9punkt - Die Debattenrundschau

Selbst die freiwillige Unterwerfung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2016. In der FR erklärt die Publizistin Irina Scherbakowa, wie Russland Ideologie durch Geschichte ersetzt. taz, FAZ und SZ fragen nach dem Urteil des BGH in Sachen VG Wort: Kann denn Recht sein, was nicht Verlegerinteressen entspricht? Der Islam darf ruhig dem Grundgesetz widersprechen, das tut das Christentum auch, schreibt Dieter Grimm in der FAZ - aber die Gläubigen müssen sich dran halten. taz und SZ fürchten TTIP, Zeit online ist dafür. Und Mark Leonard stellt in der Welt die Gewinner der Migration vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.04.2016 finden Sie hier

Europa

Die Publizistin Irina Scherbakowa spricht im Interview mit Joachim Frank von der FR über russische Geschichts- und Identitätspolitik: "Die Geschichte ersetzt heute in Russland die verloren gegangene Ideologie. Es gibt in Wirklichkeit keine Zukunftsvision für die russische Gesellschaft. Der Begriff 'Demokratie' wird nicht gebraucht, und die gegenwärtigen autoritären Zustände als solche zu benennen, scheut man sich offiziell. Also konzentriert man sich ausschließlich auf die Vergangenheit, glorifiziert die einstige Größe Russlands und beschwört damit den Patriotismus."

In der taz beklagt sich Jagoda Marinić über die "Bevormunder-Deutschen", die Deutschen mit Migrationsgeschichte vorschreiben wollten, was Deutsch sei: "Die Deutschen schicken auch gern Menschen mit Migrationshintergrund vor, um Ressentiments zu äußern. Gemeinhin wird das mit der profunden Kenntnis über die Schwächen der Communitys begründet. Man denke an Necla Kelek, was die alles weiß. Oder die Streifenpolizistin Tania Kamouri, die uns von 'Deutschland im Blaulicht' berichtet." (Dass Kelek und Kamouri nicht "vorgeschickt" werden, sondern selbst laufen können, scheint Marinic gar nicht in den Sinn zu kommen.)

In der aktuellen Zeit meint dagegen Evelyn Finger: "Es ist bitter, wenn muslimische Islamkritiker, von denen einige bei uns unter Polizeischutz leben, uns anderen vorwerfen: Ihr lasst uns im Kampf für den liberalen Islam allein."
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Religion

Gegenüber den AfD-Äußerungen, dass der Islam dem Grundgesetz nicht entspreche, macht der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm in der FAZ zunächst mal geltend, dass dasselbe für das Christentum gelte - das sei auch von der Religionsfreiheit gedeckt: Aber "der Absolutheitsanspruch der Religionsgemeinschaften kann .. nicht gegenüber der Allgemeinheit, sondern nur gegenüber den eigenen Gläubigen, also im Innenbereich der Religionsgemeinschaften, Geltung beanspruchen; aber auch dort nur, soweit er freiwillig befolgt wird. Der säkulare Staat darf seine Zwangsgewalt nicht für die Durchsetzung religiöser Normen zur Verfügung stellen. Aber selbst die freiwillige Unterwerfung unter religiöse Normen kann nur in Grenzen hingenommen werden. Diese Grenzen werden durch die unaufgebbaren Grundprinzipien des Grundgesetzes gezogen, allen voran die Menschenwürde."
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Urheberrecht

Nach jahrelangen Prozessen gegen die Praxis der VG Wort, die ihre Kopierabgaben auch an Verlage ausschüttete, hat Kläger Martin Vogel auch in der allerletzten Instanz, dem BGH, Recht bekommen: Die Ausschüttungen hätten allein an die Urheber gehen sollen. Großes Jubelgeschrei bei Autoren ist bisher nicht zu vernehmen, der Verlagsstandpunkt ist dagegen allerorten zu lesen, so auch bei Christian Rath in der taz: "Für die Verlage könnte das Urteil bitter werden. Seit November hat die VG Wort ihren Anteil mit Blick auf den Rechtsstreit nicht mehr ausgezahlt. Zudem hat sie sich für die Jahre ab 2012 eine Rückforderung vorbehalten. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels hält das BGH-Urteil für 'kulturpolitisch höchst problematisch'. Den Verlagen drohten Rückzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe, pro Verlag gehe es um Summen zwischen 20 und 200 Prozent des durchschnittlichen Jahresgewinns."

In der FAZ prangert Michael Hanfeld gleich den "Ausverkauf der Verlage" an und fragt: "Kann die EU retten, was Gerichte preisgeben?" In der SZ fürchtet Wolfgang Janisch, dass eine europäische Lösung für einige Verlage zu spät kommen könnte.
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Politik

Die taz bringt eine ganze Beilage gegen die TTIP-Verträge, für die Barack Obama bei der Hannover-Messe werben wird. Wolf-Dieter Vogel entwirft ein düsteres Bild der Lage in Mexiko, wo der seit 1994 geltende ähnliche NAFTA-Vertrag nur die Bauern von den Agrarkonzernen abhängig gemacht habe: "Kleinbauern und Indigene unterscheiden nicht zwischen Saatgut und Ernte. Den Mais, den sie essen, säen sie wieder aus. Saatguthersteller wie Monsanto aber verbieten das ihren Kunden. Das macht Kleinbauern perspektivisch abhängig von Agrarkonzernen. Schon jetzt können sich Hunderttausende Campesino-Familien nicht mehr von ihren Äckern ernähren. Viele migrieren in die USA oder sind für kriminelle Kartelle tätig."

Steffen Dobbert ist dagegen bei Zeit online zutiefst überzeugt, dass wir TTIP brauchen: "Eine Welt, die durch den Wandel der Globalisierung leichter und häufiger gleich an mehreren Enden aus den Fugen gerät, braucht weltweite Regeln und Standards. TTIP kann der Beginn einer ordnungspolitischen Antwort auf diesen grenzüberschreitenden Wandel sein - wenn er von einer Mehrheit der Bevölkerungen in den USA und der EU unterstützt wird."

In der SZ sorgt sich Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz um einen anderen Aspekt von TTIP: den Klimaschutz, der mit dem Abkommen von Paris solche Fortschritte machte. Der werde mit dem Abkommen gefährdet, schreibt er. "Nach den Vorschlägen zu TTIP, soweit sie auf dem Tisch liegen, können Unternehmen gegen staatliche Anreize für ökologisch nachhaltige Güter und Dienstleistungen juristisch vorgehen - selbst wenn es nur um freiwillige Labels geht. Länder, die so ein Verfahren verlieren, können zu Sanktionen in Millionenhöhe verurteilt werden. "

Drei Gruppen macht Mark Leonard in einem globalen Blick auf das Migrationsgeschehen aus: die Kolonisatoren, die Integratoren und die "Vermittler" (die manche vielleicht auch als "Erpressr" bezeichnen würden), zu denen zum Beispiel die Türkei gehört: "Ein weiterer Vermittler ist Niger. Als wichtiges Transitland, das 90 Prozent aller Migranten aus Westafrika auf ihrem Weg nach Italien passieren, gelang es Niger, sich 600 Millionen Euro des letzten EU-Hilfsbudgets zu sichern. Dabei folgte man dem Beispiel von Muammar al-Gaddafi in Libyen, der Europa bekanntermaßen davor warnte, 'schwarz zu werden', wenn man ihn nicht dafür bezahlen würde, Migranten von ihrem Versuch abzuhalten, das Mittelmeer zu überqueren."
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