9punkt - Die Debattenrundschau

Wie damals, als die Fuchsjagd verboten wurde

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2016. Die große Brexit-Debatte rumort weiter. Der Guardian entwickelt eine Art Zynismus der Verzweiflung und fordert vom künftigen Premier, die EU-Migration in den Griff zu kriegen: Sonst profitiert Nigel Farage. Jeremy Corbyn hat unterdessen eine Verfassungskrise in der Labour-Partei ausgelöst, so Politico.eu. Übrigens war nicht nur die abgehängte Arbeiterklasse, sondern auch die traditionelle Upper Class für Brexit, beharrt Tina Brown in The Daily Beast. Die New York Times erläutert die Entscheidung des Supreme Court zu Abtreibung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.06.2016 finden Sie hier

Europa

Ganz allein die Tories sind am Brexit schuld, ruft Polly Toynbee im Guardian (und die Labour-Politiker, die man zum Jagen tragen musste, also wohl kein bisschen). Sie entwickelt eine Art Zynismus der Verzweiflung: "Es fühlt sich wie ein Betrug an, einem Tory-Leader Gutes zu wünschen, aber wer immer Premier wird, muss für Britannien einen Deal finden. Es kommt weniger auf das Geld an, aber ein Versagen bei der Regelung der EU-Migration würde Nigel Farage eine Riesenchance geben, massenweise Tory- und Labour-Stimmen einzusammeln, und die Tories würden noch weiter nach rechts rücken."

Frances Ryan rät ebenfalls im Guardian zugleich davon ab, Jeremy Corbyn, der sich kaum für Remain einsetzte, in Frage zu stellen: All die neuen superlinken Labour-Mitglieder, die er gewonnen habe, drohten sonst zu gehen.

Tom McTague schildert in Politico.eu, wie die Labour-Abgeordneten Jeremy Corbyn gestern ihr Misstrauen aussprachen - während er dennoch an seinem Posten festhält und auf eine Demo mit ergebenen Anhängern eilte: "Die Labour-Partei hat nun eine interne Verfassungskrise und ist unfähig, einen Parteichef auszutauschen, den seine Abgeordneten nicht unterstützen."

Im Freitag behauptet Yanis Varoufakis zwar, er sei gegen den Brexit und für die Europäische Union, aber er klingt doch sehr wie ein Brexit-Anhänger, wenn er schreibt: "Obwohl ich weiterhin davon überzeugt bin, dass 'Leave' die falsche Wahl war, begrüße ich die Entschlossenheit, mit der die britische Bevölkerung dem Abbau der demokratischen Souveränität durch das der EU immanente Demokratiedefizit entgegen getreten ist. Und ich weigere mich entschieden, niedergeschlagen zu sein, auch wenn ich mich auf der Verliererseite des Referendums wieder finde. Ab jetzt muss es die Aufgabe eines jeden britischen und europäischen Demokraten sein, das Signal, das von diesem Referendum ausging, aufzugreifen, um das Establishment in London und Brüssel stärker denn je herauszufordern. Der Zerfall der EU ist in vollem Gange."

Brexit war nicht nur eine Herzensangelegenheit der abgehängten Arbeiterklasse in den Midlands, sondern auch der traditionellen Upper Class, schreibt Tina Brown (die sich in diesen Kreisen auskennt) in The Daily Beast. "Mit starken ländlichen Wurzeln aus ihren Landsitzen sind die Landadligen auf einer Linie mit ihren ergebenen Knechten und Dienern, genau wie damals, als die Fuchsjagd verboten wurde. Brexit hat den Klassenunterschieden neue Abstufungen hinzugefügt. Landadlige mit Geldproblemen sehen London, diesen internationalen Stadtstaat, der mit großer Mehrheit für Remain stimmte, als einen Mischmasch aus Polen und Frauen in Burqa, wo sie es sich nicht mal mehr leisten können, ihrer Tochter ein charmantes Pied-à-Terre gleich hinter Harrods zu kaufen."

Auch der amerikanische Philosoph Raymond Geuss, der seit 2000 eingebürgerter Brite ist, sieht in der SZ in den englischen Oberklassen eine starke Brexit-Lobby: "In diesen Milieus ist man es zwar gewohnt, sich vom großen Onkel, den USA, bevormunden zu lassen, und man konnte sich sogar dazu bereitfinden, vor den finanzstarken Chinesen und - wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ - vor den ölreichen Scheichs das Knie zu beugen, aber vor Europäern? Für sehr viele Angehörige der älteren Generation war es unerträglich, geradezu moralisch empörend, mit Kontinentaleuropäern gleichgestellt zu werden."

Rüdiger Wischenbart fallen im Perlentaucher die überraschenden Parallelen zwischen der Präsidentschaftswahl in seiner Heimat Österreich und dem Brexit-Votum auf: "Als ich die Karte mit den regionalen Abstimmungsergebnissen vom vorigen Donnerstag vor mir hatte - London, Schottland und Teile Nord-Irlands mit klarer Mehrheit für 'Remain' - konnte ich das Grundmuster mühelos auf die Ergebnisse der österreichischen Präsidentschaftswahlen von Ende Mai übertragen. London/Wien, Schottland/Vorarlberg, sowie weitere Mehrheiten in urbanen Wahlbezirken für die eine Seite, der Rest genau andersrum."

