9punkt - Die Debattenrundschau

Amazon gewinnt eigentlich immer

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2015. Was die Syrer brauchen, sind nicht mehr Bomben, sondern weniger, schreibt Kristin Helberg in der taz zur gestern beschlossenen Syrien-Mission der Bundeswehr. Der Tagesspiegel fragt nach dem Erstarken rechter Kräfte in Polen und Frankreich. Die Zeit entlarvt Papst Franziskus als Marxist, die Welt als Peronist. Und die NY Times reibt sich die Augen: Selbst Menschen, die vom FBI als Terroristen eingestuft werden, haben in den USA legal Zugang zu Waffen
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.12.2015 finden Sie hier

Politik

Der Bundestag hat gestern die Syrien-Mission der Bundeswehr beschlossen. Doch was die Syrer brauchen, sind nicht mehr Bomben, sondern weniger, schreibt die Nahost-Expertin Kristin Helberg in einem Essay in der taz. Anstatt sich ohne klare Strategie an Luftangriffen zu beteiligen, sollten bestimmte Gebiete als Bombenverbotszonen geschützt werden: "Erst wenn wir mithelfen, den Krieg in Syrien, mindestens aber den Luftkrieg Assads, zu beenden, können wir mit den Syrern als Partner im Kampf gegen den IS rechnen. Und erst dann sind amerikanische und französische Luftangriffe sinnvoll. Angesichts unserer Flüchtlingszahlen hat Deutschland von allen internationalen Akteuren das größte Interesse an einem Schutz der Syrer in ihrer Heimat."

Ähnlich, wenn auch ungleich polemischer äußert sich Frankie Boyle im Guardian zum britischen Militäreinsatz gegen den IS: "So we decided to stop children drowning on the beaches by killing them in their beds. It's hard to think of a more poetic metaphor for our utter lack of ideas than spending several years dropping high explosives on to a desert."

Weder soll sich die Bundeswehr am Bombardements beteiligen, noch geraten deutsche Soldaten in Gefahr, stellt hingegen Lorenz Hemicker in der FAZ klar: "Die Tornados der deutschen Luftwaffe fliegen zwar ihre Missionen über dem Gebiet des 'Islamischen Staates': Allerdings erschöpft sich ihre Aufgabe darin, Aufklärungsdaten zu liefern. Dank neuer Technik heißt das für die Piloten, dass sie nicht mehr in geringer Flughöhe fliegen müssen, wo sie sonst zu einem leichten Ziel von Schusswaffen, Flugabwehrkanonen oder handgestützten Boden-Luft-Raketen des IS werden könnten."

In der FR unterhält sich Michael Hesse mit dem britischen Historiker Orlando Figes über den gegenwärtigen, auch in Syrien ausgetragenen Konflikt zwischen Russland und der Türkei: "Die Türkei und Russland sind zwei im Nahen Osten rivalisierende Mächte. Das ist aber nicht alles. Ein Fünftel der russischen Bevölkerung ist islamisch, daher gibt es in Moskau Befürchtungen, dass IS-Kämpfer im Kaukasus, Syrien und dem Irak aktiv sind. Darin liegt ein starker Grund für die Russen, in Syrien zu intervenieren. Russland hat daher ein Interesse, in Syrien gegen den IS zu kämpfen. Es gibt eine lange religiös bedeutende, instabile Grenze. Sie wird als eine wichtige Einflusszone begriffen."

Am Donnerstag, also an dem Tag, an dem ein Paar in den USA mit legal erworbenen Maschinenpistolen 14 Menschen niedermähte, stimmten mit einer Ausnahme alle republikanischen Senatoren gegen ein Gesetz, das wenigstens jenen den Kauf von Waffen verbietet, die als potenzielle Terroristen auf einer Watchlist des FBI stehen, berichtet die New York Times. "The measure has been introduced repeatedly since 2007. The Government Accountability Office has documented that over years of congressional blockage, hundreds of suspected terrorists on the watchlist bought guns. Another bill that would have expanded background checks to gun show and online firearms sales to screen out convicted felons and the mentally ill also failed on Thursday. The four Republican senators running for president - Ted Cruz, Marco Rubio, Rand Paul and Lindsey Graham - all turned up to vote against these common-sense measures."

