9punkt - Die Debattenrundschau

Trendy Widerstand

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2018. In vielen Medien wird über Rassismus diskutiert: Diskriminierung läuft nur in eine Richtung, versichert die SZ. "Persons of color" sitzen nicht alle im selben Boot, erkennt dagegen die Künstlerin Moshtari Hilal im Freitag. Die SZ schildert außerdem das Engagement der Familie Badawi gegen die saudische Autokratie. In der taz prangert Architekturprofessor Stephan Trüby Rekonstruktionen wie die Frankfurter Altstadt oder das Berliner Stadtschloss als "rechts" an.  In der FR verrät Sahra Wagenknecht, wie "Aufstehen" funktionieren soll.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.08.2018 finden Sie hier

Ideen

Etwas verwirrend klingt das Resümee in Micha Brumliks taz-Artikel über Erasmus als Namensgeber der AfD-Parteistiftung. Die AfD, so Brumlik, mache aus Erasmus einen "einen aufgeklärten, letztlich intoleranten Verteidiger des christlichen Abendlandes". Ist Aufklärung letztlich intolerant? Brumlik selbst stellt Erasmus als einen Pazifisten dar, der zwar Versöhnliches über Muslime schrieb, zugleich aber Antisemit gewesen sei: Vor allem die getauften Juden, die Marranos hätten seinen  Verdacht erregt: "Während ihm die ungetauften Juden als Inbegriff des Starrsinns galten, witterte er zumal in getauften Juden eine besondere Gefahr: 'Unter dem Deckmantel der Verteidigung des Glaubens', so Erasmus 1531, 'wird die Welt mit Raub erfüllt. Spanien hat viele geheime Juden, Deutschland sehr viele, die von Natur aus oder durch Kriege geübt der Räuberei zuneigen. Dieses Gesindel wird erst Deutschland und dann den Erdkreis überschwemmen.'" Den eigentlichen Skandal der Parteistiftung - die Stiftungen der traditionellen Parteien haben sich so großzügig am Staatsgeld bedient, dass nun auch der AfD 70 Millionen Euro im Jahr zustehen - erwähnt Brumlik am Rande.

Drei attraktive Männer, einer etwas älter, räkeln sich auf der Terrasse eines Cafés. Bei den dreien handelt es sich um Edouard Louis, Autor des Romans "Das Ende von Eddy", Geoffroy de Lagasnerie, Soziologe, und Feuilletonliebling Didier Eribon - die Speerspitze des Pariser Linksradikalismus. "Seit acht Jahren verlassen sie sich nicht mehr", schreibt Zineb Dryef  in Le Monde einem Porträt der drei. Louis hat sich 2010 in Eribons Kurse in Amiens eingeschrieben. "Geoffroy de Lagasnerie und Didier Eribon haben sich zehn Jahre zuvor kennengerlernt. Im Alter von zwanzig Jahren folgte der Student an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales eine von Eribon präsentierten 'Soziologie der Homosexualität'. Und sie verlassen sich nicht mehr. Als Didier ihm ein Jahr später diesen jungen Studenten aus Amiens vorstellt, von dem er ihm so viel gesprochen hat, nimmt er sich sofort seiner an. Jeden Tag gehen sie ins Fitness-Studio, bevor sie Didier zum Mittagessen treffen."

"Person of color" sitzen nicht alle im selben Boot, erkennt in einem interessanten Essay im Freitag die mit ihren Eltern einst aus Afghanistan geflohene, jetzt in Deutschland lebende Künstlerin Moshtari Hilal. Denn mit diesem Begriff werden soziale Unterschiede einfach unter den Tisch gekehrt: "Was für einen Gehalt hat eine Politik, die Solidarität schaffen soll, wenn sie nicht intersektional gedacht wird, wenn Gründe für Diskriminierung nicht unterschieden werden? Wenn ökonomische und soziale Voraussetzungen der Familiengeschichte oder Ausbildung nicht benannt werden, aber gleichzeitig von 'white privilege' gesprochen wird wie von einer Eintrittskarte in den trendy Widerstand gegen den Imperialismus, dann hinkt die Analyse. Denn was heißt 'of color' für eine Person, die als Expat nach Berlin kommt, fließend Englisch spricht und im eigenen Land noch nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren ist? Im Kontrast zu jemandem, dem das Kapital und die Sprachkompetenz fehlt, um aus dem eigenen Stadtteil wegzuziehen, geschweige denn in einem anderen Land zu arbeiten, das nicht mehrheitlich weiß ist?"

Außerdem: Identitätspolitik ist rassistisch und macht Menschen zu Gefangenen der eigenen Kultur, lernt René Scheu aus dem Band "Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik". Und der Philosoph Roberto Esposito rekonstruiert in der NZZ die Genealogie des Populismus aus der Geschichte der "Biopolitik" in den letzten zwei Jahrhunderten.
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Europa

Im Interview mit Markus Decker von der FR gibt Sahra Wagenknecht ein paar Details über das weitere Prozedere bei der Gründung ihrer linken Bewegung "Aufstehen" bekannt: "Die Bewegung wird am 4. September gegründet. Dann werden die Namen aller prominenten Initiatoren bekanntgegeben und es wird eine erste programmatische Orientierung in Form eines Gründungsaufrufs veröffentlicht. Aber die Programmatik der Sammlungsbewegung wird nicht von den Initiatoren festgelegt. Die muss von den mittlerweile über 50.000 Mitstreitern der Sammlungsbewegung in den nächsten Monaten entwickelt werden." Dass es bereits drei linke Parteien gebe, bestreitet Wagenknecht in dem Interview - Grüne und SPD seien nicht links.

