9punkt - Die Debattenrundschau

Mit einem Handstreich

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2018. In der FAZ erzählt Georg Stefan Troller, 1922 geboren,wie die Juden in Wien in der Pogromnacht vor achtzig Jahren schikaniert wurden. Julius Schoeps vermutet im Tagesspiegel, dass die Bevölkerung nichts gegen die Pogromnacht unternahm, weil die Kirchen sich duckten. CNN  legt dar, wie Donald Trump seine größere Mehrheit im Senat nutzt, um die Untersuchungen zu seinem Wahlkampf abzuwürgen - Trump entzieht einem CNN-Journalisten zugleich die Akkreditierung. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.11.2018 finden Sie hier

Geschichte

Julius Schoeps, Gründungsdirektor des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien, erinnert im Tagesspiegel an die Pogromnacht im November 1938 und sucht nach Gründen, weshalb so gut wie niemand aus der Bevölkerung zur Gegenwehr ansetzte: "Wohl ein entscheidender Grund, warum sich die Bevölkerung so verhielt, war unter anderem das defensive Verhalten der Kirchen, die sich zu den Vorgängen nicht äußerten - oder sie gar begrüßten. So bejubelte etwa der thüringische Landesbischof Martin Sasse die in der Nacht vom 9. auf den 10. November in Deutschland brennenden Synagogen. Am 23. November verschickte er an seine Amtskollegen eine Zusammenstellung aus Luthers Hetzschrift 'Von den Juden und ihren Lügen', versehen mit der Überschrift 'Martin Luther und die Juden: Weg mit Ihnen!'"

Der Filmregisseur Georg Stefan Troller, 1921 geboren, erzählt im Interview mit Peter-Philipp Schmitt im politischen Teil der FAZ, wie er sich vor den Nazis in Wien in der "Reichspogromnacht" versteckte und mit ansah, wie ein älterer jüdischer Nachbar von einem SA-Mann drangsaliert wurde, weil er bei Kniestützen nicht schnell genug war: "Dann brüllte er: 'Was bist du?' Der alte Mann sagte: 'Ich bin Invalide aus dem Weltkrieg.' Noch ein Faustschlag: 'Was bist?' - 'Ich bin ein hochdekorierter...' Wieder ein Faustschlag: 'Was bist?' - 'Ich bin ein Sau-Jud.' - 'Na, also.' Das war der Triumph. Die Juden mussten sich mit hingehaltenem Steiß zu ihrer Minderwertigkeit bekennen, erst dann war der Orgasmus der Sadisten perfekt. Irgendwo war auch mein Vater dabei, wenn auch nicht bei diesem Haufen."

In der NZZ widerspricht der Historiker Peter Reichel der Ansicht, dass die Weimarer Republik keine Zukunft hatte. Die SPD hätte sich als stärkste Reichstagsfraktion um Regierungsstabilität bemühen müssen, meint er: "Trotz der latenten Bürgerkriegsgefahr, trotz den wiederholten Appellen des Reichspräsidenten Friedrich Ebert ließ sich die durch Spaltung und Stimmenverluste geschwächte SPD, aber mit beständig über 20 Prozent stets stärkste Parlamentsfraktion nicht bewegen, kontinuierlich den Kanzler zu stellen, die Regierung zu führen und die Republik in den unruhigen frühen 1920er Jahren gouvernemental zu stabilisieren. Nach dem Zusammenschluss mit der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) war ihr die Überwindung der eigenen inneren Spaltung wichtiger." Und in der Welt würdigt Henryk M. Broder noch einmal die historischen Verdienste der SPD, um sie dann endgültig zu beerdigen.

Bei den Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag des französischen Siegs im Ersten Weltkrieg hat Emmanuel Macron über Philippe Pétain gesagt: "Man kann ein großer Soldat des Ersten Weltkriegs gewesen sein und während des Zweiten schreckliche Entscheidungen getroffen haben". Das reichte, um Empörung über die angebliche Rehabilitation Pétains, der das Kollaborationsregime unter den Nazis führte, auszulösen. Dabei sagt Laurent Joffrin in seinem viel zitierten Libération-Kommentar über die angebliche Ehrenrettung Pétains im Grunde nichts anderes: "Nicht, dass das Handeln Pétains während des Ersten Weltkriegs unterschätzt, geschweige denn ignoriert werden sollte. Als Oberbefehlshaber in Verdun organisierte er die Verteidigung, indem er versuchte, die französischen Truppen durch eine bessere Versorgung und durch ein Rotationssystem zu schonen, das die Kampfzeiten an der Front die Truppen begrenzte." Für dieses Rotationssystem, das dem einzelnen Soldaten eine Überlebenshoffnung gab, wurde Pétain nach dem Krieg geliebt.
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Gesellschaft

Alle zwei Jahre erscheint eine "Autoritarismus-Studie" von Forschern der Universität Leipzig (mehr hier). Sie konstatiert zwar eine Zunahme fremdenfeindlicher Einstellungen, aber einen Rückgang des Antisemitismus. Frederik Schindler kritisiert die Studie in der taz scharf, weil sie den modernen Antisemitismus gar nicht beschreibe: "Schnell zeigt sich .., dass die in der Studie verwendeten Fragen überhaupt nicht geeignet sind, um alle aktuell verbreiteten Erscheinungsformen des Antisemitismus zu erfassen. In der Antisemitismusforschung ist schon lange bekannt, dass der Hass auf Juden heutzutage häufig auf den Staat Israel übertragen wird - beispielsweise durch Vergleiche Israels mit dem Nationalsozialismus...  Real existierender Judenhass wird so zumindest teilweise wegdefiniert." Auf Zeit Online analysiert Rita Lauter die Studie.

