9punkt - Die Debattenrundschau

Im Trägermedium des Gehirns codiert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2021. In der Welt ist Deniz Yücel empört über das Laissez-faire der Bundesregierung gegenüber den Machenschaften Erdogans in Deutschland. In der Berliner Zeitung lobt Susan Neiman Bundespräsident Steinmeier, der bei seinem Israelbesuch jüngst die Israelkritiker David Grossman, Eva Illouz und Omri Boehm ehrte. Der modische Antirasssismus wiederholt in seiner Israelkritik lange bekannte Positionen der Linken, schreibt Anastasia Tikhomirova in der taz. Der Guardian und andere Medien enthüllen den Missbrauch der Überwachungssoftware "Pegasus" durch viele Staaten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.07.2021 finden Sie hier

Überwachung

NGOs wie Amnesty International und ein Medienkonsortium, zu dem der Guardian gehört, haben herausgefunden, dass die Überwachungssoftware "Pegasus" des israelischen Unternehmens NSO von vielen Regierungen keineswegs nur gegen Kriminalität und Terrorismus genutzt wird, berichtet eine Reportergruppe im Guardian. Die Software, mit der sich Handys abhören und orten lassen, wird auch vielfach gegen Regimegegner eingesetzt, wie die geleakten Daten von Opfern der Überwachungmaßnahmen zeigen. "Das Pegasus-Projekt dürfte Debatten über staatliche Überwachung in mehreren Ländern anregen, die im Verdacht stehen, die Technologie einzusetzen. Die Untersuchung legt nahe, dass die ungarische Regierung von Viktor Orbán die NSO-Technologie als Teil seines sogenannten Krieges gegen die Medien benutzt zu haben scheint und dabei investigative Journalisten im Land sowie den engen Kreis eines der wenigen unabhängigen Medienmanager Ungarns im Visier hatte."

Auch Zeit online berichtet über die Geschichte. In einem zweiten Artikel gehen Astrid Geisler, Kai Biermann, Sascha Venohr und Holger Stark dem Einsatz von Pegasus in Ungarn nach, wo etwa der Investigativjournalist Szabolcs Panyi ausspioniert wurde: "Es gibt keinen finalen Beweis dafür, dass die ungarische Regierung die Spionagewaffe gegen Journalisten eingesetzt hat. Aber die Recherche des Pegasus Project, an der neben der Zeit 16 weitere Medien aus zehn Ländern mitgewirkt haben, legt die Vermutung nahe. Zum Ersten, weil NSO nur an staatliche Behörden verkauft. Zum Zweiten, weil Ungarn Kunde von NSO war, wie ehemalige Mitarbeiter des Unternehmens der Zeit bestätigten. Zum Dritten, weil es keinen anderen plausiblen Verdächtigen gibt. Und nicht zuletzt, weil die zeitlichen Umstände der rekonstruierbaren Spähattacken darauf hindeuten. Damit steht der Verdacht im Raum, dass Ungarn die Cyberwaffe nicht nur zur Verbrechensbekämpfung und Terroristenjagd eingesetzt hat, sondern auch für einen Anschlag auf die Pressefreiheit."
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Ideen

Antisraelische Positionen sind im Zeichen des Postkolonialismus oder modischen Antirassismus allgegenwärtig. Für Antisemitismus haben die Strömungen gar keinen Begriff, schreibt Anastasia Tikhomirova in der taz. Aber neu sind diese Positionen in der aktionistischen Linken nicht. Schon seit dem Sechstagekrieg richtet man sich "gegen den 'zionistischen Besatzerstaat' - als höchste Form des US-Imperialismus und Kolonialismus. In diesem Weltbild fanden auch Verschwörungsideologien von der 'zionistischen Weltherrschaft' und vom 'jüdischen Finanzwesen' in Form des regressiven Antikapitalismus Platz. Sie wirken bis heute in relevanten Teilen der Linken fort, während Antisemitismus sowie die permanente Bedrohung jüdischen Lebens kategorisch ausgeblendet und stattdessen eine bedingungslose Solidarität mit Palästina eingefordert wird."

In der Berliner Zeitung behauptet Susan Neiman, in Deutschland würden Diskussionen über einen "demokratischen Nahen Osten ... für illegitim, ja für antisemitisch erklärt". Zwar kommen Kritiker der israelischen Politik wie David Grossman, Eva Illouz und Omri Boehm in deutschen Medien ausgiebig zu Wort, wie sie zugibt, aber der BDS-Beschluss des Bundestages von 2019 liegt ihr auf der Seele: "Projektgelder werden zurückgezogen, Ausstellungen und Konzerte abgesagt. Neulich wurde die Arbeit der israelischen Künstlerin Shira Wachsmann, für eine Chemnitzer Ausstellung bestellt, in einem anderen Raum gezeigt, weil der Veranstalter einen Brief erhielt, der ihr 'israelfeindliche Positionen' vorwarf. Begründet wurde der Vorwurf damit, dass die Israelin Wachsmann einen Aufruf der Initiative 'GG 5.3 Weltoffenheit' unterstützt habe." Die Frage, wer denn unter den Bedingungen der Israel-Boycott-Bewegung BDS ausstellen dürfte, stellt sich Neiman nicht. Sie lobt ausdrücklich Bundespräsident Steinmeier, der während seines Israelbesuchs jüngst just Grossman, Illouz und Boehm ehrte.

