9punkt - Die Debattenrundschau

Gramscianischer Guerillakrieg

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2019. Yascha Mounk erklärt der neuen sozialdemokratischen Führung in Zeit online das Denken der Arbeiterschaft: Ihre Interessen will sie vertreten sehen, Revolution will sie nicht. Politico.eu wirft ein Licht auf eine neue populistische Kulturpolitik in Flandern. In der NZZ nimmt der Publizist Kevin D. Williamson die kleinste Minderheit in Schutz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.12.2019 finden Sie hier

Europa

Das Wählermilieu der SPD ist auseinandergebrochen, sie kann Bildungsbürger und Arbeiter nicht mehr unter einem Hut versammeln, meint der Politikwissenschaftler Yascha Mounk auf Zeit online. Dazu sind deren Interessen zu gegensätzlich geworden. Um zu überleben, sollte sie sich auf die Arbeiterklasse konzentrieren, schlägt Mounk vor, der in dieser Hinsicht vom neuen SPD-Führungsduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nichts erwartet: Die SPD müsste "in wirtschaftlichen Fragen ein wenig nach links rücken, ohne wie mancher Juso in Zweitsemestermanier über die angeblichen Vorzüge des Sozialismus zu schwadronieren. Eine klare Forderung nach höheren Mindestlöhnen und Tarifverträgen ist unter Arbeitern beliebt; eine grundlegende Feindseligkeit gegenüber dem Kapitalismus erscheint den meisten Arbeitern dagegen als verkopft und weltfremd. Vor allem aber müsste die SPD bei gesellschaftlichen Fragen spürbar konservativer werden. Ohne jemals die Menschenfeindlichkeit der Rechtspopulisten zu kopieren oder auch nur zu tolerieren, müsste sie die Sorgen und Ängste, die bei Themen wie Migration und Terrorismus außerhalb des Bildungsbürgertums überwältigende Mehrheitsmeinung sind, viel ernster nehmen, als sie es momentan tut."

Nick Cohen thematisiert in seiner Observer-Kolumne die ungute Promiskuität zwischen Medien und Politik in der britischen Politik, besonders auf der Rechten, auch wenn die Linke nicht davon frei ist: "Patriotische Leser mögen daraus einen grimmigen Trost ziehen: Kein anderes Land ist da so exzeptionell wie Britannien. Anderswo sind degradierte Journalisten Diener der Macht. In Britannien sind sie die Herren. Die Verachtung, die sie für ihre einstige Branche hegen, kommt aus der abgeschlossenen, selbstbezüglichen Welt des rechten und immer mehr auch linken Insidertums, das die Linie zwischen Politik und Journalismus verwischt hat."

Die von der nationalistisch-konservativen Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) geführte Regierung Flanderns, die unter Druck von rechtsextremen Separatisten steht, versucht eine populistische Kulturpolitik, berichtet Stephen Brown  bei politico.eu. Dazu streicht Ministerpräsident Jan Jambon Kultursubventionen, besonders bei eher avantgardistischen Projekten: "Jambons Kultursekretär Joachim Pohlmann, ein ehemaliger N-VA-Sprecher, hat die 'kulturelle Hegemonie' der Linken angegriffen und hat ihre Verehrung für avantgardistische Werke angeprangert, wobei er sich auf Marcel Duchamps' Urinal von 1917 bezog. Pohlmann macht keinen Hehl aus seinem Verständnis von Kultur als politischem Schlachtfeld. Er hat den kulturellen Kampf zwischen links und rechts als 'gramscianischen Guerillakrieg' beschrieben."

Schade, dass kein Vertreter der Bundesregierung sich auf das Symposium "Koloniales Erbe V - Das Beispiel Namibia" gewagt hat, bedauert Christian Kopp in der Berliner Zeitung. Dann hätte sie erfahren, dass es den Namibiern weniger um persönliche Entschädigungen als um Gerechtigkeit geht. Zum Beispiel in der Landfrage. Denn die Verfassung nach der Unabhängigkeit hat laut dem Menschenrechtsexperten John Nakuta die Eigentumsrechte von Siedlern europäischer Herkunft zementiert: "Dagegen wären die vorkolonialen Landrechte der südwestafrikanischen Gemeinschaften völlig unbeachtet geblieben. Zwar sei die Enteignung von Privatbesitz verfassungsmäßig erlaubt, sofern eine angemessene Entschädigung erfolge. Bislang fehle es jedoch am politischen Willen, den von der Reichsregierung enteigneten Ovaherero und Namas auch nur Teile des Landes ihrer Ahnen zurückzugeben oder zumindest eine angemessene Entschädigung für den kolonialen Landraub zu gewähren. Hier stünden, so Nakuta, nicht nur die namibische Regierung, sondern auch der deutsche Staat und Namibias deutschstämmige Großgrundbesitzer in der dringenden Pflicht, im Rahmen einer effektiven Landreform für Gerechtigkeit zu sorgen."
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Kulturmarkt

Der Verleger Herbert Ullmann attackiert in der FAZ den Börsenverein des deutschen Buchhandels für Untätigkeit angesichts von Digitalisierung und Leserschwund: "Aufgrund der abgewanderten Buchkäufer und Leser seit 2013 - bis heute sind etwa sieben Millionen Kunden verlorengegangen - tickt die Uhr. Die Zeiten gegenseitiger Vorwürfe und unberechtigter, teils überhöhter Ansprüche - wer muss, wer ist legitimiert, von wem überhaupt, Bücher zu verkaufen - muss unverzüglich im Interesse der gesamten Branche beendet werden. Besonders besorgniserregend ist das Abwandern der jungen Generationen. Lediglich die ältere Käufergruppe schrumpft nicht beim Buch."
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Politik

