9punkt - Die Debattenrundschau

Wirklich seltsam und verrückt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2016. Nur Hirnforscher wissen, was Materialismus ist, sagt der Neurochirurg Henry Marsh im Gespräch mit der FR. Es gibt kein Verschweigen wesentlicher Informationen in den Medien, insistiert die NZZ, wohl aber Konformismus. In der FAZ erklärt Timothy Snyder, warum Genozide nicht aus der Perspektive nationaler Geschichte zu verstehen seien. In Frankreich erregt die ehemalige Justizministerin Christian Taubira mit einem heimlich geschriebenen Buch Aufmerksamkeit. In der SZ fordert Paul Scheffer eine Kultur des Diskutierens und Benennens.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2016 finden Sie hier

Europa

In der Welt beschreiben Dirk Banse und Michael Ginsburg die explosive Stimmung gegenüber Flüchtlingen unter einem Teil der Russlanddeutschen in Lahr, die durch Kreml-Propaganda befördert wird: "Obwohl so viele Russlanddeutsche in Lahr leben, existiert keine nennenswerte Kultur, abgesehen vom russischen Supermarkt und den Satellitenschüsseln, über die sie russisches Staatsfernsehen empfangen. Viele waren unzufrieden mit der deutschen Berichterstattung über den Ukrainekonflikt und schauten lieber russisches TV. Was für ein Stimmungsumschlag. In den neunziger Jahren kamen sie aus Russland heim in ein Deutschland, das ihre Vorfahren vor hundert oder zweihundert Jahren verlassen hatten. Heute fühlt sich ein Teil von ihnen vom fernen Russland besser verstanden als hier. Und Putin hilft gern - er begreift die Diaspora früherer Sowjetbürger als strategische Ressource im globalen Informationskrieg."

Mit Blick auf die Niederlande, in denen die politische Mitte erodiert sei und der Rechtspopulismus profitierte, fordert der Soziologe Paul Scheffer im Gespräch mit Roland Preuss von der SZ eine Kultur des Diskutierens und Benennens: Zu reden sei "über die Kultur des Schweigens, über das Zögern, mit dem über kulturelle Differenzen, etwa patriarchale Traditionen, bei Zuwanderern diskutiert wird. Das kennt man auch in den Niederlanden oder Schweden. Politik und Polizei gehen hier mitunter eine unheilige Allianz ein. Die Gesellschaften sind umso friedlicher, je offener über die Probleme gesprochen wird. Dabei geht es um beide Seiten: Um die Mehrheit, die Minderheiten benachteiligt, und um Angehörige von Minderheiten, die sich wegen ihrer Vorurteile selbst isolieren."

Hansjörg Müller trifft für die Basler Zeitung einige dänische und schwedische Intellektuelle, um sich dort die Stimmungslagen angesichts der Flüchtlingskrise erklären zu lassen. Der dänische Historiker Jes Fabricius Møller malt Dänemark als eine fast ideale Volksgemeinschaft: "Die Globalisierung, aber auch der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1973 sowie die Ankunft türkischer Gastarbeiter hätten die Dänen in ihrem Selbstverständnis erschüttert, glaubt Møller. 'In meiner Kindheit und Jugend, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, gab es keinen Nationalismus, weil ja klar war, dass wir alle Dänen waren. Doch das, womit meine Generation aufwuchs, gibt es nicht mehr.' In diese Lücke stoße die Volkspartei vor, eine Partei für Nostalgiker, die im Grunde so sein wolle wie die Sozialdemokraten der Vierzigerjahre."

Hm. Französische Politik hat doch zuweilen recht romaneske Züge. In Frankreich wird über ein Gesetz diskutiert, das es erlaubt, Doppelstaatlern unter bestimmten Voraussetzungen die Nationalität zu entziehen. Die Ministerin Christiane Taubira (der Präsidentschafts-Ambitionen nachgesagt werden) ist aus Protest dagegen zurückgetreten. Und nun dies, in Le Monde: "Christiane Taubira hat den Text unter allergrößter Geheimhaltung geschrieben. Er wurde in aller Diskretion in Spanien gedruckt und auf unkenntlich gemachten Paletten nach Frankreich transportiert. Den Buchhändlern wurde das Buch als 'Buch unter 3' präsentiert, um das Risiko von Indiskretionen zu mindern. Mit dem Titel 'Murmures à la jeunesse' wird dieser Essay von hundert Seiten heute in 40.000 Exemplaren zum Verkauf gebracht. Er erläutert, warum die ehemalige Justizministerin sich gegen den Entzug der Nationalität stellt. Das Erscheinungsdatum ist kein Zufall. In vier Tagen wird das Gesetz in der Assemblée nationale diskutiert."
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Wissenschaft

