mehr ein Gefühl von Ohnmacht aufsteigen lassen. Man ist traurig. Man ist leer. Und man hofft einfach, dass diese Empfindungen völlig unangebracht sind - und man schlicht alles falsch verstanden hat."
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Medien

Google will mit seinen "Accelerated Mobile Pages", kurz AMP, einer Technologie, die der Konzern Inhalteanbietern zur Verfügung stellt, die Ladezeiten von Internetseiten verkürzen. In Wirklichkeit aber geht es um Werbung und um Überwachung der Inhalte, legt Meike Laaff in der taz dar: "Ob sich Verlage und Webseitenbetreiber nun für Facebooks Instant Articles, für Apple News oder den Spezialstandard von Googles AMP entscheiden: Am Ende läuft es immer darauf hinaus, dass die eigentlichen Lieferanten von Inhalten entmachtet werden - und nur noch Verschiebemasse sind, im Krieg um Werbetechnologie im Silicon Valley. "

Immer mehr Leute nutzen Adblocker (dummerweise auch beim Perlentaucher mit seinen schönen Buch- und Kunstanzeigen!) Ursula Scheer erzählt, wie die Firma Eyeo, die hinter Adblock Plus steht, Inhalteanbieter erpresst - denn man kann bezahlen, um den Adblocker auf seiner Seite zu neutralisieren. "Der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) geht davon aus, dass der hiesigen Digitalwirtschaft in diesem Jahr durch Adblocker ein Schaden in dreistelligen Millionenhöhe entsteht, die Softwarefirma Pagefair rechnet mit weltweiten Werbeeinbußen von 22 Milliarden Dollar. Dass Apple seit neuestem Werbeblocker auch in den Browsern seiner iPhones und iPads zulässt, scheint die Entwicklung weiter zu befeuern."

Der scheidende DJV-Vorsitzende Michael Konken fordert im Gespräch mit Frank Hauke-Steller von kress.de eine neue Finanzierung des Journalismus: "Trotz der Bezahlschranken gibt es bisher noch kein tragfähiges Geschäftsmodell für den Online-Journalismus... Wir werden ein ähnliches Modell wie bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten brauchen. Ich halte es für realistisch, dass eine Haushaltsabgabe für Zeitungen, egal ob sie als Printprodukte oder online erscheinen, eingeführt wird."
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