9punkt - Die Debattenrundschau

Was sonst noch so sein könnte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2021. In Israel geht die Gewalt weiter, und in den Medien wird weiter über sie diskutiert. Die neue Qualität ist, dass sich die Gewalt auch in gemischten israelischen Städten zwischen israelischen Arabern und extrem rechten Israelis fortsetzt, berichtet etwa die SZ. Ebenfalls in der SZ wirft David Grossman Israel Apartheid vor. Bari Weiss beobachtet in ihrem Blog mit Sorge, wie sich Lügen über die aktuelle Situation in den sozialen Medien verbreiten. Wer gegen israelische Politik vor Synagogen protestiert, ist ein Antisemit, hält die taz fest.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.05.2021 finden Sie hier

Politik

Im Nahostkonflikt haben sich erstmals arabische Israelis mit Palästinensern gegen jüdische Israelis verbündet, berichtet Peter von Münch in der SZ, obwohl das Verhältnis zwischen ihnen notorisch schlecht war. Aber auch viele arabische Israelis haben die Nase jetzt voll: "Staatsgründer David Ben-Gurion hatte den arabischen Bürgern 1948 zwar explizit die gleichen Rechte wie den jüdischen Bürgern zugesichert, doch de facto leben sie in einer Parallelgesellschaft - weitgehend abgekapselt von den staatlichen Institutionen, und dazu in erstaunlichem Maße oft auch vom israelisch-palästinensischen Konflikt. ... In der Ära Netanjahu kam noch ein weiteres Element dazu: gezielte Hetze und Ausgrenzung sowie ein 2018 verabschiedetes Nationalstaatsgesetz, das die israelischen Araber zu Bürgern zweiter Klasse machte."

Ebenfalls in der SZ sieht der israelische Schriftsteller David Grossman die Schuld für die Eskalation der Gewalt bei der Politik Netanjahus, der die Hamas immer habe gewähren lassen, um die Palästinenser zu spalten. "So konnte er die Konfliktkonstellation einfrieren und zugleich darauf hinarbeiten, dass die Entwicklung im Inneren Israels hin zu einem rein jüdischen Staat nicht gefährdet wird. ... Über lange Jahre hinweg dachte ich, dass nur in den besetzten Gebieten eine Art Apartheid herrscht. Die Situation der Palästinenser dort ist so viel schlechter als das Leben irgendeines Bürgers in Israel. Inzwischen denke ich, dass diese wachsende Benachteiligung an den Grenzen Israels nicht haltmacht. Um die Maschinerie der Apartheid in den besetzten Gebieten am Laufen zu halten, muss sie aktiv aus dem Inneren Israels unterstützt werden. Allmählich und vielleicht ohne dass dies im allgemeinen Bewusstsein wahrgenommen wird, entwickelt sich so etwas wie der Beginn von Apartheidskonzepten innerhalb Israels selbst".

In einem Substack-Artikel, der auch der israelischen Regierung und rechtsextremen israelischen Aktivisten keine Kritik erspart, bekennt Bari Weiss doch auch ihre Verzweiflung über die modische Linke, die in den sozialen Medien, das "große Narrativ" von der Hamas als Widerstand bedienen und fabrizierte Videos verbreiten. Verteidiger Israels wollen sich davon nicht anfechten lassen und bezweifeln die Relevanz solcher Äußerungen. Und "ich dachte lange auch so. Aber jeder, der auf die jüdische Geschichte blickt, weiß, dass sich Lügen wie ein Virus verbreiten können. Dass solche Lügen ganze Bevölkerungen infizieren können. Und dass es für das jüdische Volk nicht gut ausgeht, wenn ganze Menschenmassen von Lügen verseucht verseucht werden."

Weiss verweist auf einen Artikel Matti Friedmans im Tabletmagazine, der erklärt, wie solche Lügen im Zeitalter der sozialen Medien funktionieren: "Im Geist von 2021 werden aufregende Videos aus ihrem Kontext gerrissen und in ideologische Kreisläufe geschickt, um alles zu beweisen, was gerade bewiesen werden soll. Explosionen in der Al-Aqsa-Moschee könnten bedeuten, dass die israelische Polizei im Inneren Tränengas abschießt, so dass die heilige Stätte entweiht wird, oder dass muslimische Randalierer Vorräte an Feuerwerkskörpern abschießen, die sie im Inneren gehortet haben, um sie gegen die Polizei einzusetzen, so dass die heilige Stätte entweiht wird. Ein israelischer Autofahrer, der am Montag in der Nähe des Lions' Gate einen Palästinenser anfuhr, könnte ihn ermordet haben wollen, oder ein Fahrer sein, der die Kontrolle über sein Auto verlor, während er vor Palästinensern flüchtete, die ihn töten wollten."

