9punkt - Die Debattenrundschau

Von A nach B ohne Datenspuren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2021. Die FAZ und der Perlentaucher kommen auf die kubanischen Unruhen zurück. Was wird siegen: "Patria o muerto" oder "Patria y vida"? Impfgegner sind keine "Dissidenten" betont Karl-Markus Gauß in der SZ. Auf Zeit online halten die Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner und Martin Kolmar eine Impfpflicht für ethisch zu rechtfertigen. Die FAZ stellt den französischen Politologen Pierre-André Taguieff vor, der schon seit vierzig Jahren über die "Neue Rechte", Rassismus und Antisemitismus von rechts bis links forscht. Zeit online zeigt am Beispiel Indien, wie die Spyware "Pegasus" genutzt wird, um die Opposition auszuhorchen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.07.2021 finden Sie hier

Politik

Paul Ingendaay kommt in der FAZ auf die Proteste in Kuba vor einigen Tagen zurück: "In Europa macht man sich kaum einen Begriff von den vielfältigen Formen, die staatlich gelenkte Schikane, Rechtsbeugung und Unterdrückung im heutigen Kuba annehmen. Anders als zu früheren Gelegenheiten jedoch ist die Regierung schwach und sieht sich erstmals Protestierenden gegenüber, die 'Freiheit' skandieren und 'Wir haben keine Angst'. Oppositionelle Digitalmedien wie 14ymedio von Yoani Sánchez oder Cubaencuentro, die ihren Sitz in Madrid haben, sind auf der Insel zwar nicht zu lesen, doch der Informationsaustausch lässt sich nicht völlig unterdrücken." Ingendaay stellt auch den Schriftsteller Ángel Santiestebán und seine Frau, die Journalistin Camila Acosta vor, die mutig gegen das Regime protestieren. Santiestebán muss sich zur Zeit vor den Häschern verstecken. Er äußert sich in dem Onlineportal El Español, das ihn telefonisch interviewen konnte.

Im Perlentaucher schreibt Richard Herzinger zum Thema. Dass das Regime kollabiert, hält er nicht für wahrscheinlich: "Eher droht ein Belarus in der Karibik - denn hinter der kubanischen Diktatur steht als mächtiger Verbündeter und Mastermind in Sachen Repression Putins Russland."

Ob das Regime allerdings kubanischer Musik standhält, muss sich noch erweisen. Sowohl Ingendaay als auch Herzinger nennen das Lied "Patria y Vida" des Rappers Yotuel als Gegengift zum "Patria o Muerto", das Fidel Castro zur Revolutionsparole gemacht hatte.



Nicht fassen kann es der aus dem Iran stammende und heute in Wien lebende Psychoanalytiker und Schriftsteller Sama Maani in der FAZ, dass der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen dem neuen iranischen Präsidenten Ebrahim Raissi zur Wahl gratulierte (die selbstverständlich eine Farce war). Raissi ist eine Art Roland Freisler des Irans: "1988 war er Mitglied der berüchtigten 'Todes-Kommission', verantwortlich für die außergerichtliche Ermordung Tausender politischer Gefangener, die ihre Strafen zum Teil schon verbüßt hatten. Ein Massaker, das der angesehene Menschenrechtsanwalt Geoffrey Robertson als das schlimmste Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete, schlimmer noch als das Massaker von Srebrenica."
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Gesellschaft

Karl-Markus Gauß (SZ) geht das Gerede von den "Impfdissidenten" auf die Nerven, das selbst einige Medien übernehmen würden. Rebellen oder Dissidenten, erinnert er, waren einst bereit "für ihr Dissidententum mit ihrer beruflichen und privaten Existenz einzustehen und Ächtung hinzunehmen. Ausgerechnet indem sie aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden, haben sie im reglementierten Staat die Interessen der Gesellschaft verfochten und diese geradezu repräsentiert." Jetzt hingegen würden Menschen "zu Dissidenten nobilitiert, einzig weil sie den Weg, der für alle aus der Pandemie herausführt, persönlich nicht gehen wollen. Wer sie als Impfdissidenten bezeichnet, huldigt ihrer Weigerung, das Ihre aus Obsession oder Egoismus zum Nutzen der Gesellschaft beizutragen, und wirft damit eine Tradition kritischen Aufbegehrens unbedacht über den Haufen."

