9punkt - Die Debattenrundschau

So was kann man mit Erwachsenen nicht tun

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2021. Heute beginnt in Paris der Prozess zu den Attentaten vom 13. November 2015. Es wird der längste Prozess in der französischen Geschichte, berichten Charlie Hebdo, die taz und die FAZ. Politico.eu hält eine rot-grün-rote Koalition in Deutschland für denkbar, sie werde allerdings zu einer dramatisch verschärften Polarisierung der Gesellschaft führen. In der Welt betont Lothar Machtan, dass er eine strikt objektive Forschung zu den Hohenzollern betreibe. Mit dieser Idee sei er an den Prinz von Preußen herangetreten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.09.2021 finden Sie hier

Europa

Heute beginnt in Paris der Prozess zu den Attentaten vom 13. November 2015 mit 130 Toten - dazu gehörte das stundenlang andauernde Massaker im Bataclan. Es wird der längste Prozess in der französischen Geschichte sein, er ist auf neun Monate angesetzt. Charlie Hebdo wird permanent davon berichten, mit Autoren, die Kolumnen schreiben und Zeichnern, die aus der französischen Tradition der Comics kommen. Die Redaktion schreibt im Editorial: "Es ist auch ein Sprung ins Ungewisse, denn niemand weiß, was ein solches Verfahren in seiner notorischen 'Mündlichkeit' über diese grausamen Tatsachen aussagen wird. Ein Terrorismusprozesses ist wie das Öffnen einer großen, dunklen und beunruhigenden Truhe, in der Monster lauern, die vor dem Licht der Wahrheit fliehen, einem aber immer noch an die Gurgel springen können."

Frankreich hat sich seit den Anschlägen verändert, schreibt Rudolf Balmer in der taz, auch wegen der neuen Überwachungsmaßnahmen und Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten: "Laut Innenministerium wurden so angeblich Dutzende von terroristischen Aktionen vereitelt. In der Bevölkerung gewöhnte man sich an die Patrouillen bewaffneter Soldaten in den Stadtzentren oder Kontrollen der Handtaschen am Eingang von Warenhäusern. Trotzdem folgten weitere Anschläge: am 14. Juli 2016 in Nizza, wo ein Selbstmordattentäter am Nationalfeiertag auf der Promenade des Anglais mit einem Lastwagen in die Menge raste und dabei 86 Menschen tötete und Hunderte verletzte, oder vor weniger als einem Jahr die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty."

Der Prozess wird im historischen Justizpalast auf der Ile de la Cité stattfinden, es wurde eigens ein großer Saal in hellem Holz in das Gebäude eingebaut, erläutert Michaela Wiegel in der FAZ: "In den ersten fünf Wochen sollen vor allem Überlebende, Augenzeugen und Angehörige der 131 Todesopfer zu Wort kommen. 300 von ihnen sind vorgeladen. Je eine halbe Stunde wird jedem eingeräumt. Erst im Anschluss an diese Rückblende sollen die insgesamt 20 Angeklagten, darunter das einzige überlebende Mitglied der Todeskommandos, Salah Abdeslam, befragt werden."

Die deutschen Zeitungen staunen. Gestern hat die Kanzlerin im Bundestag ihre präsidiale Attitüde für einen Moment aufgegeben und Wahlkampf für Armin Laschet gemacht. "Oma erzählt vom Kommunismus", titelt die taz und macht Warnungen vor eventuell mitregierenden Linken lächerlich. Matthew Karnitschnig hält die Perspektive einer rot-grün-roten Regierung bei politico.eu nicht für unplausibel. "Die Pro-Russland-Haltung der Linken und ihr Wunsch, sich mit China zu einzulassen, unterscheiden sich nicht so sehr von den Positionen der SPD, auch wenn sie mit denen der Grünen kollidieren. Das größte Hindernis für eine Linkskoalition in Deutschland ist jedoch weder eine politische Frage noch die kommunistische Vergangenheit der Linken, sondern vielmehr das Potenzial des Bündnisses, die deutsche Gesellschaft zu spalten... eine Linkskoalition könnte jene extreme politische Polarisierung auslösen, die Länder wie die USA und Großbritannien in den letzten Jahren erlebt haben."

Die rechtsextreme Partei "Der III. Weg" hat in in Sachsen und Bayern Wahlplakate aufgehängt mit der Forderung: Hängt die Grünen, berichtet Julius Geiler im Tagesspiegel. Während die Plakate in Bayern wegen Störung des öffentlichen Friedens durch die Androhung von Straftaten (§ 126 StGB) von der Polizei wieder abgehängt wurden, redet man sich in Sachsen raus: "Eine Sprecherin der Zwickauer Staatsanwaltschaft sagte dem Tagesspiegel, dass die Motive im Freistaat zunächst weiter hängen bleiben dürfen. Die Behörde habe keine strafrechtliche Relevanz des Slogans feststellen können, da man nicht wisse, 'wer konkret angesprochen wird'. Es könnte sich sowohl um Politiker als auch um Wähler der Partei handeln, sagte die Sprecherin. Außerdem sei keine konkrete Bedrohungslage ausgemacht worden, argumentiert die Staatsanwaltschaft. Allerdings sei es denkbar, dass die Stadt Zwickau in den nächsten Tagen eine Verbotsverfügung für das Plakatmotiv erlässt, teilte die Behördensprecherin weiter mit."
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Gesellschaft

