9punkt - Die Debattenrundschau

Das schlechte Gewissen der Demokratie

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2017. Helmut Kohl ist tot. Bettina Gaus erinnert daran, wie die deutsche Linke den Kanzler unterschätzte. Bei Emma.de erklärt Necla Kelek, warum sie Lamya Kaddors Aufruf zur Ramadan-Demo wenig glaubwürdig findet. Bei hpd.de erklärt Mina Ahadi, warum es so wichtig war, einen "Zentralrat der Ex-Muslime" zu gründen. Und die Diskussion hat geholfen: Die Antisemitismus-Doku "Auserwählt und ausgegrenzt" wird nun doch in der ARD gezeigt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.06.2017 finden Sie hier

Europa

Helmut Kohl überall - unmöglich im Perlentaucher widerzuspiegeln. Spurenelemente einer Selbstkritik der Linken, die Kohl lange unterschätzte, finden sich bei Bettina Gaus in der taz: "Zunächst glaubten sie, ihn achselzuckend und spöttisch als Übergangserscheinung abtun zu können. Der Spitzname 'Birne' schien Kohl hinreichend zu charakterisieren - warum sollte man sich intellektuell ernsthaft mit ihm auseinandersetzen? In den Augen der Opposition war seine Erklärung, die 'geistige und moralische Wende' herbeiführen zu wollen, nicht bedrohlich, sondern lächerlich. Was für ein Irrtum! Die Gegner von Helmut Kohl haben lange übersehen, wie groß sein Bedürfnis nach Macht war. Und wie ausgeprägt seine Fähigkeit, sie zu festigen."

Für alle, die Kohls beim Abendessen gedenken wollen, bringt politico.eu das Rezept für gefüllten Saumagen.

Es ist fast unmöglich im Brand des Grenfell Towers nicht ein Symbol für alles zu sehen, was in Britannien gerade schiefläuft, schreibt Tom McTague in politico.eu: "In fünf Minuten Entfernung vom städtischen Wohnblock, steht eine Doppelhaushälfte mit fünf Zimmern zum Verkauf. Der aufgerufene Preis: 15 Millionen Pfund. Oligarchen und Uber-Fahrer Seite an Seite. Die einen leben in den teuersten Straßen Europas, die anderen in gemieteten Wohnungen des Stadtbezirks, der sich dafür entschied das Heim seiner ärmsten Einwohner nicht mit Sprinkler-Anlagen auszustatten."

Gerade in einem Europa, in dem sich überall der Nationalismus wieder breitmacht, beobachtet André Wilkens, dass die deutsche Übermacht immer größer zu werden scheint. Er insistiert in der taz: "Die Europäische Union ist eine ziemlich elegante Lösung der deutschen Frage gewesen. Wenn sich diese nun wieder stellt, hat Europa ein Problem. Deshalb müssen die europäischen Nachbarn europäische Prozesse und Institutionen stärken und Deutschland fest einbinden, auch aus nationalem Eigeninteresse heraus. Ein neonationales Europa widerspricht den Interessen der europäischen Länder, das wissen wir aus der Geschichte." Ebenfalls in der taz geißelt Claus Leggewie den mangelnden Europa-Diskurs der Grünen.

Der Aufruf zur heutigen Ramadan-Demo, die von Lamya Kaddor in Köln veranstaltet wird, suggeriert, dass der Islam eine Religion des Friedens sei und dass Terroristen letztlich nichts mit der Religion zu tun hätten. Necla Kelek findet das auf emma.de heuchlerisch: "Denn so wie die Nazis zu Deutschland gehörten, gehören die Terroristen zur Umma, ist der Islamismus Teil des Islam. Damit müssten wir Muslime uns dringend auseinandersetzen. Solange dies nicht geschieht, ist so eine Ramadan-Demo unglaubwürdig."
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Gesellschaft

Im Gespräch mit Florian Chefai von hpd.de erklärt Mina Ahadi, warum es wichtig war, einen "Zentralrat der Ex-Muslime" zu gründen: "Viele Menschen aus sogenannten islamischen Ländern werden automatisch als Muslime bezeichnet, obwohl viele von ihnen nichts mit dem Islam und islamischen Organisationen zu tun haben wollen. Die Politik tut aber so, als ob der Islam eine Erbsache wäre. Dahinter steht eine rassistische Sichtweise, die Gruppenidentitäten stärkt. Das ist nicht Ordnung! Ich selbst musste erleben, wie ich im Laufe der Zeit von der 'Ausländerin' in den Augen vieler immer mehr zur 'Muslima' wurde."
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Internet

