9punkt - Die Debattenrundschau

Karlsruhe sei hyperaktiv

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2017. Warum wird die Europa-Debatte in Deutschland eigentlich von so alten Männern dominiert, fragt das Merkur-Blog. Politico.eu wirft einen Blick auf die protestantische nordirische Partei DUP, einen gefährlichen Bündnispartner der Brexiteers. Über Trumps Jerusalem-Entscheidung wird weiter gestritten. Die NZZ fürchtet, dass Toronto von Google zu einer allzu smarten City gemacht wird. Die SZ schildert, wie der Messenger Telegram.org in Russland genutzt wird, um die Zensur zu umgehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.12.2017 finden Sie hier

Überwachung

Der Vertrag ist unterschrieben: In Toronto wird Googles Mutterkonzern Alphabet mit "Sidewalk Toronto" ein Stadtviertel bauen, in dem anhand von Smartphone-Daten und Kameras Routen für selbstfahrende Autos entstehen, Ampeln Fußgänger erkennen und Lieferdienste und Müllentsorgung von Robotern im Tunnel erledigt werden, berichtet Felix Simon in der NZZ und warnt vor Überwachung, Hacker-Angriffen und einem gigantischen Testlabor, in dem "Menschen wie Samen in Neubauten" gesetzt werden und der urbane Raum als "Nutzerplattform inszeniert" werde: "Entscheiden Alphabet oder die andern User, wer eine Wohnung bekommt und wer nicht? Am Ende vielleicht noch auf Basis der persönlichen Suchhistorie oder welche Produkte man einkauft, welche Zeitungsartikel man liest? Hält der Bus morgens an einer anderen Stelle, weil die bisherige Route nicht effizient genug ist? Und was, wenn einem die Nutzungsbedingungen gegen den Strich gehen? Muss man den Stadtteil dann verlassen? Das Versprechen der Stadt war immer auch das der Freiheit; tun und lassen, was einem gefällt, kann man eher im Chaos, in dunklen Ecken und all den Zwischenräumen."
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Europa

Michael Goldfarb erinnert in politico.eu daran, wie die extrem protestantische Democratic Unionist Party (DUP), mit der sich Theresa May verbünden musste, in der Vergangenheit unter Iain Paisley jeden Fortschritt boykottierte und nun die skizzierte Grenzlösung für Irland torpedierte, weil sie sie als eine kaschierte Vereinigung Irlands ansah! Die DUP ist heute der Verbündete der harten Brexiteers, so Goldfarb: "Es war eine gloriose Woche für Marodeure. Aber vielleicht haben sie wie Paisley 1997 die Zeichen der Zeit verkannt. Die letzten Umfragen zeigen, dass selbst jene, die für den Brexit stimmten, nun einen schlechten Deal befürchten. Und immer mehr Menschen befürworten ein zweites Referendum, um über den letztlich gefundenen Vertrag abzustimmen. Sieht man sich die Umfrageergebnis an, könnte die Regierung ein solches zweites Refendum ohne weiteres verlieren." Immerhin aber, so Charlie Cooper in einem zweiten Artikel, hat die EU-Kommission heute Morgen beschlossen, die Phase 2 der Brexit-Gespräche einzuläuten.

Zurecht kritisiert Danilo Scholz im Merkur-Blog, dass die Europa-Debatte (aber ist es wirklich nur sie?) in Deutschland von sehr alten Männern dominiert wird, zu denen er Jürgen Habermas, Dieter Grimm und Heinrich August Winkler zählt. In der Folge beleuchtet er einen Macron-kritischen Beitrag des ehemaligen Verfassungsrichters Grimm (unser Resümee) und nebenbei die Rolle der Gerichte im europäischen  Prozess: "Als das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon unter die Lupe nahm, berichtete sogar der britische Economist ehrfürchtig über 'Germany's most powerful institution', ein Organ, in dem für manche zum Ausdruck komme, dass die Bundesrepublik dem Rechtsstaatsprinzip den Vorrang vor der Demokratie gebe. 2009 widersprach der damalige Präsident Hans-Jürgen Papier energisch Vorwürfen, Karlsruhe sei hyperaktiv und habe selbst jahrelang der Verrechtlichung des Politischen Vorschub geleistet. Doch an einer Sache ließ der Economist keinen Zweifel: Die Gerichtshöfe in Karlsruhe und Luxemburg belauern sich misstrauisch, beäugen argwöhnisch jeden Entschluss des Gegenübers: High-Noon unter Juristen."
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Politik

