9punkt - Die Debattenrundschau

Zusammengeraffte Dinge

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.04.2018. Ilija Trojanow hat für die FAZ Julia Kristevas bulgarische Stasi-Akte gelesen und kommt zu dem Ergebnis: So harmlos war sie wohl doch nicht. Auf La Règle du Jeu behauptet Kristevas Ehemann Philippe Sollers unterdessen, die Akten seien erfunden. In Dlf Kultur liest Bernhard Pörksen "Die Zeit der Zauberer" von Wolfram Eilenberger - und blickt beschämt auf den gegenwärtigen Zustand der Debatte. Heute stellt sich Mark Zuckerberg den Fragen der amerikanischen Abgeordneten. Sie sollten ihn am besten gar nichts fragen, meint Zeynep Tufekci in der New York Times.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.04.2018 finden Sie hier

Ideen

Ganz so ohne ist die IM-Akte Julia Kristevas vielleicht doch nicht, scheint es zumindest, wenn man Ilija Tojanows Bericht in der FAZ liest: Der bulgarischstämmige Autor hat sich die Akte genauer angesehen und zum Beispiel aus der Paginierung ersehen, dass einiges darin auch fehlen muss - nämlich die schriftlichen IM-Berichte Kristevas: "Dokumentiert sind nur ihre mündlichen Berichte, zum Beispiel über französische Intellektuelle von der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), über Kämpfer aus dem palästinensischen Widerstand, über China und die französischen Maoisten, mit denen Frau Kristeva zwischen 1971 und 1976 (vorgeblich?) sympathisierte - die Redaktion der Zeitschrift Tel Quel, der sie angehörte, hatte 1971 ihre Unterstützung für den Maoismus erklärt; die Redaktionsmitglieder, darunter Philippe Sollers, Roland Barthes und eben Julia Kristeva, besuchten 1974 höchst offiziell China. Aber auch über bulgarische Emigranten in Paris berichtete die Agentin..."

In Bernard Henri Lévys Blog La Règle du Jeu hat sich jetzt auch der in Frankreich weltberühmte Philippe Sollers, Kristevas Ehemann, geäußert. Er zeigt sich "bestürzt über die Leichtgläubigkeit" der französischen Medien und bezweifelt die Seriosität der Akten, die von den "alten totalitären Geheimdiensten erfunden" worden seien - eine Vermutung, die Trojanow in der FAZ mit plausiblen Argumenten zurückweist.

Bernhard Pörksen hat für Dlf Kultur Wolfram Eilenbergers Buch "Zeit der Zauberer" gelesen, eine Beschreibung der Philosophie in der Weimarer Zeit, in der öffentliche Intellektuelle noch lebendiger diskutierten, und muss bei der Lektüre irgendwann einsehen: "Die Beschwörung des existenziellen Philosophierens ist eine kaum verhüllte Anklage. Es ist eine Anklage, die sich an die gegenwärtige universitäre Philosophie und den akademischen Betrieb der Geistes- und Sozialwissenschaften richtet. Sie handelt vom Ausstrahlungs- und Energieverlust des Denkens in Zeiten der Drittmittelhetze und der Dauer-Begutachtung, letztlich von der allmählichen Vertreibung der Zauberer aus den Räumen der Universität." Denn heute, so Pörksen, komme es für Geisteswissenschaftler nicht mehr darauf an, durch Ideen zu brillieren, sondern durch die schiere Zahl von Fachaufsätzen, die dem Publikum verborgen bleiben, und durch die Akquise von Drittmitteln.
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Internet

Heute und morgen wird ein sich tief zerknirscht gebender Mark Zuckerberg vom Kongress in Washington befragt. Zeynep Tufekci gibt in der New York Times schon mal eine überraschende Antwort auf die Frage, was die Abgeordneten Zuckerberg fragen sollten: "Gar nichts." Ihr Argument: "Der Anblick von Gesetzgebern, die Herrn Zuckerberg anschreien, mag kathartisch sein, aber die Gefahr eines öffentlichen Spektakels ist, dass es aussehen wird wie Fortschritt, aber in Wirklichkeit nichts bringt: ein paar Entschuldigungen von Herrn Zuckerberg, einige ernste Versprechen, es besser zumachen, gefolgt von ein paar oberflächlichen Veränderungen an Facebook, die die zugrundeliegenden strukturellen Probleme nicht zu lösen vermögen. So sieht die PR-Strategie von Facebook schon seit Jahren  aus."
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Europa