Die Lust der SPD, ins Netz hineinzuregieren, ist einfach allzu groß - da will man sich auch nicht die Kritik des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag, des Normenkontrollrats (der die finanziellen Auswirkungen von Gesetzen prüft) und anderer Institutionen zu eigen machen, berichtet Friedhelm Greis in Zeit online mit Blick auf das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG): "Unberührt von anderslautenden Gutachten zeigt sich die Regierung auch mit Blick auf die Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem Europarecht. Neben einer Studie im Auftrag des IT-Branchenverbandes Bitkom ist auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags zu dem Ergebnis gekommen, dass das Gesetz gegen das sogenannte Herkunftslandprinzip verstößt."
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Medien

Nun wird die Antisemitismus-Doku "Auserwählt und ausgegrenzt" doch bei den Öffentlichen-Rechtlichen gezeigt - am Mittwoch, den 21.  um 22.15 Uhr in der ARD. Anschließend soll bei Sandra Maischberger diskutiert werden, berichtet unter anderem der Tagesspiegel. Der WDR bleibt aber laut einer Presseerklärung bei der Kritik an handwerklichen Mängeln des Films: "So enthält der Film Tatsachenbehauptungen, für die es nach jetzigem Kenntnisstand des WDR keine ausreichenden Belege gibt. Auch sind Betroffene mit den im Film gegen sie erhobenen Vorwürfen nicht konfrontiert worden. Das aber gehört zu den Standards der journalistischen Arbeit. Darüber hinaus sind offenbar Persönlichkeitsrechte verletzt worden."

Der Ringier-Chef Marc Walder erklärt im Interview mit Rainer Stadler von der NZZ, wie die polnische Regierung Druck auf ausländische Medienkonzerne macht, die polnische Zeitungen besitzen: "Staatsnahe Unternehmen placieren ihre Inserate nicht mehr in unseren Medien. Das kostet uns schnell Millionen Euro." Und weiter "Ich schließe kategorisch aus - und dies gilt auch für Axel Springer -,  dass wir uns in Polen von unseren Zeitungen, Zeitschriften oder  Internetportalen trennen wollen, weder von einzelnen noch von allen. Wir wollen auch in Polen wachsen."
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Ideen

Die Troll-Strategie des Spiegel-Redakteurs Johannes Saltzwedel hat funktioniert. Er bugsierte Rolf Peter Sieferles Buch "Finis Germania" auf die NDR-Sachbuchliste und gab ihm dadurch Relevanz (unsere Resümees hier und hier). Als erste große Zeitung bespricht die Welt das posthum herausgegebene Pamphlet. In seiner Rezension wirft Eckhard Fuhr dem Herausgeber Raimund Kolb Etikettenschwindel vor, da das von ihm als provokant zugespitzte Reaktion auf gegenwärtige Krisen annoncierte Buch lediglich "Abgestandes und Abgeschmacktes" enthalte, das womöglich schon vor Jahrzehnten geschrieben wurde.

Ob durch die weitere Thematisierung dem enormen Erfolg des Buches nicht weiterer Auftrieb gegeben werde? "In dieser Hinsicht in das Kind schon in den Brunnen gefallen", meint der Historiker Volker Weiß, der im Gespräch mit Mara Delius ebenfalls in der Welt auf den "Taschenspielertrick" von Sieferles Hauptargument hinweist, die vermeintlich selbszerstörerische deutsche Flüchtlingspolitik sei auf die Schuld am Holocaust zurückzuführen. Tatsächlich habe der Holocaust in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung überhaupt keine Rolle gespielt, so Weiß: "Die Probleme der Mittelmeeranrainer sind viel größere, das Thema ist kein nationales, sondern ein europäisches. Genau besehen ist es ein globales Problem, da hilft der Hinweis auf die deutsche Geschichte nicht viel. Die reflexhafte Verknüpfung der deutschen Vergangenheit mit nahezu jedem Thema wird hier von den Rechten selbst geleistet, nur eben negativ. Für jeden Missstand, den sie glauben auszumachen, wird von ihnen seit Jahrzehnten die kritische Aufarbeitung der deutschen Geschichte verantwortlich gemacht." Für den DLF hat sich Joachim Scholl mit dem Politologen Herfried Münkler über "Finis Germania" unterhalten.

In der FAZ erklärt die Soziologin Barbara Kuchler ziemlich bündig, was Populismus ist: "Populismus ist immer parziell, parasitär und reaktiv: Er ist das schlechte Gewissen der Demokratie, das dieser ihre eigenen, selbstverkündeten Ansprüche entgegen hält, die sie - wie jedes System und jedes Ich sein eigenes Selbstideal - nicht voll erfüllen kann."

In dieser einstündigen France Culture-Sendung spricht Emmanuel Faye in einer aktuellen Sendung über Martin Heidegger, den Nazismus in der Philosophie und Hannah Arendt:

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