In der NZZ spricht die Philosophin und Islamforscherin Amel Grami über die "schleichende Islamisierung" in Tunesien und die Gründe, weshalb sich im vergleichsweise fortschrittlichen Tunesien, viele junge Frauen radikalislamistischen Bewegungen anschließen. Es gelte zu unterscheiden zwischen Frauen, die von Mann oder Familie verpflichtet würden, in den Jihad zu ziehen und jene, die sich freiwillig, aus "Abenteuerlust" oder Sinnsuche dazu entschlossen haben. Zudem fehle eine "Gegenerzählung" zu jihadistischer Literatur und Propaganda: "Diese Frauen entsprechen nicht den Stereotypen, die in der arabischen Welt und auch in Europa über sie existieren. Sie haben weder Angst, noch sind sie folgsam und gefügig oder unterwerfen sich einfach irgendwelchen Normen. Wir können feststellen, dass ein neuer Frauentypus im Entstehen begriffen ist; Frauen, die in der Lage sind, Grenzen zu überwinden und unabhängig von Männern eigenständige Entscheidungen zu treffen, Frauen, die ein Lebensprojekt haben. Für mich als Islamwissenschafterin ist zudem wichtig, dass diese Frauen eigenständig über die religiösen Texte nachgedacht haben."

Im FAZ-Interview wirft der palästinenische Schriftsteller und Politikwissenschaftler Atef Abu Saif Trump Geschichtsklitterung vor und erklärt, weshalb die Palästinenser nicht mehr an eine Zwei-Staaten-Lösung glauben: "Die meis­ten Pa­läs­ti­nen­ser wol­len ei­ne Lö­sung, aber sie wis­sen, dass die­se Lö­sung mit im­mer grö­ße­rer Wahr­schein­lich­keit nur um den Preis des Ver­zichts auf das West­jor­dan­land zu ha­ben ist. Jetzt, wo die Ame­ri­ka­ner sehr deut­lich ge­macht ha­ben, auf wes­sen Sei­te sie ste­hen, wer­den sie und die Is­rae­lis auf die pa­läs­ti­nen­si­schen Bedürfnis­se kla­re Ant­wor­ten ha­ben: Ihr wollt ei­nen Ha­fen? Ihr habt ihn in Ga­za. Ihr wollt ei­nen Flug­ha­fen? In Ga­za."

Hass, Terror und Anschläge hat es auch bisher gegeben, winkt Alan Posener in der Welt ab, daran werde auch Trumps Plan, die US-Botschaft nach Israel zu verlegen nichts ändern. Im Gegenteil, auch in Europa müsse man nun endlich die Realität anerkennen, nämlich, dass Israel nie auf Jerusalem als Hauptstadt verzichten werde, meint er: "Je deutlicher den Arabern klargemacht wird, dass der Westen hinter Israel steht, desto eher wird man auch in Ramallah und Gaza die Realität anzuerkennen bereit sein. Wenn zugleich, wie Trump angekündigt hat, ein härterer Kurs gegen den Iran gefahren wird, der für die sunnitischen arabischen Regime der eigentliche Gegner ist, kann Trumps Geste, allem Geschrei derjenigen zum Trotz, die den arabischen Nationalismus und den muslimischen Fanatismus beschwichtigen möchten, tatsächlich den Frieden näher bringen."

Trumps Entscheidung sei lediglich ein symbolischer Akt, meint hingegen Malte Lehming im Tagesspiegel: "Mindestens ebenso lächerlich aber wie der Alarmismus ist der Triumphalismus. Was Trump anbelangt - der kann nicht anders. Der gehört so. Aber dass die israelische Regierung, namentlich Premier Benjamin Netanjahu, so tut, als sei erneut Goliath von David besiegt oder eine feindselige arabische Übermacht von einer tapfer kämpfenden israelischen Armee geschlagen worden, deutet auf einen tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex hin. Wie klein muss Netanjahu sich fühlen, wenn er seine engen Bande zu Trump als das Größte preist, was ihm und seinem Land widerfahren ist? Wie erbärmlich mutet es an, wenn diese Freundschaft über alles andere gestellt wird."
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Medien

(Via turi2) Der bekannte Medienjournalist Kai-Hinrich Renner geißelt im Abendblatt das "große Ärgernis"  Landesmedienanstalten, die offiziell dazu da sind, die Privatsender zu überwachen, aber meist nichts weiter tun, als der von Alexander Kluge mit gehaltenen Firma DCTP die Aufträge zu verlängern: "Für die Sender sind die Landesmedienanstalten letztlich Papiertiger. Wenn ihnen die Entscheidungen der für sie zuständigen Anstalt nicht passen, wechseln sie einfach zur nächsten. So meldete sich beispielsweise Sat.1 nach dem Ärger mit der rheinland-pfälzischen LMK einfach bei der Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein an."