"Die Kenntnis der Hirnanatomie zerstört den Glauben komplett", erklärt in einem sehr schönen Interview mit der FR der britische Neurochirurg Henry Marsh, "wenn Teile des Gehirns, insbesondere in der Front, zerstört werden, gehen auch unsere sozialen Fähigkeiten und unsere Moralvorstellungen zugrunde. Wir sind, was unser Gehirn ist - und wenn unser Gehirn stirbt, sterben wir. .... Dieses Wissen nimmt uns zwar den Glauben an ein Leben nach dem Tod. Aber es wertet die Materie auf. Denn die Wissenschaft kann nicht ansatzweise erklären, wie Bewusstsein entsteht. Wir wissen es einfach nicht. Das heißt nicht, dass ich an etwas Mystisches glaube, es heißt nur, dass wir Materie noch nicht komplett verstehen. Wenn man sich die Quantenmechanik anschaut, dann ist die Welt auf dem Quantenlevel wirklich seltsam und verrückt."
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Medien

Sind die grassierenden Vorwürfe gegen die Medien überzogen? Jein, meint Heribert Seifert in der NZZ. Ein Verschweigen relevanter Fakten gebe es nicht, wie oft behauptet werde. Das Problem sei eher der Konformismus von Journalisten wie zum Beispiel bei der Masseneinwanderung von Flüchtlingen: "Hier arbeiteten die Medien ... von Anfang an mit rabiaten Denkverboten, mit Durchsetzung fragwürdiger Sprachkonventionen, mit der Umwandlung politischer Fragen in moralische Bekenntnisse und mit einer hoch aggressiven Ausgrenzung von Abweichlern, wie sie zuletzt in den Tagen der Baader-Meinhof-Jagd im Lande üblich war. Wenn eine Allensbach-Umfrage zum Ergebnis kommt, dass 45 Prozent der Deutschen ein offenes Gespräch über 'Flüchtlingsfragen' nicht für möglich halten, dann ist das ein Alarmzeichen."
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Stichwörter: Jagd, Konformismus

Politik

Richard Ford macht sich in der FAZ nicht allzuviele Sorgen um Donald Trump: "Er wird nicht als Präsident ins Weiße Haus einziehen. O ja, die Republikaner können ihn als Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken (ich hoffe es sogar, denn dann wäre die Partei auf lange Sicht erheblich beschädigt). Angesichts farbloser, prinzipienloser, gewissenloser Scharlatane hat Trump einen gewissen clownesken Charme, weil er nicht so langweilig daherkommt wie seine Rivalen." Aber Ford ist sich sicher: "Er wird verlieren, weil zu wenige Amerikaner so denken wie er. Punkt."

FAZ-Autorin Lena Bopp hat in Paris François Margolins Film "Les Salafistes" gesehen, der fast verboten worden wäre (unser Resümee) und kritisiert die eingestreuten islamistischen Propaganda-Videos: "Was auf diese Weise entsteht, ist ein Gefühlskino, von dem man den unguten Eindruck nicht loswird, dass es die Propaganda, die es angesichts der Aktualität der Bedrohung doch gewissenhaft zu dechiffrieren gälte, allzu leichtfertig bedient." Mehr dazu von Alex Rühle in der SZ.

Über tausend "Ehrenmorde" gibt es in Pakistan im Jahr, schreibt Nicholas Kristof in der New York Times, und wünscht sich dass Sharmeen Obaid-Chinoys Dokumentarfilm "Saba - ein Mädchen im Fluss", der einen solchen Fall dokumentiert, einen Oscar bekommt: "Als ich mir 'Saba' ansah, dachte ich, dass die reale moralische Herausforderung im 19. Jahrhundert die Sklaverei war, im 20. der Totalitarismus, und dass das wichtigste moralische Thema in diesem Jahrhundert der Missbrauch und die Gewalt sind, die das Los so vieler Mädchen und Frauen sind."

Oliver G. Hamm schildert in der NZZ den irrsinnigen Wohnungsmarkt in New York, wo inzwischen Luxuswohnungen für 50.000 Dollar den Quadratmeter angeboten werden. Selbst Versuche, die Stadt lebenswerter zu machen, schlagen in diese Richtung aus. Das sieht man an der Umgebung der High Line, die in einen Park verwandelt wurde. Das "hat einen wahren Bauboom an seinen Rändern und in der Folge Preissteigerungen im näheren Umfeld ausgelöst, denen zunehmend genau jene Bürger zum Opfer fallen, die einst für die Erhaltung des Hochbahn-Trassees und für dessen Umwidmung zum Park kämpften."
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Geschichte

In einem Essay für den vorderen Teil der FAZ kommt Timothy Snyder nochmal auf seine Thesen aus seinem letzten Buch, "Black Earth", zurück. Staatszerstörung sei Bedingung der Möglichkeit von Genoziden, und ein nationaler Blickwinkel funktioniere nicht, um den Holocaust zu verstehen: "Nur ein kleiner Teil der im Holocaust ermordeten Juden (lebte) in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Die Hälfte der Täter waren keine Deutschen. Keiner der Haupttäter ermordete nur Juden. Sie alle waren auch Mörder anderer Menschen. Der Holocaust fand in einem Raum statt, in dem die Deutschen auch vier Millionen Nichtjuden getötet haben. Der gesamte Holocaust spielte sich in einer Zone der Staatszerstörung ab, die von der deutschen Macht in Osteuropa geschaffen worden war. So gut wie alle Juden, die im Holocaust ermordet wurden, verloren ihr Leben dort."
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