9punkt - Die Debattenrundschau

Studium im Alleingang

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2021. Mit Grausen blickt Friederike Böge, die Chinakorrespondentin der FAZ, auf die stalinistischen Paraden, mit denen Xi Jinping den hundertsten Geburtstag der KP feiern lässt. Aber die Machtmaschine funktioniert, stellen SZ und FAZ fest, und zwar auch in Deutschland. In der SZ erklärt Ahmad Jawil Sultani, langjähriger Übersetzer für die Bundeswehr in Afghanistan, was deren Abzug für ihn bedeutet: Lebensgefahr. In der taz fragt Ulrike Herrmann: Zahlen die Armen für das klimapolitisch gute Gewissen der Reicheren? Und für ihre "kulturelle Hegemonie", fragt Reinhard Mohr in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.07.2021 finden Sie hier

Politik

Mit leichtem Grausen berichtet Friederike Böge, die Chinakorrespondentin der FAZ, von der mit stalinistischem Brimborium inszenierten Parade zum hundertsten Geburtstag der KP Chinas: "Die Bilder wirken im China des 21. Jahrhunderts wie aus der Zeit gefallen. Sie ähneln Massenveranstaltungen im benachbarten Nordkorea. Dieser Eindruck wird noch durch die einheitlich pastellfarbenen traditionellen Kleider der Jugendchöre verstärkt. Es sind Bilder, die vielen Chinesen ein mulmiges Gefühl geben dürften. Denn sie wecken Erinnerungen an das China der Kulturrevolution, als Mao Tse-tung die Jugend indoktrinierte und zu Gewaltexzessen antrieb."

Dabei werden gerade diese Erinnerungen in China unter den Teppich gekehrt, schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: "Die Hungersnot des 'Großen Sprungs nach vorn'. Das Blutvergießen der Kulturrevolution. Ereignisse, deren Verschweigen gerade in ausdrücklicher Würdigung von Mao Zedong mit offenem Blick auf das ikonische Gemälde des Großen Vorsitzenden unterhalb der Balustrade am Eingang zur Verbotenen Stadt, gewagt wirkt. In China scheint diese Art von Geschichtsklitterung zu funktionieren - wie ja auch das Tiananmen-Massaker tabuisiert wird Schließlich fragt auch niemand, was es mit dem Marxismus-Leninismus auf sich hat, den Chinas KP nach der Oktoberrevolution aus Russland importierte. Vom heute herrschenden autoritären Staats- und Parteibuch-Kapitalismus ist er denkbar weit entfernt."

Kommunistisch ist an der Partei eigentlich nur noch der Aufbau, schreibt Christoph Giesen in der SZ: "In einem Land, in dem alles überwacht wird, in dem der Staat selbst Nichtregierungsorganisationen beobachtet und lenkt, sollte eigentlich auch eine Partei irgendwo registriert sein. Aber Chinas Kommunistische Partei ist nirgendwo gemeldet. Nur in der Präambel der chinesischen Verfassung ist sie erwähnt. Entsprechend flexibel wird ihre Rolle interpretiert. Nach der wirtschaftlichen Öffnung Chinas, Ende der Siebzigerjahre, verwandelte sich die Partei in eine äußerst pragmatische Machtmaschine, ausgerichtet auf ein ständig wachsendes Bruttoinlandsprodukt."

Die Ideologisierung von Bildung strahlt auch in deutsche Universitäten aus, berichtete schon am Mittwoch Anna Schiller auf den Wissenschaftsseiten der FAZ. Chinesische Einflusspolitik drückt deutsche Universitäten: "Professoren müssen damit umgehen, dass sich chinesische Gaststudenten in Seminaren unter Umständen gegenseitig kontrollieren. Oder sie müssen sich in taiwanische Studenten hineinversetzen, die sich damit konfrontiert sehen, dass die Unabhängigkeit ihres Heimatlandes von Kommilitonen angezweifelt wird." Mitarbeiter des Berliner "Mercator Institute for China Studies" (MERICS) dürfen nicht mehr nach China einreisen.