Auf Zeit online denken die Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner und Martin Kolmar darüber nach, ob eine Impfpflicht ethisch gerechtfertigt wäre. Beide meinen, ja - nachdem alle anderen Maßnahmen ausgereizt sind. Mit Moral habe das nichts zu tun: "Es ist eine ethische Begründung einer Pflicht. Und Ethik als rationale Ableitung konkreter Pflichten aus allgemeinen Prinzipien ist das Gegenteil eines 'Bauchgefühls', wenn es um moralische Fragen geht. ... 'Der einzige Zweck, zu dem Macht rechtmäßig über ein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden kann, ist, Schaden von anderen abzuwenden', formulierte der liberale Philosoph John Stuart Mill."

In der SZ ist Hilmar Klute noch in der Phase, in der er über die Berliner Verwaltung verzweifelt, deren Lahmarschigkeit und Dumpfheit erstaunlicherweise nie zu einem Aufstand geführt hat: "Der CDU-Abgeordnete Christian Gräff hat kürzlich eine Anfrage an den Senat gerichtet, wie es um die Zukunft der Berliner Verwaltungen bestellt sei. Er bekam griffige Zahlen: Von den insgesamt 123 812 Mitarbeitern gehen 44 257 in den nächsten acht Jahren in Rente. Werden die Stellen dann neu besetzt? Nein, eher nicht. Niemand möchte hinter einem der vielen Schalter dieser Stadt sitzen und sich den Hass von Leuten anhören, die keine Termine, aber dafür Mahnungsbescheide bekommen, weil sie ihr Auto nicht umgemeldet haben."

Und: Hans Hütt liest heute für die SZ das Wahlprogramm der Linken: "In solcher Prosa hat auch der Perserkönig Xerxes das böse Meer auspeitschen lassen."
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Ideen

Pierre-André Taguieff ist schon seit den achtziger Jahren einer der wichtigsten Historiker der "Neuen Rechten" in Frankreich, aber auch des Rassismus und des Antisemitismus von rechts und links. Taguieff prägte den Begriff  des "Islamogauchismus". Jetzt erscheinen gleich zwei neue Bücher von ihm (bisher nur auf Französisch), die Jürg Altwegg in der FAZ vorstellt, "L'imposture décoloniale" und "Liaisons dangereuses: islamo-nazisme, islamo-gauchisme". Die Genese des "Islamogauchismus" zeichnet Altwegg nach Taguieff so nach: "Die Causa der Palästinenser hatten die (vielfach jüdischen) Maoisten der 'Gauche Prolétarienne' im Visier, sie ersetzten die Proletarier der Kommunistischen Partei durch die muslimischen Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien. Doch die Algerier, Tunesier, Marokkaner wollten nicht vereint kämpfen. Mit den Palästinensern konnten sie sich hingegen identifizieren, die Religion und der Antizionismus beflügelten das Engagement, dem Antisemitismus wurde die 'Islamophobie' entgegengesetzt."

Ebenfalls in der FAZ bespricht der Sprachwissenschaftler Wolfgang Krischke sehr kritisch das Buch "Sprachkampf" seines Kollegen Henning Lobin, der behauptet, dass die aktuellen Scharmützel um Sprache vor allem von der Rechten ausgehen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Und Christian Geyer erinnert an den Philosophen und Psychologen Paul Watzlawick, der in diesen Tagen hundert Jahre alt würde.
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Europa

