9punkt - Die Debattenrundschau

Ein paar einzelne Schaumkronen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.08.2021. "Es war Auftragsmord", schreibt die taz zum Tod des Aktivisten belarussischen Witali Schischow in Kiew. In der SZ gibt der Soziologe Henning Melber den Herero und Nama recht, die die deutsche Entschuldigung für den Völkermord kritisieren: Die Nachfahren hätten in die Verhandlungen mit einbezogen werden müssen. Ebenfalls in der SZ wünscht sich der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen einen Abschied von der "Fetischisierung des Neuen". In Frankreich braut sich was zusammen, fürchtet Ulrike Guérot in der Berliner Zeitung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.08.2021 finden Sie hier

Europa

"Es war Auftragsmord", schreibt Bernhard Clasen in der taz zum Tod des Aktivisten Witali Schischow. Der junge Belarusse, der im Kiewer Exil das "Belarussische Haus" betrieb und Aktionen gegen Alexander Lukaschenko koordinierte wurde erhängt in einem Park aufgefunden, wo er immer gejoggt hatte. "Für das Belarussische Haus ist klar: Das war Mord. 'Es ist eindeutig, dass das eine von Geheimdienstlern geplante Operation zur Liquidierung einer für das belarussische Regime gefährlichen Belarussen war', erklärte es am Dienstag und rief zu einer Mahnwache vor der belarussischen Botschaft in Kiew auf. Auch Schischows Freunde und Weggefährten sind sich sicher, dass Schischow ermordet worden ist - und dass Diktator Alexander Lukaschenko hinter diesem Mord steckt."

Vorgetäuschter Selbstmord sei eine übliche Methode des belarussischen Geheimdienstes, sagt eine oppositionelle Gruppe, die im schwedischen Exil agiert.
In Frankreich braut sich was zusammen - aber das gehört in diesem Land zum alljährlichen Ritual. Nichts fürchtet Frankreich Jahr für Jahr mehr als die "Rentrée" nach den langen Sommerferien. Die Situation ist allerdings tatsächlich besonders, sagt die Politologin Ulrike Guérot im Gespräch mit Michael Maier in der Berliner Zeitung, denn "in Frankreich trifft der soziale mit einem historischen Verfall der Institutionen zusammen. In den  sechziger Jahren wurde demonstriert und gewählt. Die Kommunisten zum Beispiel waren auf der Straße, aber sie haben sich auch der Wahl gestellt. Die Wahlbeteiligung in Frankreich lag jetzt bei den Regionalwahlen nur bei 30 Prozent. Das bedeutet, die Leute glauben nicht mehr an ein demokratisches System. Man geht nicht mehr wählen, man geht nur mehr auf die Straße."

Die Speaker's Corner im Hyde Park ist keine bizarre Touristenattraktion, sie wird durchaus genutzt. Neulich sprach dort zum Beispiel die Islamkritikerin Hatun Tash. Ein Islamist griff sie mit einem Messer an und verwundete sie im Gesicht und am Arm. "Man würde erwarten, dass ein extremistischer Anschlag wie dieser für Schlagzeilen sorgt", kommentiert Noel Yaxley bei thecritic.co.uk. Aber "abgesehen von einigen wenigen Zeitungen blieben die Medien relativ still. Wo haben sich die Linken zu Wort gemeldet und den Vorfall verurteilt? Jemanden wegen seiner Überzeugungen gewaltsam anzugreifen, ist die eigentliche Definition von Faschismus - etwas, gegen das die Linke früher auftraten. Doch die Antifaschisten sind merkwürdig abwesend. Diese ideologische Omertà ist leider alltäglich, wann immer der Islam erwähnt wird."
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Gesellschaft

Die Nachfahren der Opfer des deutschen Völkermords an den Herero und Nama haben die gemeinsame Erklärung von Deutschland und Namibia, die eine Entschuldigung Deutschlands für den Völkermord, die Annahme der Entschuldigung und Wiedergutmachung in Höhe von 1,1 Milliarden Euro vorsieht, scharf kritisiert. Im Interview mit der SZ wundert das den zur deutsch-namibischen Geschichte forschenden Soziologen Henning Melber nicht. Die Nachfahren hätten in die Verhandlungen mit einbezogen werden müssen und die Entschädigung falle viel zu gering aus, sagt er. Auch ändere die Summe nichts an der extremen Ungleichheit im Land: "Absolute Priorität wäre gewesen, dass die Bundesregierung sagt: Wir helfen euch bei der Landumverteilung zugunsten derer, denen in den Jahren des deutschen Kolonialismus das Land geraubt wurde: Wir übernehmen die Kosten für den Ankauf der Ländereien, die Ausbildung derjenigen, die dort angesiedelt werden, und die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur, um von einer Landnutzung leben zu können. Die Begünstigten wären dabei Angehörige der Herero, Nama, Damara und San."