Die Deutschen haben uns im Stich gelassen, klagt Ahmad Jawil Sultani, langjähriger Übersetzer für die Bundeswehr in Afghanistan, in der SZ an. Unter Todesangst wartet er auf seinen Antragsprozess: "Heute bedauere ich sehr, dass ich für die Bundeswehr gearbeitet habe. In den Augen der Taliban habe ich mit dem Feind gearbeitet, und auch in der Nachbarschaft gibt es Gerüchte, dass ich ein Spion gewesen sein könnte oder mit den Deutschen Schweinefleisch gegessen hätte, dass ich kein guter Muslim sei. Meine Nachbarn sagen nun zu mir: 'Weißt du nicht, dass die Taliban vor der Stadt stehen? Du wirst ihr erstes Ziel sein, in ihren Augen bist du ein Verräter.' Manchmal denke ich daran, dass die Taliban, sobald sie in die Stadt eingedrungen sind, zu unseren Häusern kommen und an die Türen von uns Übersetzern klopfen werden. Für den Fall hoffe ich, dass sie mich gleich erschießen. Es wäre furchtbar, wenn sie mich foltern und zur Schau stellen würden, um anderen eine öffentliche Lektion zu erteilen."
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Europa

Bülent Mumay schildert in seiner FAZ-Kolumne, wie Erdogan die Opposition verfolgen lässt - mit Hilfe seines faschistischen Bündnispartners MHP. Kritik aus dem Westen oder der EU bleibt mild: "Ursula von der Leyen, der im Palast in Ankara nicht einmal ein Sessel zugestanden worden war, sagt nach ihrem Telefonat mit Erdogan, es sei wichtig, die Türkei weiter zu unterstützen. Und warum bitte? Weil wir mehr als 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge beherbergen. Abrakadabra! Autokratiekritik, adé!"

Im Brigitte-Interview hat sich Annalena Baerbock nun erstmals zur Kritik an ihrem Buch (Unser Resümee) geäußert, meldet der Tagesspiegel: "Im Gespräch weist Baerbock die Kritik daran zurück. 'Ganz viele Ideen von anderen sind mit eingeflossen', sagt sie. 'Aber ich habe kein Sachbuch oder so geschrieben, sondern das, was ich mit diesem Land machen will - und auf der anderen Seite die Welt beschrieben, wie sie ist, anhand von Fakten und Realitäten.' Wo es um Faktenbeschreibungen ging, habe sie sehr deutlich gemacht, dass sie sich auf öffentliche Quellen beziehe. 'Aber da es kein Sachbuch oder wissenschaftliche Arbeit gibt, gibt es gar keine Fußnoten in diesem Buch', sagt Baerbock." In einem viel retweeteten Artikel legen Lars Wienand und Jonas Mueller-Töwe bei t-online.de nahe, dass "Hintermänner", die womöglich Geld geboten hätten, hinter dem "Plagiatsjäger" Stefan Weber stecken, der die gedoppelten Passagen zuerst auf seinem Blog publizierte. Weber verneint das.

Nach drei Wochen hat Alex Rühle in der SZ seine Interrailtour durch Europa abgeschlossen und zieht Bilanz. Nirgendwo funktioniert die Bahn so schlecht wie in Deutschland, aber: "Beeindruckend war doch, welch hohes Ansehen Angela Merkel überall genießt. Der Lyriker Aleš Šteger pries sie in Ljubljana als seriös-kompetentes Gegenmodell zum slowenischen Brachialpopulisten Janez Janša (ah, genau, auch ein Sozialdemokrat - und seit dem gestrigen Donnerstag EU-Ratspräsident. Viel Spaß, Europa, und gute Nerven!). Bart Somers sagte in Brüssel, er werde in diesem Leben bestimmt kein Christdemokrat mehr, aber ganz Europa sollte sich ein Beispiel nehmen an Merkels nüchternem, uneitlem Pragmatismus. Und der große alte Georg Stefan Troller sagte, die Franzosen hätten sich mit den Deutschen arrangiert wie in einer schlechten Ehe, man muss halt miteinander auskommen. Aber einmal in den 63 Jahren, die er jetzt in Paris lebt, einmal hätten sie Deutschland geliebt, ganz kurz. 'Und das war allein Merkels Verdienst. Als sie sagte: 'Wir schaffen das'."
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Gesellschaft

