9punkt - Die Debattenrundschau

Eine merkwürdig kalte Art

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.08.2021. Die Katastrophe in Afghanistan resultiert nicht aus dem Engagement, sondern aus dem Desengagement zuerst Trumps, dann Bidens, schreibt Navid Kermani in der FAZ. Er wird bestätigt von dem afghanischen General Sami Sadat, der in der New York Times für die Ehre seiner Truppen eintritt. Emma.de macht auf einen unheimlichen Zug der deutschen Öffentlichkeit aufmerksam: Opfer von Verbrechen werden nicht beim Namen genannt - man vergisst sie gern schnell. Die Journalistin Ljubou Kaspjarowitsch und Alexei Nawalny erzählen in Zeit und New York Times, wie sie im Gefängnis schikaniert werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.08.2021 finden Sie hier

Politik

In einem ganzseitigen FAZ-Artikel wirft Navid Kermani, der Afghanistan aus eigener Anschauung kennt, anderen Kommentatoren mangelnde Ortskenntnis vor. Der Westen, hält  er fest, hat in Afghanistan nie humanitär, sondern stets aus Interessen agiert - was Kermani nicht unbedingt falsch findet. Dennoch beobachtet er auch, dass der Westen attraktiv bleibt, denn es ist noch nicht verzeichnet worden, dass die Menschen am Kabuler Flughafen von einer Ausreise nach China oder Russland träumen. Interessant ist seine Beobachtung, dass die aktuelle Katastrophe nicht aus dem Engagement in Afghanistan resulitert, sondern aus einem Desengagement: "Dass die Gewalt eskalierte und die Taliban erstarken konnten, war nämlich die unmittelbare Konsequenz einer Außenpolitik, die Donald Trump als 'America First' verkaufte, während er tatsächlich die Verzwergung und damit Entmachtung Amerikas betrieb - nicht umsonst hatte der russische Geheimdienst auf seine Wahl gesetzt. Spätestens als Washington auch noch direkt mit den Taliban verhandelte, ohne die gewählte afghanische Regierung auch nur zu konsultieren, war für die Afghanen klar, wem die Macht zufallen würde." Und noch eine deprimierende Erkenntnis: "Gerade auf die Menschen, die nun ausgeflogen werden, wäre Afghanistan am dringendsten angewiesen."

Ebenfalls in der FAZ schildert Bülent Mumay, wie Tayyip Erdogan hofft, durch die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge Europa noch besser erpressen zu können.

Das von Kermani benannte Desengagement Trumps wurde von Joe Biden kaltschnäuzig fortgesetzt. Der afghanische General Sami Sadat bestätigt in einem beeindruckenden Artikel in der New York Times, dass die Auflösung der afghanischen Armee nicht einfach ein Weglaufen vor den Taliban war, denn sie hätte monatelang sehr wohl gekämpft. Aber dann "sagte Präsident Biden, dass 'amerikanische Truppen nicht in einem Krieg kämpfen und in einem Krieg sterben sollten, den die afghanischen Streitkräfte nicht bereit sind, für sich selbst zu kämpfen'. Es stimmt, dass die afghanische Armee ihren Kampfeswillen verloren hat. Aber das liegt an dem wachsenden Gefühl, von unseren amerikanischen Partnern im Stich gelassen zu werden, und an der Respektlosigkeit und Illoyalität, die sich in den letzten Monaten in Bidens Ton und Worten widerspiegelten." Sadat macht darauf aufmerksam, dass die afghanische Armee im Kampf gegen die Taliban in den letzten zwanzig Jahren 66.000 Soldaten verlor.

Generalleutnant a. D. Rainer Glatz, bis 2013 Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in Afghanistan, übt im Gespräch mit Peter Dausend und Michael Thumann von der Zeit sehr deutliche Kritik an der Bundesregierung, die viel zu spät anfing, die Mitarbeiter der Bundeswehr vor Ort zu schützen und und zu evakuieren: "Nach meiner Auffassung hätte sie die Rückführung der Ortskräfte großzügiger handhaben müssen und hätte anfangen müssen, den Ortskräften gleich die Möglichkeit zur Ausreise zu geben, als wir den endgültigen Truppenabbau beschlossen hatten, das heißt, möglichst noch, bevor die Soldaten rausgehen. Die Verteidigungsministerin hat dafür im April dieses Jahres ein unbürokratisches Verfahren gefordert. Ich selbst habe eine entsprechende Initiative mitunterschrieben. Das war im Mai dieses Jahres, also lange vor der jetzigen Situation. Es kann keiner sagen, sie oder er hätte nicht gewusst, dass es eine sich drastisch verschlechternde Sicherheitslage, auch für die Ortskräfte, gab und gibt."