Und die Franzosen machen sich laut Le Monde große Sorgen: Im EM-Viertelfinale werden sie auf die Isländer treffen, die bereits die starken Engländer geschlagen haben.


Nun trudeln so langsam auch Vorschläge ein, was die EU besser machen sollte, um bei den Bürgern beliebter zu werden. Die Sozialdemokratin Gesine Schwan rät in der taz, mehr Geld auszugeben: "Mit einem von der Kommission aufgelegten und von den Nationalstaaten zu billigenden Fonds könnten wir eine humanitäre und durch Regeln gesteuerte freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen in ganz Europa und zugleich eine Wende hin zu einer europäischen Investitions- und Wachstumspolitik schaffen. "

Auch Navid Kermani bekennt in der FAZ seine Betroffenheit. Er möchte, dass die EU ein Fundament baut - "und dann lasst die Menschen abstimmen!" Grund für die jetzigen Schwierigkeiten ist für ihn das Scheitern der Verfassung im Jahr 2005, "für die nicht geworben, für die nicht gekämpft, die nicht erklärt worden war und deren Ablehnung viele europäische Regierungschefs so unbeteiligt hinnahmen, dass man den Eindruck gewann, sie seien über den Ausgang der Referenden nicht einmal traurig - eine funktionsfähige Union hätte ihnen schließlich das Vetorecht genommen."
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Politik

Adam Liptak erklärt in der New York Times die Entscheidung des Supreme Court gegen "Teile eines texanischen Abtreibungsgesetzes, das die Zahl der Abtreibungskliniken im Land drastisch reduziert hätte, so dass nur einige Kliniken in urbanen Gebieten geblieben wären". Das Gesetz erlegte Abtreibungskliniken harte bürokratische Regelungen auf, die allerdings laut Supreme Court keinen medizinischen Sinn hatten. Das heißt, "dass ähnliche Anforderungen in anderen Staaten wahrscheinlich ebenso verfassungswidrig sind, und es gefährdet eine Menge andere Regelungen in Abtreibungsfragen. Die Entscheidung wird ganz sicher auch Abtreibungsgegner mobilisieren und Abtreibung zu einem zentralen Thema des Präsidentschaftswahlkampfes machen."
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Ideen

Im Interview mit der Jungle World überlegt Diedrich Diederichsen, was sich verändert hat, seit sein Buch "Politische Korrekturen" vor zwanzig Jahren erschien und was aus der Neuen Rechten und ihrem Anti-PC-Diskurs wurde: "Dass der Anti-PC-Diskurs große Mengen von Leuten, um nicht zu sagen Massen erreicht hat, ist ein Phänomen, das sich erst durch die Internetkultur entwickelt hat. ... Nur interessanterweise sind ihre Chefs oft gar nicht mehr die Autoritäten alten Schlags, mit denen sie sich identifizieren wollen; diese heimatlosen autoritären Charaktere haben niemanden mehr, dem sie folgen können, deswegen müssen sie sich ihren abendländischen Neotraditionalismus zu Hause mit der Laubsäge basteln und unkontrolliert im Internet ausprobieren. Die hören nicht auf Vordenker, die sind auf ganz grauenhafte Weise emanzipiert in ihren selbsterfundenen autoritären, rassistischen Identitäten."

Außerdem in der Jungle World: Klaus Theweleit versucht im Interview das Massaker von Orlando zu erklären.

Isolde Charim erklärt in der taz, wofür Claus Leggewie eine "Konsultative" fordert: "Diese 'Zukunftsräte' sind ein Bürgerbeteiligungsverfahren, das Zukunftsthemen - von der Endlagersuche bis zur Flüchtlingsthematik - konkret behandeln und beraten soll. Konkret heißt dabei: vom eigenen Betroffensein ausgehend, gesellschaftliche Lösungen erstreiten. Das Narrativ sollte sich also als Zukunftserzählung aus dieser Form entwickeln."
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Gesellschaft

In der NZZ nimmt Claudia Schwartz Alice Schwarzer vor Rassismus-Vorwürfen in Schutz, plädiert aber für mehr argumentative, statt polemischer Schärfe in der Auseinandersetzung mit Sexismus und Rassismus. "Mit ähnlicher Deutungshoheit, wie sie vor ein paar Jahren in der Kopftuchdebatte - 'Geschlechter-Apartheid' - allen Kopftuchträgerinnen einen eigenen Willen absprach, bezeichnet sie die Schuldigen der Kölner Silvesternacht nun - so pauschal wie unpräzise - als die 'fanatisierten Anhänger eines Scharia-Islam'. Und Schwarzer dreht weiter an der Polemik-Schraube, wenn sie schreibt, es gäbe die AfD und den erstarkenden Rechtspopulismus gar nicht, hätten 'die etablierten Parteien von links bis rechts' nicht über Jahrzehnte das zunehmende Malaise der 'Menschen mit dem Scharia-Islam' ignoriert."
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