In Bayern hat ein Richter, der mit Missbrauchsprozessen befasst war, Bilder misshandelter Kinder aus Strafakten und anderen Quellen gesammelt. Insgesamt 4.000 Dateien mit pornografischem Material fand man bei ihm. Jetzt hat das Amtsgericht Augsburg ihn zu einer Geldstrafe von 4.500 Euro verurteilt - per Strafbefehl, der Mann musste nicht mal vor Gericht erscheinen. "Das klingt nach Kumpel-Justiz", empört sich in der Welt Anette Dowideit: Schon vor der Verschärfung des entsprechenden Gesetzes wurden in Bayern "fast immer Haftstrafen verhängt. Wann immer möglich wurde zudem Anklage gegen die Täter erhoben - und auf diese Weise dafür gesorgt, dass den Tätern in öffentlicher Hauptverhandlung ihr Unrecht so deutlich wie möglich vor Augen geführt wird. Der ehemalige Richterkollege dagegen fand den Strafbescheid einfach nur in seinem Briefkasten vor."

In der Welt protestiert der Literatur- und Sprachwissenschaftler Nikolaus Lohse vehement gegen jeden Kompromiss - wie es dem Erlanger Sprachwissenschaftler Horst Haider Munske kürzlich noch vorschwebte - in Sachen "gendergerechter Sprache". Die sei überhaupt keine Sprache: "Es muss aufhören, dass man den Leuten ständig suggeriert, mit der Verwendung des generischen Maskulinums verhielten sie sich unkorrekt, unsolidarisch oder nicht hinreichend sensibel. Das ist ausgemachter Unfug. Und aufhören müssen auch die halbherzig-verschämten Zugeständnisse an den Zeitgeist. Die demonstrative Distanzierung vom generischen Maskulinum ist im Ansatz falsch, nicht in der Durchführung. Dass die uralte grammatische Erscheinung auf einer einseitig maskulinen Perspektive beruhe oder gar Ausdruck einer misogynen Grundhaltung sei, lässt sich weder sprachhistorisch noch sprachsystematisch begründen."
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Ideen

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen denkt in der SZ-Serie mit Ansprachen für die Demokratie darüber nach, warum wir uns in Debatten so oft auf Pseudo-News wie Latschets Lachen oder ein Verbot von Kurzflügen konzentrieren: "Unbeachtet und undiskutiert bleibt hingegen die alles entscheidende Frage, was grundsätzlich zu tun wäre, um im Angesicht von brennenden Wäldern, von Dürre und Hitzetoten den Klimawandel doch noch irgendwie aufzuhalten. Hier bräuchte es andere Zeithorizonte, langfristige Planung, die streitbare, von Inhalten bestimmte Polarisierung. Und einen Abschied von der Fetischisierung des zeitlich Neuen, aktuell Aufregenden, spektakulär Konflikthaften. ... Es ist so, als starre man auf ein paar einzelne Schaumkronen, während es darum ginge, ein Gespür für die tektonischen Verschiebungen in den Tiefen des Ozeans zu entwickeln."

Außerdem: Ebenfalls in der SZ plädiert Gerhard Matzig für eine neue Ästhetik, die die Energiewende auch äußerlich als ersehnenswerte Utopie darstellt: "Es geht nicht nur um Ingenieurstechnik, es geht auch um die Überzeugungskraft der Form", um "Zeichen der Hoffnung und Architekturen des Versprechens".
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Kulturpolitik

In den Londoner Park Victoria Tower Gardens, einem kleinen Park an der Themse, soll ein Holocaust-Mahnmal mit Lernzentrum eröffnet werden, das offenbar keiner so recht haben will, berichtet Gina Thomas in der FAZ, zumal das Thma im Imperial War Museum bereits kompetent aufbereitet werde: "Die 96 Jahre alte Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die sich als Überlebende von Auschwitz und Bergen-Belsen unermüdlich für die Aufklärungsarbeit eingesetzt hat, brachte die Einwände auf ihre direkte Weise auf den Punkt: 'eine unglaubliche Menge dummen Geldes, wofür denn genau?' Sie argumentiert, dass das Denkmal sogar kontraproduktiv wirken und Antisemitismus schüren könne."
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Stichwörter: London, Holocaust-Mahnmal

Politik

Der amerikanische Supreme Court wird erneut zum Thema Abtreibung entscheiden, und es ist zu befürchten, dass er das historische Urteil "Roe vs. Wade" in irgendeiner Weise revidiert, schreibt Adrian Beck bei hpd.de. Trump war es gelungen, drei konservative RichterInnen im Supreme Court zu platzieren, die nun eine komfortable Mehrheit haben: "Besonders spannend ist die Frage, wie sich die neueste Verfassungsrichterin, Amy Coney Barrett, positionieren wird. Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh, die ebenfalls von Trump eingesetzt wurden, zeigten sich in einer früheren Entscheidung bereits willig, den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen nahezu vollständig einzuschränken. Barrett ist bekennende Katholikin und steht in Verbindung mit der beinahe sektenhaft anmutenden katholischen Vereinigung 'People of Praise'. Bislang gelang es den Medien nicht, sie auf eine eindeutige Positionierung in Sachen Abtreibung festzunageln."
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