Aufmerksam liest Reinhard Veser in der FAZ noch einmal Wladimir Putins geschichtspolitischen Aufsatz "Über die Einheit von Russen und Ukrainern", der neulich auf der Website des Kremls veröffentlicht wurde (unser Resümee). Putin bezieht sich da auf ein ukrainisches "Gesetz über die alteingesessenen Völker", in dem zwar weder von Russen noch von Ukrainern die Rede ist, das Putin aber als Attacke auf die Russen liest. Diese Attacke komme gar einer "Massenvernichtungswaffe" gegen die Russen gleich. "Was, wenn nicht der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, würde massive Gegenmaßnahmen bis hin zum einem Präventivschlag rechtfertigen", fragt Veser: "Russland hat schon den Krieg gegen Georgien im Sommer 2008 und die Annexion der Krim 2014 mit dem Schutz von Russen begründet. Auch der Krieg im Osten der Ukraine wird von führenden russischen Politikern und den kremltreuen Medien immer wieder damit gerechtfertigt, dass sich dort Russen selbst verteidigten. 'Wir lassen die Unseren nicht im Stich', sagte Putin in der Anfangsphase der Kämpfe. Die Passage über das ukrainische Gesetz in seinem Artikel fügt sich nahtlos in diese Tradition ein." Hier die englische Version von Putins Aufsatz.

Der "diplomatische Erfolg", mit dem Angela Merkel ihre Kanzlerschaft abschließt, Joe Bidens Ja zu Nord Stream 2, ist eine Niederlage der Politik, schreibt Ralf Fücks bei Spiegel online: "Trotz der fortgesetzten Intervention in der Ostukraine, trotz aller Drohpolitik, trotz der Kumpanei mit Lukaschenko, trotz der massiven Repression in Russland und der Kritik des Europäischen Parlaments ziehen die Deutschen ihr bilaterales Projekt mit Russland durch."

In der dänischen Migrationspolitik der regierenden Sozialdemokraten geht es "längst nicht mehr um Integrationspolitik, sondern um die Bewirtschaftung von Befindlichkeiten - allen voran am ultrarechten Rand des politischen Spektrums", diagnostiziert der Wiener Historiker Oliver Cyrus in der NZZ. Dass die Wähler heute einer Politik der Ausgrenzung anhängen habe auch damit zu tun, dass zuvor jahrzehntelang dem Zerfall der Gesellschaft in Grüppchen zugesehen wurde, so Cyrus: "Unter dem Label Multikulturalität kultivierte man die naive Auffassung eines Nebeneinanderbestehens unterschiedlicher Kulturen, ohne auf die zahlreichen Konflikte einzugehen. Auch die Werber der Leitkulturidee erwiesen sich allesamt als nicht glaubwürdig. Zwar erklärte die deutsche Bundeskanzlerin Merkel die multikulturelle Gesellschaft bereits vor über zehn Jahren für tot. Was aber an deren Stelle treten sollte, blieb sie stellvertretend für die meisten europäischen Politiker bis heute zu erklären schuldig."
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Überwachung

Auch die indische Regierung hat die Spähsoftware Pegasus benutzt, um Oppositionelle - darunter sogar den Spitzenpolitiker der oppositionellen Kongresspartei Rahul Gandhi - und Dalit zu überwachen, berichtet Jan Roß auf Zeit online, aber auch Studenten. "Eines der möglichen Opfer unter diesen studentischen Aktivisten, Anirban Bhattacharya, sagte [der indischen Nachrichten-Webseite] The Wire zu den mutmaßlichen Ausspähungsaktionen: 'Es gibt Dinge, die schockierend sind, und doch ist man nicht mehr schockiert. Daran sieht man, was für einen niedrigen Standard der Demokratie wir in diesen Tagen im Land haben. Das ist der Preis, den man heute für friedlichen und öffentlichen Dissens zahlt.' In weiten Kreisen der indischen Opposition und des liberalen und linken Milieus hat sich ein tiefer Pessimismus über die Zukunft der Bürgerrechte und der politischen Freiheit unter der Regierung Modis eingefressen."

In den öffentlichen Verkehrsmitteln Berlins kann man nur noch mit Karte zahlen. Ein Unding, findet Ariane Bemmer im Tagesspiegel. Nicht nur würden Menschen ausgegrenzt, die keine Karte haben, "es gibt noch einen weiteren Bereich, in dem die BVG-Pläne Konsequenzen haben. Mit dem Ende der Bargeldzahlung fürs Ticket endet die spontane Möglichkeit, per Bus von A nach B zu kommen, ohne Datenspuren zu hinterlassen (unspontan könnte man sich vorausschauend mit ungestempelten Blanko-Tickets bevorratet haben). Die datenspurlose individuelle Fortbewegung muss aber möglich bleiben. Das ist elementar."
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