Ebenfalls in der NY Times haben Larry Buchanan, Josh Keller, Richard A. Oppel Jr. und Daniel Victor 15 Fälle recherchiert, in denen psychische Kranke und Vorbestrafte mit legal gekauften Waffen Massaker anrichteten.
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Überwachung

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hat die EU-Kommission ein Dialog-Forum mit mehreren Internetkonzernen zu Terror im Netz und verschlüsselter Kommunikation aufgenommen, meldet Svenja Bergt in der taz: Dabei werde "das Forum auch die Bedenken von Strafverfolgungsbehörden angesichts neuer Verschlüsselungstechnologien sondieren", zitiert Bergt aus einem Papier der EU-Kommission und ahnt Böses: "Nach den Anschlägen in Paris wurde der skeptische Blick auf Kryptotechnologien wieder populär: So nahm das Europaparlament in der vergangenen Woche einen Resolutionsentwurf der Europäischen Volkspartei, der größten Fraktion, an, in dem auch Verschlüsselungstechnik in Frage gestellt wurde. Für Bürgerrechtler ein Horrorszenario: denn gibt es erst einmal eine Hintertür, können sowohl Kriminelle als auch alle anderen Nutzer damit überwacht werden. Möglich ist zudem, dass Unbefugte die Lücke finden und selbst ausnutzen. Und dass Verschlüsselung insgesamt als unsicher wahrgenommen wird."

Da trifft es sich gut, dass in diesen Tagen die sogenannte "Public beta"-Phase der freien und offenen Certificate Authority (CA) 'Let's Encrypt' beginnt, die die finanziellen und technischen Hürden für eine sichere Kommunikation im Internet senken soll, wie Constanze Kurz auf Netzpolitik.org meldet: "Jedes Smartphone und jeder Computer speichert sehr viele Zertifikate, die jeweils von einer CA beglaubigt und verwaltet werden, um beispielsweise die Authentizität einer Webseite bestätigen zu können. Website-Betreiber können die Zertifikate von 'Let's Encrypt' nun direkt beziehen, denn ab heute sind sie allgemein verfügbar." Weitere Informationen auf Zeit Online und im Podcast von Josh Aas, Mitgründer und Geschäftsführer der Non-Profit-Organisation Internet Security Research Group (ISRG), die hinter 'Let's Encrypt' steht.
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Medien

Auf Zeit Online berichtet Dirk Peitz von der in Deutschland noch nicht recht angekommenen Revolution der Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon, die für viele Nutzer bereits das Fernsehen verdrängt haben: "Laut einer aktuellen Studie des kanadischen Netzwerkausrüsters Sandvine ist Netflix für mittlerweile knapp 35 Prozent des Volumens des weltweiten Internetverkehrs verantwortlich. Nicht nur in den USA, sondern auch in europäischen Ländern werden gigantische Datenmengen von Netflix bewegt, in Österreich und Frankreich etwa gehen schon zehn Prozent des gesamten Traffics auf Netflix. Absurderweise ist Hauptkonkurrent Amazon zugleich Hauptprofiteur davon: Alle Netflix-Inhalte werden über Server von Amazon Web Services gestreamt, einer Tochterfirma des Internetkaufhauses, die weit vor Mitbewerbern wie Microsoft oder Google Weltmarktführer im Cloud Computing ist. Egal, wo und was man im Internet guckt: Amazon gewinnt eigentlich immer."
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Europa

Seit ihrem Wahlsieg Ende Oktober hat die rechtsnationale Partei PiS den polnischen Staat im Eiltempo umgebaut, berichtet Gabriele Lesser in der taz: "Das giftige Hohngelächter der PiS-Abgeordneten im Parlament wird den Polen noch lange in den Ohren klingen. Die Politiker hatten ein Gesetz verabschiedet, mit dem sie loyale Richter ernennen konnten und diese dann auch gleich ernannten. Am Donnerstag hat Präsident Duda eilig vier neue Richter vereidigt. Politiker der liberalkonservativen Bürgerplattform und der Bauernpartei, die in den letzten acht Jahren die Regierung gestellt hatten, hatten das Gesetzesprojekt nicht einmal zum Durchlesen erhalten."