Im anlässlich der Kristallnacht am 9. November 1938 geführten Tagesspiegel-Interview glaubt Andreas Nachama, Historiker, Rabbiner und Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, nicht an einen "neuen Antisemitismus": "Wenn Sie sich die Umfragen zu Antisemitismus von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart anschauen, dann hatten stets 20 bis 25 Prozent der Befragten eine antisemitische Einstellung. Umgekehrt stellen wir fest, dass in den letzten Monaten die Zahl der Besucher in allen deutschen Gedenkstätten gestiegen ist. (...) Ich bestreite, dass rechtsradikale Positionen jetzt tatsächlich salonfähig werden. Sie stehen derzeit im Fokus einer zu Recht kritischen Berichterstattung. Solche Phasen hat es in der Bundesrepublik alt bis 1989 und neu ab 1990 immer wieder gegeben. Das macht die Sache nicht besser, aber ich rate zu großer Gelassenheit." Ebenfalls im Tagesspiegel berichten in Deutschland lebende Juden von ihren Erfahrungen mit Antisemitismus.

Die SZ druckt den gekürzten Vortrag, den die Publizistin Svenja Flaßpöhler anlässlich der Eröffnung der Wiener Buchmesse gehalten hat. Bezugnehmend auf ein Interview mit den Blättern für deutsche und internationale Politik, in dem Jürgen Habermas zur "Dethematisierung" von Rechtspopulismus riet, plädiert Flaßpöhler dafür, mit Rechten zu reden, nicht zuletzt, um deren Position in "ihrer ganzen Härte zu begreifen": "Auch wenn ich mich hier auf den richtigen Umgang mit rechts konzentriere, ist mir wohl bewusst, dass man einen Text über den richtigen Umgang mit links schreiben könnte und sogar müsste. So sind Selbstgewissheit, ein absoluter Anspruch auf politische Deutungshoheit und reiner Machtwille gerade ein Kennzeichen rechten Denkens, wenn auch kein notwendiges, so doch ein weitverbreitetes. Und wer sich auf diese Weise verhärtet, sich sperrt gegen alles Lebendige, wer ausgrenzt und hasst, der hat offensichtlich kein Interesse an Diskurs und Demokratie."

Im Standard-Interview zum Thema kritisiert Flaßpöhler außerdem die Rolle der Medien: "Die Aufmerksamkeitsdynamik führt dazu, dass über Gruppenvergewaltigungen oder #metoo-Aussagen, in denen es um mächtige Männer und Hotelzimmer geht, natürlich mehr berichtet wird als über massive Steuerhinterziehung oder Probleme der sozialen Gerechtigkeit."
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Urheberrecht

Fast unbemerkt werden die Rechte von Urhebern gegenüber den Verwerterindustrien im Entwurf für die EU-Urheberrechtsreform geschwächt, berichtet Alexander Fanta bei Netzpolitik. Betrieben wird das von einigen Abgeordneten des EU-Parlaments: "Unterstützt werden sie vom CDU-Abgeordneten Axel Voss, der als Chef-Verhandler des Parlaments zugleich den Anwalt der Rechteinhaber-Industrie spielt. Voss ist nach übereinstimmenden Angaben mehrerer Beteiligter dran und drauf, die Parlamentsposition preiszugeben. Nach seinem Vorschlag ist etwa nur noch von 'angemessener', nicht von 'verhältnismäßiger' Bezahlung für Künstler die Rede. Voss unterstützt einen entsprechend verwässerten Textvorschlag der Kommission." Und "unfaire Geschäftspraktiken wie Total-Buy-Out und Knebelverträge blieben nach Wünschen von Kommission und Rat erlaubt."
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Politik

Noch fragen sich die deutschen Kommentatoren (etwa hier oder hier), wie schwer die Erfolge der Demokraten bei den Midterm-Wahlen wiegen, da hat Donald Trump staatsstreichartig seinen Justizminister Jeff Sessions gefeuert - womit er auf die Untersuchung seiner Liaison zu Russland durch den FBI-Ermittler Robert Mueller zielt. Bei CNN kommentiert Stephen Collinson: die Neutralisierung von Sessions "und seine größer gewordene Mehrheit im Senat geben Trump die Möglichkeit, im Justizministerium zu bestallen, wen immer er will - so dass er letztlich die Kontrolle über die Untersuchungen zu seinem Wahlkampf bekommt. Mit einem Handstreich entledigt er sich eines Justizministers, der sich in die Russland-Untersuchungen nicht einmischte. Zuvor hatte Trump Sessions monatelang auf Twitter gepiesackt." CNN selbst gehört ins Bild der politischen Vorgänge gestern und heute: Einerseits ernennt Trump ausgerechnet einen (konservativen) CNN-Analysten, nämlich Matthew Whitaker, zu Sessions' Nachfolger (mehr hier). Andererseits  entzieht er CNN-Reporter Jim Acosta die Akkreditirierung fürs Weiße Haus, weil er nicht genehme Fragen stellte und Trump zu einer denkwürdigen Wut-Kanonade provozierte.

Der pakistanische Anwalt Saif-ul-Malook hat die Christin Asia Bibi verteidigt, der wegen "Blasphemie" die Todesstrafe drohte, bis sie vor kurzem freigesprochen wurde. Bibi sitzt nach jüngsten Meldungen in einem Flugzeug, das sie aus Pakistan wegbringt. Auch ihr Anwalt sucht Schutz im Ausland. Im Interview mit Hasnain Kazim von Spiegel online sagt er: "Ihr Ehemann hat westliche Staaten um Asyl gebeten. Soweit ich weiß, hat ihr bislang noch kein Land eine Aufnahme zugesichert. Ich würde mich freuen, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel Asia Bibi Schutz anbietet. Bei der Gelegenheit könnte sie mir das auch gleich anbieten."
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