Die triumphale Neuwahl Viktor Orbans ist mal wieder ein Beispiel dafür, dass kollektive Unvernunft möglich ist, kommentiert Ralf Leonhard in der taz: "Brüssel eignet sich gut als Melkkuh, die keinem anderen Land pro Kopf mehr Strukturförderung zukommen lässt als Ungarn. Neue Straßen, schönere Beleuchtung und mehr Arbeitsplätze werden als Verdienst der Regierung verkauft. Mit diesem Geld lassen sich aber auch Loyalitäten erkaufen. Auf die ausufernde Korruption hinzuweisen, hat der Opposition aber genauso wenig geholfen wie das Thematisieren der Krankenhausmisere und des Bildungsnotstands. Orbans Fans wissen davon, nehmen das aber in Kauf."
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Stichwörter: Ungarn, Orban, Viktor

Kulturpolitik

Lorenz Rollhäuser kritisiert in der taz, dass beim Thema Rückgabe illegitim erworbenen Kulturguts im Humboldt-Forum noch so gut wie gar nichts geschehen sei. "Zwar ist die Provenienzforschung Voraussetzung für alles Weitere, es fällt aber auf, dass nie gesagt wird, was aus dieser Forschung logischerweise folgen müsste: Objekte, die illegal angeeignet wurden, auch zurückzugeben, sofern es die Herkunftsgesellschaften so wollen. Dafür müsste man sich vom Anspruch verabschieden, nur die Universalmuseen westlicher Demokratien könnten das kulturelle Erbe der Menschheit angemessen zeigen und bewahren." Druck komme aber unter anderem aus Frankreich, wo Emmanuel Macron Initiativen für französische Museen angekündigt hat.

Jörg Häntzschel unterhält sich für die SZ mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und dem Schriftsteller Felwine Sarr, die von Macron beauftragt wurden, die Restitution von afrikanischen Kunstwerken zu organisieren. Savoy, die zuvor in Berlin wirkte und einen Eklat beim Humboldt-Forum auslöste, spricht einen  Unterschied zwischen französischer und deutscher Museengeschichte an: "Es fängt bei der Vorstellung davon an, was ein Museum ist. In Frankreich weiß jedes Kind, dass ein Museum voller zusammengeraffter Dinge ist. Die Museen hier wurden in der Französischen Revolution geboren. Ihre Sammlungen stammen aus Beschlagnahmungen des Besitzes von Adel, König und Klerus und dann natürlich von den Feldzügen Napoleons. Jedes Label im Louvre erzählt davon. Kein Mensch hier käme auf die Idee, dass Museen 'sauber' sind. In Deutschland glaubt man das."
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Geschichte

In der FAZ schreibt Stefanie Schüler-Springorum zum Tod des Historikers Reinhard Rürup. Ebendort antwortet der Historiker Ulrich Keller, der über die erste Phase des Ersten Weltkriegs geschrieben hat (es geht um die Frage, ob sich belgische Freischärler gegen den Einmarsch deutscher Truppen gewehrt hatten, was er bejaht) auf einen Artikel seiner Konkurrenten John Horne und Alan Kramer.
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Gesellschaft

Caroline Fetscher inspiziert für den Tagesspiegel die Unterzeichner der "Gemeinsamen Erklärung 2018", die bekanntlich von Vera Langsfeld lanciert und unter anderem von Uwe Tellkamp und Thilo Sarrazin erstunterzeichnet wurde. Insgesamt findet sie: "Es sind besorgniserregende Bürger, die erregten Besorgten... Immerhin rund 2.000 der nun angeblich 80.000 Unterzeichner tauchen mit Namen auf. Hoch ist nicht nur der Anteil Ostdeutscher, sondern auch der Anteil derer, die angeben auf kreativem Terrain tätig zu sein. Es gibt 213 Autoren, 62 Publizisten, 58 Journalisten, 32 Blogger, 22 Übersetzer und 20 Schriftsteller. 53 nennen sich Berater, darunter auch ein 'Creative Consultant', ein älterer Herr der AfD aus Zwickau, 'evangelisch-lutherisch im kündigenden Zustand'."

Gruselig klingt, was eine anonym bleibende Lehrerin auf emma.de über Mobbing und islamistische Parolen, besonders von Jungen, an Schulen erzählt, noch gruseliger aber ihre Feststellung, dass Schulleitungen diese Probleme am liebsten verdrängen, weil es ihnen nur um ihren Ruf bei der Obrigkeit zu tun ist: "Das System Schule ist so betoniert, dass innerhalb dieses Systems kaum Besserung zu erhoffen ist. Die Politik müsste die Schulen zwingen, dafür Sorge zu tragen, dass der Islamismus und alle seine Folgen - Benachteiligung von Mädchen, Verachtung der Lehrerinnen, Intoleranz gegenüber anderen Religionen et cetera - an der Schule aktiv bekämpft und gebrandmarkt werden. Bislang wollen die Schulen nur 'Schule gegen Rassismus' sein, nicht aber 'Schule gegen Sexismus' - und schon gar nicht 'Schule gegen Islamismus'."
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