9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Überdosis Weltgeschehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2020. Zum 8. März gibt es natürlich eine Frauentaz, diesmal zur ökonomischen Situation. In der Welt fragt Jagoda Marinic nach den Erfolgen des derzeitigen Glamour-Feminismus. Außerdem erklärt László Földényi in der taz, dass die Ungarn Schmerz und Verlust kennen, aber keine melancholische Nation sind. Die SZ fürchtet, dass mit der wirtschaftlichen Globalisierung auch die politischen Institutionen des Multilateralismus an Rückhalt verlieren. In der FR fürchtet Bernhard Pörksen, dass Intoleranz und Agitation die gesellschaftliche Mitte in die Diskursresignation treibt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.03.2020 finden Sie hier

Ideen

In einem sehr schönen taz-Gespräch mit Ralf Leonhardt spricht der ungarische Schriftsteller und Essayist László Földényi über Verlust und Schmerz, Geschichte und Melancholie, die seit Keats "im Tempel der Heiterkeit" verortet wird: "Der französisch-rumänische Philosoph Emil Cioran hat gemeint, es gebe drei melancholische Nationen: die Portugiesen, die Russen und die Ungarn. Ich würde die Ungarn aber eher eine frustrierte Nation nennen. Diese Frustration kommt aus der Geschichte der letzten Jahrhunderte. Melancholie ist etwas anders, die kann man nicht mit der Geschichte erklären, das ist eher ein existenzieller Begriff. Ich würde ihn nicht auf Nationen ausdehnen... Seit dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert haben die Ungarn fast nur Niederlagen erlitten, selten einen richtigen Sieg gefeiert. Sie waren eine besetzte Nation: von Tataren, Türken, Habsburgern, Deutschen, Russen. Ungarn hat nie eine richtige Selbstständigkeit erlebt. Ähnlich wie Polen, das ja zeitweise sogar als Land von der Karte verschwand.
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Gesellschaft

Die taz erscheint zum 8. März natürlich mit einer Frauentaz, die sich die wirtschaftliche Situation von Frauen ansieht, Gender Pay Gap, finanzielles Unwissen und die Armut im Alter. Im Interview spricht Sara Nuru, die einst bei der Show "Germany's Next Topmodel" gewann und heute ein Kaffeeunternehmen leitet, über ihr Verhältnis zu Geld. Außerdem erledigt Silke Mertins die neuen Antinatalistinnen, die Kinder für Klimakiller halten: "Herablassung und Feindseligkeit gegenüber Müttern und ihren Kindern hat es in Teilen der feministischen Szene immer gegeben. Der Verlockung, den eigenen Lebensstil über den von anderen zu stellen, ihn als überlegen und wertvoller darzustellen, kann nicht jede widerstehen."

In der Welt zeigt sich Jagoda Marinic ermüdet vom derzeitigen Feminismus, der mit viel Glamour aufwarten kann, toller Rhetorik und super Bildern, aber ihrer Ansicht nach wenig Erfolgen: "Das Rad der Zeit dreht sich rückwärts, obwohl wir uns empowern und den Feminismus vermeintlich immer besser, immer inklusiver machen. Weshalb die Rückschläge, obwohl der Feminismus, auch in der Popkultur, präsenter ist denn je? Womöglich will der Feminismus zu viel, ohne sich dabei auf klare Ziele festzulegen. Stattdessen sollen - so die Utopie - herrschende Verhältnisse von Grund auf verändert werden. Alle benachteiligten Gruppen werden so zur Sache des Feminismus." In der NZZ rekapituliert Claudia Mäder die Geschichte des Frauentags in der Schweiz, die Clara Zetkin nur widerwillig den Einfluss auf die Frauenbewegung verzieh.
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Politik

Das Coronavirus ist für Stefan Cornelius in der SZ kein Mahnruf (siehe unser 9Punkt von gestern), die Globalisierung zurückzubauen, sondern gerade Pendant zu einem Zeitgeist, der auf Rückzug, Abwehr und Isolation setzt. Für Cornelius nicht unbedingt begrüßenswert: "Die Institutionen des Multilateralismus werden für untauglich befunden. Regeln wie die Klimavereinbarung von Paris, die der Menschheit das Zusammenleben erleichtern oder gar langfristig ermöglichen sollte, werden gebeugt oder verworfen. Die Weltwirtschaft wird mithilfe von Handelskonflikten nach Gutdünken justiert. Die globalen Versorgungs- und Nachschubketten brechen, Zölle sind die neuen Temposchwellen auf den Handelswegen, der Kommerz entzieht sich seiner internationalen Ordnung."

