9punkt - Die Debattenrundschau

Das Narrativ der tapferen Insel

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2017. Über Christopher Nolans "Dunkirk"-Film wird weiterhin auf den Meinungsseiten der internationalen Presse diskutiert: In der New York Times wirft Yasmin Khan dem Film vor, die kolonialen Truppen in der Schlacht vergessen zu haben.  Was die Deutschen im Diesel-Skandal nicht begreifen, ist, dass ihnen die Geschichte davon läuft, meint Sascha Lobo in Spiegel online. In der FAZ wundert sich Josef Schuster vom Zentralrat der Juden über die Kriterien von Arte, wenn es um Israel geht. In der Zeit macht Judith Butler mit Blick auf Diskursgegnerinnen wie Alice Schwarzer klar, dass sie es ganz und gar nicht schätzt, wenn man nicht so denkt wie sie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.08.2017 finden Sie hier

Geschichte

Christophe Nolans "Dunkirk"-Film hat zumindest das Verdienst, historische Debatten auszulösen (außer in Deutschland, so scheint es, da hat man die Vergangenheit schon bewältigt). Zwei franzöische Autoren warfen ihm neulich vor, den französischen Anteil an der Evakuation der Briten aus dem Kriegsgeschehen nicht kenntlich gemacht zu haben (unser Resümee). Richard Cohen warf dem Film in der Washington Post vor, die Kriegsschuld der Deutschen nicht zu benennen. Nun weist Yasmin Khan in der New York Times darauf hin, dass die kolonialen Truppen, die auch in Dünkirchen schon präsent waren, bei Nolan nicht eine Sekunds ins Bild gerückt werden. Dabei findet sie die Geschichten, die sich die Briten vom Krieg erzählen, etwas verkürzend. "Vor allem lässt das Narrativ der tapferen Insel, die die Deutschen zurückschlägt, die imperiale Dimension des Krieges außer Acht. Viele Menschen in den Kolonien wurden in einen üblen Konflikt hineingezogen, der jenseits ihrer Kontrolle lag. Britannien brauchte die Kolonien - Indien, Südostasien, Afrika und der Karibik - immer schon für Menschen, Material und Unterstützung, aber das galt nie mehr als im Zweiten Weltkrieg. Gut fünf Millionen Menschen aus dem Empire wurden in Militärdienste eingezogen. Nicht Britannien, sondern das Empire schlug sich im Zweiten Weltkrieg." Ähnlich Sunny Singh im Guardian.
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Politik

Jannis Hagmann schreibt in der taz den Nachruf auf den Netzaktivisten Bassel Khartabil Safadi, der offenbar schon im Oktober 2015 hingerichtet worden ist - seine Frau hat auf Facebook mitgeteilt, dass sie hierüber nun Gewissheit hat: "Im März 2012, nur ein Jahr nach den ersten Protesten in Syrien, hatten Kräfte des syrischen Regimes Bassel Khartabil Safadi festgenommen. Wenig später starteten Aktivisten die '#FreeBassel'-Kampagne; auch Human Rights Watch und Amnesty International machten auf das Schicksal des gut vernetzten Softwareentwicklers aufmerksam. Nun ist sicher, dass auch er zu den schätzungsweise 18.000 Menschen zählt, die das Assad-Regime seit Beginn des Konflikts 2011 in syrischen Gefängnissen hat umbringen lassen."
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Gesellschaft

In der Zeit schreiben Judith Butler und Sabine Hark, Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin, einen bitterbösen Brief, in dem sie sich über Alice Schwarzer und Patsy l'Amour laLove (mehr hier) beklagen, die "mit unvergleichlichem Furor und beißender Härte", mit "ruchloser Rede" und "Simulation von Kritik" Gendertheorien kritisierten: "Unter dem Deckmantel sich schonungslos gebender Kritik beteiligen sie sich genussvoll und bar jeglicher belastbarer Belege am vorurteilsvollen Bashing der Gender- und Queer- Studies." Auweia!