Ali Tonguç Ertuğrul, Sabri Deniz Martin und Vojin Saša Vukadinović kritisieren in der Jungle World A. Dirk Moses und seine Adepten, deren Antirassismus sie als Instrumentalisierung von Minderheiten zu politischen Zwecken sehen: "Dass sich solch linksidentitäre Zeilen lesen, als ob der Schulbesuch in der KZ-Gedenkstätte für junge Migranten eine Zumutung sei, weil ihre Blutsverwandtschaft nichts mit den einstigen Verbrechen zu tun gehabt habe, ist kein Zufall. Moses professionalisiert für die höchsten Bildungsebenen jene tribalistischen Tendenzen, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen längst vorherrschen."

Außerdem: Herfried Münkler geht in einem ganzseitigen FAZ-Essay (auf der Seite "Ereignisse und Gestalten") der Theorie nach, dass sexuelle Übergriffe auf die Frauen, Mädchen und Knaben von Kriegsgegnern aber auch im eigenen Staat schon in der Antike als "Merkmal der 'orientalischen Despotie'" gegeißelt wurden. Und in geschichtedergegenwart.ch unterhält sich Sina Speit mit der Historikerin Tiffany N Florvil über die Geschichte der afrodeutschen Frauenbewegung.
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Gesellschaft

Die Klimakatastrophe ist nach Hause gekommen, schreibt Manfred Kriener in der taz: "Abgerissene Giebelfronten gestatten Einblicke in unsere ehemals heile Welt, die ihre offenen Wunden zeigt... Die mit viel Verdrängungsenergie gefütterte Hoffnung, dass es uns jetzt und heute nicht erwischen wird, dass sich die Erde nur langsam erwärmt und die großen Verheerungen irgendwann woanders auftreten werden - sie liegen unter dem Schutt und Schlamm begraben, den die Flut zurückgelassen hat. Die Klimakatastrophe findet nicht nur in Bangladesch statt, nicht nur in Australien, Kalifornien und an den Polkappen, sondern gleich nebenan bei Müllers und bei Maiers. Sie droht nicht in der zweiten Jahrhunderthälfte, wenn die Generation Fridays for Future erwachsen geworden ist, sondern ganz akut. Es ist fünf nach zwölf."
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Europa

Gaby Coldewey  schreibt für die taz eine große Reportage über die engagierte belarussische Diaspora in Litauen. Eine von ihnen ist Natalia Kolegova. Mit anderen organisiert sie Hilfe für Flüchtlinge: "Mittlerweile gibt es ein kleines Netzwerk von Freiwilligen in der Stadt, viele sind aus der belarussischen Diaspora. Sie sammeln und verteilen Kleidung, unterstützen bei der Wohnungssuche und bei Behördengängen. Vor allem aber helfen sie regelmäßig Menschen über die grüne Grenze, die Belarus auf legalem Wege nicht mehr verlassen können. Nach Litauen führen viele Wege - per Boot oder auch zu Fuß durch Wälder und Sümpfe. Mithilfe von Google Maps macht Kolegova diese Wege ausfindig, per Smartphone koordiniert sie die Flucht."

In der Welt ist Deniz Yücel empört über das Laissez-faire der Bundesregierung gegenüber den Machenschaften Erdogans in Deutschland. Erdogan nutzt nicht nur den islamischen Religionsverein Ditib zur Einflussnahme in Deutschland, sondern auch Tausende geheimdienstliche offizielle und inoffizielle Mitarbeiter, die ihre Landsleute anschwärzen, erklärt Yücel. "Die Folge: Erdogans Regime der Angst hat längst auf Deutschland übergegriffen. ... Insbesondere in den Sommermonaten werden immer wieder Deutschtürken bei der Einreise in die Türkei von der Polizei zumindest vorübergehend festgenommen, meist wegen regierungskritischer Äußerungen auf Facebook, Twitter oder Instagram. Ganz verhindern lässt sich dieses Denunziantentum nicht. Doch die deutschen Behörden versuchen es nicht einmal. Würde der Verfassungsschutz auch nur eine Handvoll der inoffiziellen MIT-Mitarbeiter aufspüren, würden die Behörden straf- und gegebenenfalls aufenthaltsrechtliche Maßnahmen einleiten - die Lust am Denunzieren würde deutlich nachlassen. Tatsächlich passiert das Gegenteil." In diesem Zusammenhang lesenswert ist eine Reportage im dlf kultur über die kurdischstämmige deutsche Sängerin Hozan Canê ist seit über drei Jahren in der Türkei gefangen gehalten wird, weil sie angeblich die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützt haben soll.
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Medien

Kurt Westergaard, Zeichner der berühmten Karikatur mit der Bombe im Turban, ist im Alter von 86 Jahren gestorben, meldet unter anderem Spiegel online. Die sogenannten Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten waren 2006 von Islamisten zum Anlass für gewalttätige Proteste genommen worden. Hier der Nachruf in Jyllands-Posten.
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Wissenschaft

Der Berliner Hirnforscher John-Dylan Haynes erzählt Daniela Wakonigg von hpd.de über ein Experiment. Er bittet Probanden sich gedanklich zu entscheiden, ob sie die linke oder rechte Hand heben wollen. Offenbar lässt sich diese Entscheidung irgendwie auslesen  - aber die Probanden möchten das nicht hören: "Diese falsche Intuition hängt damit zusammen, dass Menschen zum Dualismus neigen. Wir neigen eigentlich immer dazu zu glauben, dass der Geist und der Körper trennbar sind und dass man mit dem Gehirn den Geist nicht vollständig erklären kann. Das Bild der modernen Hirnforschung ist dagegen ein anderes, nämlich dass egal wie komplex und egal wie subtil Gedanken sind, dass alle zumindest prinzipiell ausgelesen werden könnten, weil sie im Trägermedium des Gehirns codiert sind. Das heißt aber noch nicht, dass wir heute alle Gedanken wirklich praktisch auslesen könnten. Wenn man also wirklich von einer Trennung ausgeht, hat man noch ein paar Rückzugspositionen."
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