Farnaz Fassihi und Rick Gladstone resümieren für die New York Times die extrem brutale Niederschlagung der jüngsten Proteste im Iran, die sich gegen die Erhöhung von Benzinpreisen richteten. Wenig davon ist wegen der jetzt wieder aufgehobenen Internetsperre nach außen gedrungen: "Ein Lokalreporter in Mahschahr sagt, dass die Gesamtzahl der bei den dreitägigen Protesten Getöteten bei 130 Personen liegt, inklusive jener Opfer, die bei der Demonstration getötet wurden. In anderen Städten wie  Schiras und Schahrijar sollen während der Proteste Sicherheitskräfte, die auf unbewaffnete Demonstranten schossen, Dutzende Menschen getötet haben, sagen Menschenrechtsgruppen und Videos, die von Zeugen gepostet wurden." Auch der Guardian begab sich zu diesem Thema auf Online-Recherche.

Kein Wunder, dass Donald Trump seinen ägyptischen Amtskollegen Abdelfatah al-Sisi seinen "Lieblingsdiktator" nennt. Die beiden sind sich einfach sehr ähnlich, meint in der NZZ die Kairoer Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Basma Abdelaziz: "In ihrer Erscheinung mögen sie verschieden sein, aber ihre Körpersprache ist durchaus vergleichbar. Die Art, wie sie Journalisten und Reporter ansehen, der starre Blick und die fahrigen Gesten sind fast identisch, und natürlich markiert jeder bei seinen Auftritten gern den starken Mann. Ein Unterschied besteht dagegen hinsichtlich der Art, wie sie ihre Macht ausspielen: Trump führt seine Wirtschaftskriege, der General setzt auf ein totalitäres Szenario, auf Repression und Angst. Beiden aber ist es gelungen, die laute Stimme des Nationalismus im Herzen des Publikums zu wecken."
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Ideen

Nur weil Donald Trump gerade die WTO zerstört, heißt das noch lange nicht, dass er und linke Globalisierungsgegner etwas gemeinsam hätten, beschwört der kanadische Historiker Quinn Slobodian in der SZ die Leser in Erinnerung an die Proteste in Seattle 1999. "Die Protestierenden akzeptierten die Globalisierung als Tatsache. Aber sie wollten Institutionen, die den Menschen über den Profit stellen. Im Zusammenhang mit den Seattle-Protesten wird gerne von der Allianz zwischen 'Teamsters and Turtles' gesprochen, eine Umschreibung von Gewerkschaftlern und grünen Gruppierungen. Zwei ihrer zentralen Ziele waren die Einführung von Arbeits- und Umweltrichtlinien in Handelsabkommen. Beide Forderungen wurden und werden routinemäßig von der WTO abgelehnt, da sie unfaire Handelsbarrieren darstellten. Aber bedeutet das, dass eine globale wirtschaftspolitische Steuerung unmöglich ist? Wie soll man einem solchen Ziel nachgehen, wenn nicht durch alternative Formen der internationalen Organisation?"

Der amerikanische Publizist Kevin D. Williamson hat gerade mit "The Smallest Minority" ein Buch über den "Wutpöbel" veröffentlicht. Im Interview mit der NZZ erläutert er seine Thesen: "Der Titel des Buchs stammt aus einem Essay von Ayn Rand. Sie sagt, dass politische Rechte und Interessen von Minoritäten unmöglich ernsthaft respektiert werden können, ohne zuerst das Individuum - die kleinste Minderheit - zu respektieren. Dabei sind Gruppenmitgliedschaft und Individuen keine rivalisierenden Zustände. Gruppenzugehörigkeit aber wird immer grundlegender für Identität, auf beiden Seiten des politischen Zauns. Zudem gibt es eine wachsende Abneigung, Mitglieder oder Ideen der eigenen Partei öffentlich zu kritisieren - meist mit dem Argument, dass wir in einer schlimmen Notlage steckten, die bis zu ihrer Überwindung absolute Loyalität erfordere. Selbstverständlich kann die Krise nicht verschwinden, denn sie ist nicht real."

Die Welt hat Auszüge aus einer Rede übersetzt, in der der Schauspieler Sacha Baron Cohen vor knapp zwei Wochen auf der Jahrestagung der amerikanischen Anti-Defamation-League die Schuld am grassierenden Antisemitismus und Hass gegen Andersdenkenden "einer Handvoll Internet-Unternehmen" zuschob.
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Gesellschaft

Mithu Sanyal entwirft in der taz zusammen mit der Autorin Rehzi Malzahn (Autorin des Buchs "Strafe und Gefängnis -  Theorie, Kritik und Alternativen") eine Utopie: Wie wär's wenn wir die Gefängnisse einfach abschaffen: "Eine Welt ohne Gefängnisse würde also auch bedeuten, dass wir uns wieder mit den Straftätern auseinandersetzen müssten. Wir müssten uns der Frage der Wiedergutmachung stellen. Danach, wann ein Mensch angemessen Verantwortung für sein Verbrechen übernommen hätte. Und - die größte Hürde - wir müssten überlegen: Wie würden wir mit Menschen umgehen, deren Straftaten nicht nur die Grenzen des Gesetzes überschreiten, sondern auch dessen, was wir als menschlich erachten."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Gefängnisse, Strafjustiz, Utopien