9punkt - Die Debattenrundschau

Jetzt stehen wir wieder allein

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2018. In der Welt verachtet der Autor Marcelo Backes den brasilianischen Faschisten Jair Bolsonaro genauso herzlich wie das Proletariat, das mit ihm in den Untergang marschiert. Die SZ fürchtet, dass Lateinamerika für alle Zeiten aufs Verlieren spezialisiert bleibt. In der NZZ betont Marta Kijowska, dass es die Frauen sind, die in Polen politisch und juristisch den Kampf gegen die PiS anführen. Die New York Times blickt auf das von Saudi-Arabien in Armut und Hunger gebombte Jemen. Und die FAZ liest die heroische Geschichte des stolzen Britanniens.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.10.2018 finden Sie hier

Politik

Brasilien wird einen Rechtsextremen zum Präsidenten wählen, Nicaragua erschießt seine Demonstranten, und aus Honduras hat sich eine Armutskarawane auf den Weg in die USA gemacht: SZ-Korrespondent Sebastian Schoepp blickt erschüttert auf Lateinamerika, das wieder oder immer noch aufs Verlieren spezialisiert zu sein schein: "Lateinamerika ist trotz aller Versuche des Wandels ein Rohstofflieferant geblieben. Blei aus den Minen Perus, Silber aus Bolivien, Soja aus Argentinien, Rindfleisch und Erze aus Brasilien, Öl aus Venezuela und Ecuador und natürlich der tödlichste aller Rohstoffe, das Kokain, für das Mittelamerika der Korridor in die USA ist - das sind nach wie vor enorm wichtige Einnahmequellen. Reich werden durch dieses System, das man 'Extraktivismus' nennt, in erster Linie kleine Eliten, das ist am Persischen Golf nicht anders als am Amazonas."

In der Welt schleudert uns der Autor und Übersetzer Marcelo Backes seine Verachtung für Jair Bolsonaro und für das brasilianische Proletariat entgegen, das ihn morgen wahrscheinlich ins Präsidentenamt jubeln wird: "Die Brasilianer nehmen sich aus wie die jungen Russen in Tolstois 'Krieg und Frieden', die den Zar und die mütterliche Heimat bewundern und glücklich ins Blutbad ziehen."

In der taz hält Andreas Behn die Korruptionsvorwürfe gegen die Arbeiterpartei zwar für ein politisches Kampfmittel und überzogen, doch aus der Verantwortung will er sie nicht entlassen: "Eine Partei, die gerade die Armen hinter sich weiß, und trotz heftigem medialem Gegenwind vier Präsidentschaftswahlen nacheinander gewann, muss in der Lage sein, auf die Menschen zuzugehen, statt sie rechter Bauernfängerei zu überlassen."

In einem großen Report widmet sich die New York Times dem brutalen Krieg im Jemen, mit dem Saudi-Arabiens gnadenloser Kronprinz Mohammed bin Salman das kleine Land seit Jahren überzieht: "Der verheerende Krieg im Jemen hat in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit erfahren, da die Empörung über die Ermordung des saudischen Dissidenten in Istanbul auch auf die Aktivitäten Saudi-Arabiens anderswo ins Scheinwerferlicht lenkte. Die harscheste Kritik an dem von den Saudis geführten Krieg konzentriert sich auf die Luftschläge, die bereits Tausende von  Zivilisten bei Hochzeiten, Beerdigungen und in Schulbussen getötet haben, mit Hilfe von Bomben und Informationen, die aus den USA geliefert wurden. Hilsforganisationen und die Vereinten Nationen sagen, dass ein noch heimtückischer Krieg gegen den Jemen geführt wird, ein Wirtschaftskrieg, der eine viel größere Zahl an zivilen Opfer fordert und das Land in eine Hungersnot von katastrophalen Ausmaß treibt.""

Dass Emmanuel Macron eine stärkere Verteidigungskraft Europas fordert, mag ja ganz richtig sein, schreibt Welt-Autor Richard Herzinger in einem Essay über die "Transatlantische Wirrnis" in der Zeitschrift Internationale Politik, aber "dass er dafür eine Kooperation auch mit Russland ins Spiel brachte - ausgerechnet mit jener Macht also, die Europa derzeit politisch und militärisch am meisten bedroht -, zeugt von einer bedenklichen Verwirrung der Wertmaßstäbe, auf denen die Sicherheit des Westens beruht. Und es illustriert, dass ein Abrücken von den USA im Namen 'europäischer Souveränität' zur Annäherung an autoritäre Mächte führen muss, wie man dies an der Kooperation der EU mit Russland und China zur Rettung des von Washington aufgekündigten Atomabkommens mit dem Iran bereits erkennen kann."