Gerhard Matzig las für die SZ eine Studie des Instituts für Generationenforschung, wonach es Kindern in Deutschland besonders schlecht geht. Das betrifft vor allem die Generation alpha, das sind die nach 2010 Geborenen, die am meisten unter Corona gelitten hätten. "Die Pandemie, die anderswo einem Ende entgegensteuert, wird in Deutschland bis zum letzten Tag gepflegt. Sie nährt sich von Impf-'Skeptikern', die man lieber wie kleine Kinder mit Gratis-Pommes ködert - als dass man ihnen den Zugang in überfüllte Bahnwaggons schlicht untersagt. So was kann man mit Erwachsenen nicht tun. Im Gegensatz zu schulpflichtigen Kindern, denen man das Recht auf Bildung monatelang und quarantäneweise vorenthalten darf."

In der NZZ schwurbelt der Philosoph Markus Gabriel von einer "Ethik des Nichtwissens", mit der wir unserer Fehleranfälligkeit begegnen sollen. Was er damit genau meint, wird nicht klar, außer, dass er "der Wissenschaft" nicht traut. Und in Coronazeiten müsse "der Mensch als freies, geistiges Lebewesen wieder ins Zentrum der Gesellschaft rücken. Diese hat sich im Zuge der Pandemiebewältigung allzu sehr daran gewöhnt, sich unter Hinweis auf angeblich alternativlose Imperative fremdbestimmt steuern zu lassen. Für jedes Problem gibt es jedoch eine Vielzahl an Lösungen, zwischen denen wir wählen müssen." Schade, dass er nicht eine dieser vielen Lösungen nennt.
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Geschichte

Der Historiker Lothar Machtan verteidigt sich in der Welt gegen den Vorwurf, im Bunde mit der Hohenzollern-Familie und ihren pekuniären Interessen zu stehen, um die es ja geht, wenn die Beziehung des Kronprinzen Wilhelm zu den Nazis geklärt werden soll. Im Gegenteil wirft Machtan den bisherigen Gutachtern zur Frage der Nazi-Verwicklung vor, von jeweils interessierter Seite finanziert worden zu sein. Ihm sei es in seinem Buch "Der Kronprinz und die Nazis - Hohenzollerns blinder Fleck" unter anderem darum gegangen "sogenannte Ego-Dokumente" auszuwerten, um die Frage der Nazi-Sympathien strikt wissenschaftlich klären zu können: "Mit dieser Idee bin ich Anfang 2020 an Georg Friedrich Prinz von Preußen herangetreten. Ich habe ihn gefragt, ob er sich die Förderung einer solchen Aufarbeitung vorstellen könne."

Wie geht man mit menschlichen Überresten in Museen um, fragt die Historikerin Gesine Krüger bei geschichtedergegenwart.ch. Bei Kunstwerken wird über Restitution diskutiert. Aber wie macht man Knochen, die zu heute äußerst zweifelhalft wirkenden wissenschaftlichen Zwacken gesammelt wurden, wieder zu "Ahnen"? Dass diese Knochensammlungen im Kontext mit dem heute ad acta gelegten Rassismus der einstigen Kolonialmächte stehen, liegt auf der Hand: "Die Konzeption einer aufsteigenden menschlichen Entwicklungsgeschichte jedenfalls ging mit der Vorstellung einher, dass in Afrika, Asien, Australien und Lateinamerika 'Naturvölker' lebten, die gleichsam als Hinterlassenschaft dieses gerichteten Evolutionsprozesses in einer Art Menschheitsmuseum verharrten. Und da diese Völker angeblich drohten, in naher Zukunft von der Zivilisation überrollt und ausgelöscht zu werden, sollten sie vor ihrem endgültigen Verschwinden noch einmal wissenschaftlich untersucht werden." Kann man sie nicht in ihren Heimatländern beerdigen?
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Politik

Journalistin Stefanie Glinski hat sich entschlossen, ausgerechnet in Kabul zu leben. In der FAZ erzählt sie von Menschen, die ihr begegnet sind, vor allem Frauen, die sich vor den Taliban fürchten. Eine von ihnen ist die 61-jährige Balquis: "Aus ihrer Handtasche holt sie ihr Handy hervor und sucht nach einem bestimmten Bild, das sie mir zeigen will: Balquis steht unter einem Baum, an jeder Seite eine junge Frau, ihre beiden Töchter. Keinen weiteren Satz bringt sie ohne Tränen hervor. 'Beide sind nun weg', schluchzt sie. 'Letzte Woche ist die eine in die USA gegangen, die andere nach Kanada. Unsere Familie ist komplett zerrissen.' Und genau das nimmt sie den Taliban übel: eine Regierung, die nicht gewählt, sondern dem Land aufgezwungen wurde und die nun zahllose Familien auseinandergerissen hat." Ebenfalls in der FAZ erzählt die Filmemacherin Sahraa Karimi  von ihrer Flucht.
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