Für den Soziologen Stephan Lessenich springt bei der neuen Globalisierungsskepsis immerhin eine Pointe heraus: Mit Corona suche uns unsere eigene kolonialistische Vergangenheit heim, witzelt Lessenich in der SZ: "Neue Seidenstraße, Landgrabbing in Afrika, Huawei, Covid-19 - was kommt als Nächstes? Was wird aus unserer hart erarbeiteten, wohlverdienten globalen Vorrangstellung? Größte Exportnation, Ingenieurbüro der Welt: Sind wir das die längste Zeit gewesen?"
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Kulturmarkt

Marc Reichwein fährt trotz abgesagter Buchmesse nach Leipzig und besucht dort das Startup Momox, das mit gebrauchten Büchern 250 Millionen erwirtschaftet, mehr als Hugendubel. Vielleicht, überlegt Reichwein in der Welt, sind dem Buchhandel gar nicht sechs Millionen Leser abhanden gekommen, sondern nur sechs Millionen Käufer von neuen Büchern? "Eine der Irrtümer unserer Zeit ist, dass die Digitalisierung die Dinge abschafft. Zum Beispiel: Bücher. Was für ein Quatsch: Digital und algorithmenoptimiert ist nur der Katalog. Die Dinge zirkulieren weiterhin, und wie. Bücher sind für immer mehr Leute zu kurzen Lebensabschnittsgefährten geworden, und dank der Secondhandmasse nehmen heute auch Leute, die früher Leihbüchereien benutzt haben, am Konsumkreislauf teil."
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Stichwörter: Digitalisierung, Momox, Der Irrtum

Internet

Im Interview mit Joachim Frank in der FR moniert der Medienwissenschaftler Pörksen eine maximale Fehlerintoleranz in öffentlichen Debatten, die einen Großteil der Gesellschaft in die Diskursresignation treibe: "Die gesellschaftliche Mitte darf sich durch die Fixierung auf die kleine, radikalisierte Minderheit der Hassenden nicht entmutigen lassen. Und wir leben gegenwärtig in drei Kommunikationswelten. Die erste Welt bestimmt die öffentliche Wahrnehmung: Wut, Hetze, furchtbare Attacken auf Andersdenkende und Andersaussehende. Die zweite Welt, die medial kaum vorkommt: eine Sphäre echter Wertschätzung und respektvoller Kommunikation - in Unternehmen, Universitäten, Schulen, Redaktionen. Und die dritte, gegenwärtig massiv beachtete Welt: eine manchmal übertriebene Betulichkeit und Hypersensibilität, die schon minimale Grenzüberschreitungen mit maximalem Furor verfolgt."

"Vernetzung verstört", meint Pörksen in einem weiteren Interview in der taz, weil uns auf demselben Kanal simultan Banales, Bestialisches und Berührendes zugleich erreiche: "Wir, die Bewohner einer privilegierten Welt, sind in eine Atmosphäre der totalen Gleichzeitigkeit eingetreten, sehen alles, leiden unter einer Überdosis Weltgeschehen, schwanken zwischen Erregungserschöpfung, Panikschüben, Mitgefühl, Ignoranz-Sehnsucht."

Auf Politico berichtet Mark Scott allerdings von einer Studie der New York University, derzufolge Facebook mit spalterischer oder ominöser Politwerbung weiterhin beste Geschäfte macht: Die Hälfte der in den USA gezeigten politischen Werbung in den USA stammt von unbekannten Urhebern: "Facebook hat nach eigenen Angaben seit Mai 2018 mehr als sieben Millionen politische Anzeigen in den USA bekommen, mit einem Wert von 1,1 Milliarden Dollar und lässt damit Google und YouTube weit hinter sich, die auf 216 Millionen Dollar kommen."
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Medien

Der Independent macht mehr Gewinne als etwa der Telegraph, berichten Alex Barker and Mark Di Stefano in der Financial Times. Das ist umso bemerkenswerter, als der Independent eine der ersten Zeitungen überhaupt ist, die völlig auf Print verzichtet. Das Geschäftsmodell des Blattes, das saudischen Investoren und dem Sohn des Oligarchen Alexander Lebedew gehört, ist allerdings speziell: "Obwohl sie Abos für werbefreien Zugang zu prominenten Autoren wie Robert Fisk verkauft, stammt der Großteil ihrer Einnahmen aus der Online-Werbung und Lizenzierung. Durch eine Vereinbarung mit der Saudi Research and Marketing Group, einer Verlagsgruppe für den Nahen Osten, hat sie auch Inhalte für türkische, arabische, persische und Urdu-Versionen der Independent-Site lizenziert. Sie plant weitere Partnerschaften und Übersetzungsdienste, auch ins Russische."
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Stichwörter: Independent, Oligarchen