Im Tagesspiegel unterhält sich Gerd Appenzeller mit dem langjährigen polnischen Botschafter Janusz Reiter über die Krise des Europäischen Projekts und das Erstarken rechter Kräfte. In Frankreich, wo bei der morgigen Regionalwahl mit deutlichen Zugewinnen für den Front National gerechnet wird, sind die Ursachen andere als beim jüngsten Rechtsruck in Polen, so Reiter: "Es gibt viele Europäer, die dieses Europa, wie wir es kennen, ablehnen und satt haben. Das ist das Phänomen Front National. Die Mehrheit der Polen hingegen hat Europa weder satt noch lehnt sie es ab. Das Problem in Polen ist eher, dass die Menschen nicht verstehen, dass sie Einfluss auf Europa haben und damit auch Verantwortung für Europa übernehmen müssen. Dass man Einfluss hat, liegt einfach nicht in der polnischen Tradition."

In den Tagen des Maidan schien das Problem der Zweisprachigkeit der Ukraine überwunden zu sein, schreibt Kateryna Botanova in der NZZ: im gemeinsamen Protest reifte die Erkenntnis, dass sowohl Russisch als auch Ukrainisch Teil der ukrainischen Identität sind. Doch der Konflikt keimt wieder auf: "Die Geschichte schenkt uns ein listiges Lächeln - es ist einfacher und angenehmer, sich den globalen Herausforderungen zuzuwenden, als die Banalitäten aus den Ecken der eigenen Wahrnehmung zu kratzen. Und so lassen schon wieder - ganz beiläufig - ukrainischsprachige Autoren in der Ukraine verlauten, dass die russischsprachigen Autoren im Land nicht zur ukrainischen Literatur gehören. Und renommierte Intellektuelle diskutieren darüber, ob die Slawistik als eine Disziplin zu gelten hat, die die Werte der 'russkij mir', der Russischen Welt, verbreitet."
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Religion

Dir katholische Linke, die den Reformeifer von Papst Franziskus bejubelt, sollte sich keine Illusionen machen, welcher Ideologie der Papst anhängt, mahnt Alan Posener in der Welt: "Er ist im Kern Peronist; ein Anhänger des korporativen Staates, Gegner des Liberalismus und Individualismus - und vor allem der USA und ihrer Gesellschaftsordnung, die diese Werte verkörpert." Gezeigt habe sich das etwa beim Besuch in Lateinamerika, wo Franziskus gegen "Körperschaften" und "sogenannte Freihandelsabkommen" wetterte: "Kein Wort verlor der Papst über die Korruption der lateinamerikanischen Eliten, die allgegenwärtige Kriminalität, die Ungerechtigkeit von Landlosigkeit auf der einen, riesigem Landbesitz auf der anderen Seite. Kein Wort darüber, dass die Kirche jahrhundertelang im Bunde war mit dem Großgrundbesitz und den korrupten Oligarchien... Die Wahrheit ist, dass nicht ominöse 'Finanzinstitutionen' und 'transnationale Konzerne' Lateinamerikas Rückständigkeit zu verantworten haben; die ist hausgemacht."

Bereits am Donnerstag hatte der peruanische Ökonom Hernando de Soto in der Zeit auf die marxistische Ausrichtung von Franziskus' Thesen hingewiesen: "Bisher hat Papst Franziskus eine von Marxisten gestellte Frage beantwortet: Warum haben so wenige so viel? In einer redlichen Debatte, wie sie der Papst einfordert, würde ich eine Frage stellen, die möglicherweise zu einer für die gelebte Wirklichkeit relevanteren Antwort führt: Warum haben so viele so wenig?"
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