Außerdem: Daniel Bouhs meldet in der taz, dass der WDR dem Druck der Verleger nachgibt und auf seiner Website weniger Texte präsentieren will.
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Internet

In der SZ stellt Julian Hans das von Pawel Durow gegründete, "Whatsapp" nachempfundene russische Chat-Programm "Telegram" vor, das über verschiedene Kanäle Insider-Informationen aus dem Kreml, den Ministerien und aus russischen Behörden verbreitet, noch bevor sie in anderen Medien auftauchen. Vom Kreml inzwischen ebenso genutzt wie von IS-Kämpfern sei Telegram zu einer Plattform für ein Kräftemessen unterschiedlicher Einflussgruppen in der russischen Politik geworden: "Der riesige Erfolg der Chat-Nachrichten ist nicht verwunderlich, denn je stärker die traditionellen und inzwischen auch die sozialen Medien in Russland unter Druck geraten, desto beliebter werden Schlupflöcher wie Telegram. Was eine Zeitung vielleicht nicht druckt, weil die Information sie in Schwierigkeiten bringen könnte, das kann der Autor stattdessen anonym über Telegram in die Welt schicken. Auf Journalisten fällt deshalb auch der erste Verdacht, wenn darüber spekuliert wird, wer hinter den Kanälen stecken könnte."

Obwohl sowohl Privatleute als auch Unternehmen immer mehr Daten verbrauchen, hinkt der Breitbandausbau in Deutschland immer noch hinterher, konstatiert Tomas Rudl  nach Lektüre eines Berichts der Bundesnetzagentur: "Die Technik der Wahl bleibt unverändert kupferbasiertes DSL. Alle anderen Anschlussvarianten, inklusive die der Kabelnetzbetreiber, teilten sich wie schon im Vorjahr nur rund ein Viertel des Marktes." Schuld am mangelnden Ausbau mit Glasfaser, so Rudl, ist die Telekom, die überdies von der Regierung protegiert wird.
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Gesellschaft

In der Welt reagiert Necla Kelek auf den gestern an gleicher Stelle veröffentlichten Vorwurf der Staatssekretärin für Integration in Nordrhein-Westfalen, Serap Güler, sie stelle die Muslime in Deutschland mit ihrer "plumpen" Kritik an Zwangsehen "unter Generalverdacht". Kelek konstatiert aufgrund empirischer Erfahrungen eine "Kulturdifferenz", betont, dass Religionskritik zur Aufklärung gehöre und fordert dementsprechend von Güler: "Ja, sie müsste eine Religionskritikerin sein, weil Religion mit ihrem umfassenden Zugriff auf den Einzelnen und die Gesellschaft das Leben vieler gläubiger Menschen bestimmt. Das gilt besonders für den Islam, der im Gegensatz zur christlichen Lehre, Säkularität verweigert. Dies als 'Überdosis Islamkritik' zu verspotten, zeugt von politischer Naivität."

Im SZ-Gespräch mit Kathleen Hillebrandt erklärt die amerikanische Politologin Melissa Deckmann, warum die Belästigungsvorwürfe, die zwölf Frauen gegenüber Trump erheben, anders als bei Weinstein, Spacey und Co. keine Konsequenzen haben: "Politik und freie Wirtschaft funktionieren in dieser Hinsicht sehr unterschiedlich. Die Unterhaltungsbranche versucht mit den schnellen Entlassungen auch, Zuschauer und damit Kunden zu halten. In der Politik funktioniert das anders. Dort entscheiden die Wähler, welches Verhalten sanktioniert wird. Dabei spielen immer Parteizugehörigkeiten und Machtkalkül eine Rolle."

Außerdem: Im Interview mit Cornelia Geissler (Berliner Zeitung) spricht die Publizistin Barbara Sichtermann über die #meToo-Debatte, die Geschichte der Emanzipation und die Gefahr, dass Entwicklungen auch rückläufig sein können.
Archiv: Gesellschaft