Das Regime Putins ist ein Regime des EX-KGB gegen die Jugend, schreibt der Schriftsteller Dmitry Glukhovsky  in der FAZ: "Es gibt nur eine Kategorie von Bürgern, die unbedingt in die Zukunft wollen: die Jugend. Doch in Putins Russland ist für sie kein Platz. Es gibt praktisch keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr, keine Meritokratie. Stattdessen sind 'unsere Leute' an der Macht. Die Hauptkaderschmiede ist der Staatssicherheitsdienst FSB. Seine Offiziere und Veteranen leiten die staatlichen Korporationen, Banken und Industriegiganten, die politischen Parteien und Ministerien."
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Gesellschaft

"Die Rechten setzen die Themen, und andere Parteien setzen sie um", schreibt Architekturprofessor Stephan Trüby in der taz und bezieht das auf die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt. Schon in einem FAS-Artikel im April hatte er die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt als ursprünglich rechtes Projekt angeprangert. Er konzediert zwar, dass nicht jede Rekonstruktion rechts sei, aber alle rechte Städtebaupolitik sei restaurativ. Und schon die Trauer um die zerstörten Innenstädte steht für ihn unter Verdacht: "Die Trauer um die zerbombten Altstädte in Deutschland ist historisch stark von ehemaligen Luftschutzaktivisten und anderen NS-Funktionsträgern geprägt worden. Sie relativierten frühzeitig den Holocaust mit ihrer Rede vom 'Bombenholocaust'. Der britische Publizist David Irving spielte hier eine zentrale Rolle. Wer sich heute auf den Internetseiten von entsprechenden Stadtbild- und Rekonstruktionsvereinen herumtreibt, stößt zuweilen auf eine Täter-Opfer-Umkehr, die ohne Irving und Konsorten nicht zu denken ist." Auch den Wiederaufbau des Berlin Stadtschlosses kritisiert Trüby im Gespräch.

Es kann keinen Rassismus gegen "weiße alte Männer" geben, versichert Till Raether in der SZ. Er gehöre selbst dieser Gruppe an und legt Wert darauf, dass Diskriminierung nur in eine Richtung funktionieren kann: "Auf der Journalistenschule sagte der Filmkritiker einer Münchner Zeitung warnend vor der Textübung, es tät' ihm Leid, aber er hätte noch nie 'ein Mädel gesehen, das eine gute Filmkritik schreiben kann'. Den Musiklehrer, der den polnischen Mitschüler 'Polacke' nannte, entschuldigte der Direktor routiniert mit dessen Kriegserfahrungen. Die Beispiele sind in alle Richtungen endlos." Ein wenig von seiner verbleibenden Manneskraft sollte sich Raether aber aufheben, um seinem ehemaligen polnischen Mitschüler zu erklären, dass er nicht "weiß" ist, wenn es um rassistische Anwürfe geht.

Identitätspolitik ist rassistisch und macht Menschen zu Gefangenen der eigenen Kultur, lernt dagegen René Scheu aus  dem Band "Die sortierte Gesellschaft"."Die Fixierung auf weiße heterosexuelle Männer als Inbegriff alles Bösen ist karikaturesk und als 'bodenlos dumme Polemik' (Pfaller) zu durchschauen - immerhin haben die Prügelknaben auch die Demokratie, die Menschenrechte, die Dampfmaschine und den PC erfunden."
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Politik

Einzelne sind es, die totalitären Herrschern oft am gründlichsten den Blutdruck erhöhen: Anna Politkowskaja in Russland, Liu Xiaobo in China, der säkulare Blogger Raif Badawi in Saudi Arabien. Moritz Baumstieger schildert in der SZ das Engagement von Badawis Frau Ensar Haidar, die inzwischen kanadische Staatsbürgerin ist und ohne die die diplomatische Krise zwischen Saudi Arabien und Kanada wohl nicht zu verstehen ist. Auch die Festnahme von Badawis Schwester Samar Badawi in Saudi Arabien steht in diesem Zusammenhang. "Samar Badawi, die ältere Schwester von Raif, hatte schon international für Schlagzeilen gesorgt, als ihr auf Arabisch bloggender Bruder im Ausland noch unbekannt war. Im Alter von 17 Jahren floh sie in ein Frauenhaus, der Vater hatte sie 15 Jahre lang körperlich misshandelt und untersagte ihr zu heiraten. Nach Samar Badawis Flucht verklagte der Vater sie wegen 'Ungehorsams'."
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Internet

Google scheint einen Wiedereintritt in den chinesischen Markt vorzubereiten und bereitet sich technolgisch auf die Erfüllung der Zensurbestimmungen vor (unsere Resümees). Ryan Gallagher, der dies Thema in The Intercept aufgebracht hat, unterhält sich mit dem ehemaligen Free-Speech-Beauftragen von Google für die Region, Lokman Tsui: "'In den letzten Jahren hat sich die Lage in China so stark verschlechtert - man kann da nicht hingehen, ohne sich selbst zu gefährden', sagt Tsui. Eine zensierte Suchmaschine in diesem Land zu starten, 'wäre ein moralischer Sieg für Peking. Peking hat nichts zu verlieren. Wenn Google also zurückgehen will, dann unter den Bedingungen, die Peking für sie festlegen würde. Ich kann nicht sehen, wie Google hier einen Deal finden soll, der positiv wäre.'"
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