Grünen-Anhänger belasten die Umwelt mehr als ärmere Bevölkerungsschichten, einfach weil sie besser verdienen und weil Besserverdienende mehr konsumieren, schreibt Ulrike Herrmann in der taz: "Oft ist den Gutverdienern und dem 'kritisch-kreativen' Milieu gar nicht bewusst, wie hoch ihr Umweltverbrauch ist. Stattdessen sei 'die Auffassung weit verbreitet, sparsam mit Ressourcen umzugehen', wie das Umweltbundesamt feststellte. Die Behörde vermutet, dass sich die Umweltbewussten vor allem mit anderen Mitgliedern der eigenen Schicht vergleichen - und völlig aus dem Blick verlieren, dass die ärmeren Milieus deutlich weniger konsumieren können. Dieser Tunnelblick hat reale Folgen: Umweltpolitik wird vor allem für die Gutverdiener gemacht. Sie profitieren von den Ökosubventionen, während die armen Schichten dafür zahlen dürfen."

Deutschland zerfällt in Parallelgesellschaften - auf der einen Seite die Arbeiterklasse, die "Malocher", die es auch heute noch gibt, auf der anderen Seite eine "politisch mediale Elite", die mit "Gratismut" über Rassismus, Sexismus, Critical Whiteness, Cancel Culture oder Identitätspolitik debattiert, schreibt der Publizist Reinhard Mohr in der Welt, adressiert aber vor allem die Grünen: "Hier liegt womöglich das Geheimnis des grünen Zeitgeists: dass er gar nicht mehr darauf angewiesen ist, auf die komplizierte sozialökonomische Realität plausible, wirklich mehrheitsfähige und finanzierbare Antworten zu finden. Es geht vor allem um das große Ziel und die gute Absicht, die man nicht oft genug symbolisch - 'Zeichen setzen!' - beteuern kann. Antonio Gramsci nannte das vor hundert Jahren schon die 'kulturelle Hegemonie'."

Über die Hälfte der Bevölkerung ist jetzt mindestens einmal geimpft, aber das gilt nicht für die jungen Leute. Mit am düstersten war die Coronakrise für Studenten, gerade auch Studienanfängerinnen, schreibt der in Wien lehrende Rechtshistoriker Miloš Vec in der FAZ, und auch im nächsten Semester werden die Studenten großenteils vor Bildschirmen sitzen: "Allgemeiner Protest gegen die Abwertung der Universität fand bei ihnen nur ausnahmsweise statt. Während Gaststätten, Sportarenen und Museen öffnen durften, blieben ihre Hörsäle verriegelt. Impfgerechtigkeit und Geisterspiele wurden zum Begriff, die Forderung von Unterrichtsgerechtigkeit und Kritik an Geistervorlesungen blieben unbekannt. Manche von ihnen haben immer noch keine Universität von innen gesehen und sind keinem Kommilitonen physisch begegnet. Es ist ein Studium im Alleingang."
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Ideen

"Meine Erfahrungen als Frau sind ja auch nicht dieselben wie die jeder anderen Frau", erwidert die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal im Dlf-Kultur-Gespräch mit Joachim Scholl der Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, die sagte, trans Frauen seien zunächst als Männer aufgewachsen und daher anders sozialisiert als jene, die von Geburt an eine Frau gewesen seien (Unsere Resümees): "Den Essay nun beurteilt Sanyal zwiespältig. Adichie wende sich darin offenbar an eine nicht-binäre Person, die sie in sozialen Medien angegriffen habe. Dem Argument, wonach auch berühmte Menschen verletzlich seien, stimmt Sanyal zu. Aus dem Text spreche eine 'große Verletzung'. Allerdings sehe Adichie wiederum nicht, 'dass sie durch ihre Äußerung eine bestimmte Verantwortung' habe. Sie hätte einfach sagen sollen, dass sie einen Fehler gemacht habe, ist Sanyal überzeugt. 'Das ist doch überhaupt nicht schlimm.' Nun würden 'die Rechten' wieder Linken, trans Menschen und Feministinnen 'Cancel Culture' vorwerfen."
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