Butler und Hark beziehen sich unter anderem auf den Artikel "Sargnägel des Feminismus?" von Vojin Saša Vukadinović aus der Juli-Nummer von Emma (er steht jetzt online), der die Diskursmodelle der Gender Studies ziemlich gnadenlos demontiert.

Es gbt zwei Modelle der Innovation, schreibt Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne, die Verbesserung des Bestehenden oder der Bruch damit - die Deutschen beherrschen nur Nummer 1 und sind bereit kollektiv zu lügen, um vor sich zu verbergen, dass sie Nummer 2 nicht hinkriegen. Das zeigt für Lobo der Dieselgipfel, "ein Fanal mangelnder Digitalität des Landes. Ein Symbol des Unvermögens, den Wert der Erneuerung gegenüber dem der Verbesserung zu erkennen. Mit allen Mitteln sollte die schwindende Ära des Verbrennungsmotors verlängert werden. Denn was danach kommt, ist nicht bloß ein anderer Antrieb. Der Elektromotor ist nur ein wichtiges Puzzlestück. Das große Bild ist ein anderes gesellschaftliches Mobilitätskonzept, das auf digitaler Vernetzung beruht."

Völlig überflüssig und in jeder Hinsicht fragwürdig findet der Heidelberger Philologe Tobias Bulang in der FAZ den Versuch Gunther von Hagens, seine präparierten Leichen auf Dauer im alten Hallenbad von Heidelberg auszustellen: "Der Tod erscheint als ewiges Fitnessreich, in dem Sportler, Reiter und Liebespaare ihren Verrichtungen nachgehen. In der fetischistischen Hingabe an diesen Glücks- und Gesundheitskult, der die Sterblichkeit des Menschen noch an der Leiche selbst verkennt, kommt die Schaulust des Publikums letztlich zu sich selbst - nach dem Motto 'Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist'. Gültige Wissensvermittlung und Gesundheitsaufklärung sehen, wie viele beeindruckende Ausstellungen auf diesem Feld in unserem Land gezeigt haben, anders aus."
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Medien

Im Interview mit der FAZ wundert sich der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, über den Sender Arte, der die Doku "Auserwählt und ausgegrenzt - Der Hass auf Juden in Europa" wegen angeblicher Unausgewogenheit nicht senden wollte (unsere Resümees), aber kein Problem hatte mit der Unausgewogenheit der Reportage "Gaza: Ist das ein Leben?" (unser Resümee). Die Begründung des Senders: Der erste Film sei eine Dokumentation, der zweite eine Reportage, die per definitionem subjektiv sei. "Es ist auffällig, dass sich Arte stets auf sehr formale Begründungen bei der Beurteilung der Beiträge zurückzieht", kritisiert Schuster. "Einer inhaltlichen Auseinandersetzung ist der Sender in beiden Fällen, also bei der Judenhass-Doku und der Gaza-Reportage, ausgewichen. Warum sollte es nicht möglich sein, die Perspektive eines Protagonisten durch ein, zwei einordnende Sätze zu ergänzen? Auch eine authentische Wiedergabe einer persönlichen Sichtweise sollte für Zuschauer verständlich sein."
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Ideen

Ziemlich ideenlos extemporiert Slavoj Zizek (dem Trump einst näher war als Hillary Clinton, unser Resümee) in der NZZ über Donald Trump und seinen Hang zu Obszönitäten, der ihn bei seinen Anhängern nur noch beliebter mache.
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Wissenschaft

Inder FR erzählt Ulrich Johannes Schneider, Chef der Universitätsbibliothek Leipzig, im Gespräch mit Arno Widmann, wie er versucht, "in der digitalen Welt die Nase vorn und den Kopf oben zu behalten". Das geht nicht ohne die Idee von Open Source, die die Bibliothek "unabhängig von Monopolprodukten auf dem engen Markt der Bibliothekssoftware macht. Wir haben zum Beispiel auf Basis von Open-Source-Software die Suchmaschine 'finc' für Bibliotheken entwickelt, mit der arbeiten jetzt noch 16 andere Bibliotheken deutschlandweit. Wir suchen immer Partner."

Außerdem: In der NZZ begeht der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger die unsicheren und sich bewegenden Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.
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