Wie konnten die Amerikaner, die ja eine Demokratie sind, "so lange einen Krieg führen, der mit einer so erniedrigenden Niederlage endet?", fragt Hubert Wetzel in der SZ in Richtung USA. Warum wurde keine der zehn Kongress- und fünf Präsidentschaftswahlen genutzt, "um Rechenschaft zu erzwingen oder einen neuen Kurs zu erzwingen", fährt Wetzel fort und gibt drei Antworten: Sie hätten einen "Ertrag" gemacht, der Krieg war ihnen egal, und sie wurden belogen. "Statt die Wahrheit über die Stärke der Taliban, die Schwäche der afghanischen Armee, die Korruption in der afghanischen Regierung zu erfahren, bekamen die Amerikaner von ihren Politikern vor allem rosige Propaganda zu hören. (…) In den zuständigen Ministerien und Geheimdiensten wusste man durchaus, dass die Realität finster war."

"Weder sind aus den Taliban Demokraten geworden, noch engagieren sie sich feministisch oder sind sie progressiv. Das sind die anderen Akteure in Afghanistan übrigens auch nicht", sagt der österreichisch-afghanische Journalist Emran Feroz im Standard-Interview mit Ronald Pohl. Sie verkaufen sich nur besser. Aber: "Man muss ihr Handeln auch in den anderen Regionen beurteilen, wo sie schon seit langem aktiv sind. Es gibt genug Berichte, dass dort wieder puritanische Zustände herrschen, dass gewaltsam gegen Dissidenten vorgegangen wird. Vergangene Woche soll in Jalalabad aus Anlass von Protesten in die Menge geschossen worden sein. Es gab Tote und Verletzte. Es existieren genügend Anlässe zu echter Besorgnis. Man muss die Ideologie der Taliban zu verstehen versuchen, zumal sie sich mit paschtunischen Besonderheiten überschneidet."

Algerien hat die diplomatischen Beziehungen zu Marokko abgebrochen, berichtet Jannis Hagmann in der taz. Einer der Hintergründe ist die marokkanische Unterstützung für die Kabylen in Algerien, aber der Kontext ist noch weiter, so Hagmann: "Die Regierung in Rabat kann als großen Erfolg verbuchen, dass die USA unter Ex-Präsident Donald Trump im vergangenen Jahr Marokkos Souveränität über die Westsahara anerkannt haben - eine historische Kehrtwende der US-Außenpolitik. Im Gegenzug hat Marokko begonnen, seine Beziehungen zu Israel zu normalisieren, was Trump wiederum als außenpolitischen Erfolg für sich verbucht hat. Algerien blieb bei der Entwicklung außen vor und hält an der Position fest, weder Marokkos Herrschaft über die Westsahara zu akzeptieren noch Israel anzuerkennen, solange der Nahostkonflikt nicht gelöst ist."

Inzwischen ist aus den Konfliktpunkten zwischen China und den USA "eine moderne Entsprechung der Rivalitäten während des Kalten Kriegs geworden", schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu im Tagesspiegel. Aber: "In der verflochtenen Welt von heute ist globale Kooperation unverzichtbar. Der Wettstreit mit China mag vielleicht für die weltweite Verteidigung der Demokratie wichtig sein, ist aber nicht die einzige Priorität des Westens. Auch der Klimawandel erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen den USA und China."
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Gesellschaft