Dass die Hamas ihre Waffensysteme gern in Wohngebieten bunkert, ist bekannt, aber es gibt noch einen Grund, warum die Zahlen der Toten durch Raketenabschüsse im Gazastreifen deutlich höher ist als die der Israelis: "In Gaza haben die meisten Bewohner keine Bunker, in die sie sich zurückziehen können", erklärt Jochen Stahnke in der FAZ. "Jedenfalls lässt die islamistische Hamas, die den mit zwei Millionen Palästinensern überbevölkerten Küstenstreifen kontrolliert, normale Leute nicht in ihr weitverzweigtes Tunnelsystem, das sich in vielen Gebieten des Gazastreifens unter der Erde befinden soll."

Die meisten Palästinenser im Gaza-Streifen haben mit der Hamas nichts zu tun und sind einfach Opfer, sagt die im Gaza-Streifen lebende Politologin Reham Owda in der taz. Hinzukommt, "dass die Gesundheitssituation immer schlimmer wird, da sich Corona im Gazastreifen ausbreitet und die meisten Krankenhäuser mit Covidpatient*innen überfüllt sind. Es fehlt an Impfstoff, Beatmungsgeräten und Medikamenten. Mit der militärischen Eskalation sind jetzt die meisten Krankenhausbetten mit Verletzten belegt. Laut einem Bericht des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden mehr als 360 Menschen verletzt."
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Gesellschaft

In Deutschland hat es eine Reihe von Protesten gegen Israel gegeben, die offen antisemitisch waren und bei denen palästinensische, türkische und tunesische Flaggen geschwenkt wurden, warnt der Zentralrat der Juden in Deutschland, der per Twitter ein Video aus Gelsenkirchen verbreitete:


Kevin Čulina hält in der taz angesichts der - hauptsächlich muslimisch-antisemitischen - Aktionen vor Synagogen in Deutschland (mehr dazu hier) fest: "Proteste gegen konkretes staatliches Handeln, etwa vor den Botschaften, sind in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich. Doch wer behauptet, sich gegen israelische Militäreinsätze zu wenden, und sich dazu vor eine Synagoge stellt, zeigt vor allem eins: ein antisemitisches Weltbild." Weitere Demos sind in Berlin fürs Wochenende angesetzt, meldet Gareth Joswig in der taz.

Im Tagesspiegel ist Christian Böhme entsetzt über den "Meinungskrieg", der in Deutschland zu Israel ausgebrochen sei: "Bist du für die Palästinenser oder für die Israelis? Diese Frage wurden bereits mit einem Furor gestellt, als sich der Konflikt im Nahen Osten gerade erst hochschaukelte. Seitdem wird gestritten, gepöbelt und gedroht. Selbst in den Wahlkampf hat das Thema bedauerlicherweise Einzug gehalten. Dabei taugt Krieg und Leid so gar nicht dafür. ... Klar, die Führung in Jerusalem darf kritisiert werden. Aber den jüdischen Staat delegitimieren, ihm gar das Existenzrecht absprechen, überschreitet eine Grenze. Wer dies tut, entlarvt sich selbst. Zeigt, dass ihm der Nahostkonflikt ein willkommenes Vehikel ist, um Judenhass freien Lauf zu lassen."

Warum "wird dem in Deutschland völlig marginalen Phänomen des BDS so viel Aufmerksamkeit eingeräumt", fragt in der FR der Slawist Wolf Iro, der den Gegnern des BDS nicht abnimmt, dass sie "echte Verantwortung für das Judentum in Deutschland" empfinden. "Die Anzahl antisemitischer Vorfälle innerhalb von Polizei oder Bundeswehr ist besorgniserregend, desgleichen jene zwischen 20 und mehr Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung, die in Umfragen regelmäßig antisemitischen Ansichten zuneigen. Hier also gälte es doch wohl anzusetzen, anstatt Intellektuellen hinterherzujagen, die sich kritisch über die israelische Besatzung des Westjordanlandes oder die Siedlungspolitik äußern und die in vielen Fällen sogar selbst israelische Juden oder Jüdinnen sind."

Man kann eine antisemitische Gesinnung auch über "Umwegkommunikation" äußern, meint im Interview mit Zeit online Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, mit Blick auf Hans-Georg Maaßen (der von der Klimaaktivistin Luisa Neubauer in einer Talkshow ohne Belege des Antisemitisimus geziehen worden war): "Mehr als 90 Prozent des Antisemitismus, dem ich sowohl in der Forschung als auch in meiner pädagogischen Arbeit begegne, wird nicht explizit ausgesprochen. Er funktioniert über Codes. ... Gerade in Deutschland, wo offener Antisemitismus verboten ist, haben sich Codewörter etabliert. Man redet nicht über 'Weltjudentum', sondern über Globalisten. Nicht über 'Finanzjudentum', sondern über Wall-Street-Kapitalismus oder Heuschrecken. ... Auch Juden können antisemitische Weltbilder reproduzieren. So treibt der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die antisemitische Kampagne gegen Soros voran." Bei Bernie Sanders, der den Begriff "Wall-Street-Gier" verwendet hat, "muss man sich fragen, in welchem Kontext seine Aussage gemacht wurde. Natürlich ist nicht jede Kritik an der Wall Street antisemitisch. Hier gilt es wie immer, den Sprecher und Kontext zu beachten."
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Ideen