Der gambische Journalist Saikou Suwareh Jabai erzählt von zwei Brüdern, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben und von denen einer in Libyen starb. Dennoch sieht vor allem das eigene Land in der Pflicht, seinen Menschen ein Leben in Würde zu verschaffen: "Solange wir glauben, dass die Abschiebeländer oder die internationale Gemeinschaft verantwortlich sind für die Reintegration, so lange werden wir auch nicht die Probleme lösen, die zur Migration führen."
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Geschichte

Grünen-Chef Robert Habeck, der auch Autor des Theaterstücks "Neunzehnachtzehn" ist, versichert in der Welt, dass sich selbst die Admiralität in Kiel nicht mehr schwer damit tut, an die Novemberrevolution zu erinnern: "Und zur Uraufführung saßen lauter Offiziere in Uniform in der ersten Reihe und klatschten, als die Sozialistische Republik Schleswig-Holstein ausgerufen wurde. 2011 wurde der Bahnhofsvorplatz auf den Namen Platz der Matrosen getauft."
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Medien

In der NZZ berichtet der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl von einer Untersuchung, derzufolge gerade einmal vier Prozent aller Wissenschaftler in Medien vorkommen: "Die Daten bestätigen somit auch den Verdacht, dass sich Journalisten auf der Suche nach geeigneten Quellen gerne stets derselben Forscher mit bereits erwiesener Medienkompetenz bedienen."

Die taz listet all die 73 Journalisten auf, die in diesem Jahr bereits getötet wurden, zwei davon in der vorigen Woche in Afghanistan, also nach der grausigen Ermordung Jamal Khashoggis.

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Stichwörter: Khashoggi, Jamal

Gesellschaft

Für eine 60-Quadratmeter-Wohnung zahlt man in Hamburg im Durchschnitt 720 Euro kalt, in den Innenstadtbezirken sogar 960 Euro. SZ-Autor Till Briegleb findet es da lohnenswert, mal wieder an die Hafenstraße zu erinnern: Erfolgreicher Protest gegen die Spekulation, selbstverwaltetes Wohnen, 400 Euro Miete mit Elbblick: "Das Erfolgsmodell der Hafenstraße zeigt, dass das Recht auf erschwingliches und selbstbestimmtes Wohnen in den Städten ohne organisierten Widerstand kaum zu erringen ist."
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Stichwörter: Hafenstraße

Europa

Bei den Kommunalwahlen in Polen konnte die Opposition zwar in den großen Städten punkten, doch auf dem Land blieb die ultrakonservative  PiS so stark wie eh und je. In der NZZ zeichnet Marta Kijowska ein deprimierendes Bild von der gespaltenen Gesellschaft. Bemerkenswert aber, dass überall dort Frauen in der ersten Reihe stehen, wo am energischsten gegen die PiS gekämpft wird: "Mal indem sie in der politischen Opposition den Ton angeben - wie Katarzyna Lubnauer, die derzeitige Chefin der 'Modernen', wie sich schlicht die Partei der polnischen Liberalen nennt. Mal indem sie gemeinsam für die Rechte einer benachteiligten Gruppe kämpfen - wie die Mütter von Behinderten, die im Frühjahr 2018 zusammen mit ihren Kindern vierzig Tage lang in den Fluren des polnischen Parlaments ausharrten, um mehr staatliche Unterstützung zu erhalten. Mal indem sie sich öffentlich den Anordnungen der Regierung widersetzen - wie Malgorzata Gersdorf, Präsidentin des Obersten Gerichts, die wenige Wochen später, trotz Zwangspensionierung mehrerer Richter des Gremiums, zu denen auch sie selbst gehörte, demonstrativ zum Dienst erschien und damit zu einer neuen Symbolfigur des Streits um die Justizreform wurde."

FAZ-Korrespondentin Gina Thomas stellt zwar ernüchert fest, dass die meisten Brexit-Befürworter ein Ende des irischen Friedensprozess in Kauf zu nehmen bereit sind, aber über den neuen Comic "The Story of Brexit" muss sie dennoch sehr lachen. Er parodiert die die alten Ladybird-Kinderlehrbücher aus den sechziger Jahren und ermuntert britischen Heroismus: "'The Story of Brexit' beginnt mit einer Feststellung: 'Britannien ist eine stolze Insel. Über Jahrhunderte hinweg haben wir allein gestanden. Jetzt stehen wir wieder allein.'"
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Stichwörter: Polen, Pis, Brexit, Behinderte, Justizreform