Chantal Louis macht bei emma.de auf einen unheimlichen Zug der deutschen Öffentlichkeit aufmerksam. Opfer von Verbrechen werden meistens nicht beim Namen genannt. Dadurch wird das Gedenken an die Opfer unmöglich gemacht. Die Taten verschwindenn zumeist in bestürzender Hast aus dem Gedächtnis. Louis als nennt als Beispiel Christiane Hartmann, Stefanie Wagner, Johanna H., die in Würzburg von einem geistig gestörten, islamistische Parolen rufenden Täter erstochen wurden: "Emmanuel Macron zum Beispiel wäre niemals eingefallen, beim Staatsakt für den Lehrer Samuel Paty, den ein islamistischer Attentäter enthauptete, dessen Namen nicht zu nennen. Ganz Frankreich kennt Patys Gesicht. Doch Deutschland hat eine merkwürdig kalte Art, mit Opfern umzugehen. Nach dem Attentat am Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 kondolierte die Kanzlerin erst ein Jahr später den Angehörigen der Opfer - auf deren Bitte hin." Ein ähnliches Muster gab es auch in Hanau, so Louis: "Auch in Hanau mussten erst die Hinterbliebenen selbst aktiv werden, doch sie wurden getragen von einer Welle der antirassistischen Solidarität."
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Europa

Die Journalistin Ljubou Kaspjarowitsch wurde ohne Prozess in ein belarussisches Gefängnis gesteckt. Sie schildert in der Zeit den Alltag in Gefängniszellen, die zum Teil derart überbelegt waren, dass man nicht mal auf dem nackten Boden Platz findet, sich hinzulegen. "24 Stunden lang, Tag und Nacht, brennt in der Zelle grelles Licht. Unmöglich, bei diesem Licht einzuschlafen, allmählich beginnt sich dein Bewusstsein zu trüben. Wenn du dann irgendwann doch wegdämmerst, weckt dich die Stimme des Gefängniswärters, der zweimal pro Nacht die Tür öffnet und deinen Namen ruft, worauf du dich zu erheben hast und deinen Namen wiederholen musst."

Und noch ein Gefangener: Alexej Nawalny erzählt in seinem ersten Interview aus dem Gefängnis in der New York Times über die Perfidien der russischen Gefängnisverwaltung: "Sie werden dich nicht schlagen - ganz im Gegenteil, sie werden dich durch ständige Provokationen dazu bringen, jemand anderen zu verprügeln, zu schlagen, zu bedrohen. Und dann ist die Tat vollbracht - es gibt überall Videokameras, und die Verwaltung wird mit großer Freude ein neues Strafverfahren gegen Dich wegen Körperverletzung einleiten und Deine Strafe um einige Jahre erhöhen. Sich nicht provozieren zu lassen, das ist das Wichtigste, was man hier lernen kann."

Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie machen sich in der taz große Sorgen, dass die Grünen es verbocken und Schwarz-Grün nicht zustandekommt. Ihr Horror wäre eine "Deutschland"-Koalition: "Ein Kanzler Armin Laschet mit Olaf Scholz als Vize und Christian Lindner als Vizevize wäre der schlimmstmögliche Rückfall in die Bonner Republik, ein lustloses Besitzstandswahrer-Trio, dessen Parteien in den letzten Dekaden alles verbaselt haben, was anstand."
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Geschichte

In der Welt werden Anna Schneider und Tilman Krause von Georg Friedrich von Preußen und dem Historiker Lothar Machtan, der vom Prinzen mit einer fünfstelligen Summe für sein Buch "Der Kronprinz und die Nazis" gefördert wurde, empfangen, um über den Kronprinzen Wilhelm und die aktuelle Debatte zu sprechen. (Unsere Resümees) "Es gibt eine medial angeheizte Empörung über die vermeintliche Anmaßung einer längst entthronten Fürstenfamilie, heute noch Besitztitel an Kulturgütern aus öffentlichen Museen für sich zu reklamieren. Wobei das Haus Preußen zu einem notorischen Feind des Fortschritts schlechthin stilisiert wird", empört sich Machtan, während der Prinz von Preußen betont: "Dem Gerichtsverfahren sehe ich gelassen entgegen. Wie das Verfahren ausgeht, kann ich nicht prophezeien. Aber ich denke, es ist mein Recht als Bundesbürger, an Ansprüchen festzuhalten, die noch mein Großvater wie tausend andere auch vor über dreißig Jahren gestellt hat. Im Kern geht es um einen Ausgleich für unrechtmäßige Enteignungen von Immobilien, die nach 1945 in der späteren DDR vorgenommen wurden, sowie um Rückgaben von Mobilien. Daran halte ich fest. Aber das Buch ist aus meiner Sicht weder ein Vehikel, diese Ansprüche weiter zu verfolgen, noch ihnen im Wege zu stehen."
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