Nicht sehr spezifisch rechnen die beiden Politologen Wilfried von Bredow und Eckhard Jesse in der FAZ mit dem Geist des "Linksliberalismus" ab: "Heute mündet der früher erfrischende Nonkonformismus der Linksliberalen in einen neuen Konformismus. Er tritt zum Nachteil einer aufgeklärten und kritischen Öffentlichkeit nicht zuletzt in vielen Medien zutage."

Außerdem: Carolin Emcke hat den "Preis Rosa Courage" erhalten, der an Persönlichkeiten geht, die sich in besonderer Weise für die Belange von LGBTIQ-Menschen eingesetzt haben. Jan Feddersens Laudatio findet sich in dem Blog mannschaft.com.
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Europa

In der NZZ beschreibt Konrad Adam das Versagen der AfD, zu der er selbst einmal gehörte, sich als echte Alternative aufzustellen: "Als absehbar war, dass die Neugründung Erfolg haben würde, Mandate, Geld und Privilegien in Aussicht standen, haben sich zu viele von denen vorgedrängt, die von der Politik, nicht für sie leben wollten. Sie hatten es bei allen möglichen Parteien versucht, mussten sich aber überall hinten anstellen und warten. Jetzt hatten sie die Chance, mit einem Sprung zu schaffen, was sie sonst Jahre gekostet hätte, und griffen zu. Parteien, hatte der SPD-Politiker Julius Leber zu Zeiten der Weimarer Republik gesagt, sind Interessenvertretungen von Berufspolitikern. Heute gilt das erst recht, auch für die AfD, die doch so vieles anders machen wollte."
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Stichwörter: AfD, Weimarer Republik

Internet

In der NZZ ist Evgeny Morozov unzufrieden, dass die großen Technologiekonzerne plötzlich pro Datenschutz agieren. An einer Verbesserung von Facebook oder Google ist er nicht interessiert, sondern an anderen, wohl eher staatlich kontrollierten digitalen Plattformen: "Wer weiß, welche anderen Arten von Institutionen in der digitalen Umgebung von heute möglich sind? Anstatt das herauszufinden, haben die Entscheidungsträger der Politik diesen ganzen Entdeckungsprozess allein der Technologiebranche überlassen. Anstatt Infrastrukturen aufzubauen, die solche Versuche im großen Maßstab erleichtern könnten, begnügen sie sich mit der vorhandenen Infrastruktur, die von der Technologiebranche (oft als kostenpflichtige Dienstleistung) bereitgestellt wird."
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Stichwörter: Morozov, Evgeny, Datenschutz

Kulturpolitik

Stephan Löwenstein berichtet in der FAZ über eine Petition einer "Europäischen Allianz der Akademien" an die Adresse der EU. Die Allianz protestiert gegen die Kulturpolitik Viktor Orbans, dessen neueste Strategien Löwenstein en passant darstellt: "Statt Zentralisierung und direktem Zugriff der Regierung setzt er auf Auslagerung öffentlicher Institutionen in Stiftungen. Das betrifft derzeit vor allem Hochschulen. Nach Lesart der Regierung werden sie aus staatlicher Abhängigkeit in eine echte Autonomie entlassen. Freilich werden die Kuratorien vom zuständigen Minister besetzt, das bedeutet angesichts der realen Machtverhältnisse: von Orbán selbst, an dem nichts vorbeigeht."
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Stichwörter: Ungarn, Orban, Viktor

Medien

Volker Weidermann kündigt als Literaturchef beim Spiegel, wird den Schritt aber einigermaßen verkraften können, weil er am 1. Oktober als Feuilletonchef in der Zeit anfängt. Bei uebermedien veröffentlicht er eine eher vage Mail an sein Spiegel-KollegInnen, wo er beklagt, dass er beim Spiegel nicht glücklich gewesen sei: "Das silbern-glänzende Grundgesetz im Atrium 'Sagen, was ist', Augsteins Gesetz - das ist ganz einfach nicht für mich geschrieben worden. Ich komme eben aus der Literatur. Und da gilt nun mal: Sagen, was nicht ist. Sagen, was sonst noch so sein könnte. Sagen, wie es besser wäre. Sagen, was niemand sonst sich zu sagen traut. Einfach mal was anderes sagen…. Das sind so die Literatur-Gesetze. Ich habe hierfür zu wenig Raum für mich gefunden." Ambros Waibel kommentiert Weidermanns Schritt in der taz.
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