9punkt - Die Debattenrundschau

Herausforderungen der Moderne

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.09.2021. Der Guardian beschreibt die neue Geschlechterapartheid und systematische Unterdrückung von Frauen in Afghanistan. Die wahre Cancel Culture vernichtet die Träume von Millionen Frauen, ruft die marokkanisch-französische Autorin Leïla Slimani in der FAS. Die Islamisten werden immer stärker, weil die islamische Welt die Moderne nicht meistert, meint auf Zeit online der Völkerrechtler Ebrahim Afsah. Die EU wird zunehmend weiß, christlich und ausländerfeindlich, behauptet im Guardian der Germanist Hans Kundnani. Die NZZ staunt über die erfolgreichste Einwanderungsgruppe aller Zeiten. Netzpolitik staunt über die Vielzahl der Überwachungsgesetze, die seit dem 11. September auch in Deutschland durchgewunken wurden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.09.2021 finden Sie hier

Politik

Im Guardian berichtet Emma Graham-Harrison aus Kandahar, wie die Taliban entgegen aller Lippenbekenntnisse Frauenrechte und -freiheiten immer mehr einschränken: Soweit sie noch in die Schule, an die Universität oder zur Arbeit dürfen, ist eine strenge Geschlechterapartheid vorgeschrieben, die auch die besten Universitäten in Afghanistan nicht garantieren können, weil sie das erforderliche weibliche Personal nicht haben. Auf dem Land ist es noch schlimmer: "Die Versprechen der Taliban-Führung, Mädchen eine Grundschulbildung zu ermöglichen, bedeuten den Hardcore-Kämpfern nichts. Sie sagten: 'Ihr habt anderthalb Jahre lang davon geträumt, dass Mädchen eine Schulbildung erhalten können. Jetzt müssen sie wieder jeden Befehl der Männer befolgen und Hausarbeiten erledigen.' Es steht außer Frage, dass sich die Taliban in Bezug auf die Rechte der Frauen im Vergleich zu ihrer Herrschaft in Afghanistan vor 25 Jahren, als sie Frauen von jeglicher Bildung und fast jeder Arbeit ausschlossen, geändert haben. Aber ihr altes Regime war so entsetzlich frauenfeindlich, dass selbst die reformierten Taliban Afghanistan immer noch mit der schlimmsten systematischen Unterdrückung von Frauen in der Welt zurücklassen."

Die USA nähern sich immer mehr Indien an, berichtet Stephan Bierling in der NZZ. Zum einen, weil sie Indien zur Einhegung Chinas brauchen. Aber auch, weil der indischstämmige Anteil der Amerikaner immer wichtiger wird: "Insgesamt machen sie zwar nur 1,2 Prozent der Bevölkerung aus, aber das ist doppelt so viel wie im Jahr 2000. Ihre wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung ist enorm. Die Inder sind nämlich die erfolgreichste Einwanderergruppe aller Zeiten. Ihr Haushaltseinkommen lag 2019 mit 123 700 Dollar doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Auf Platz 2 folgen mit 97 000 Dollar die Taiwan-Amerikaner. Übrigens: Die Schweiz-Amerikaner liegen mit gut 80 000 Dollar auf Rang 18, die Deutsch-Amerikaner mit 75 000 Dollar auf Rang 44 auf einer Liste mit 94 Plätzen. 25 Prozent der indisch-amerikanischen Haushalte kommen auf mehr als 200 000 Dollar im Jahr, nur 14 Prozent auf weniger als 40 000 Dollar - auch das Rekordwerte. Der Wohlstand ist Folge der exzellenten Ausbildung dieser Gruppe." Und auch wichtig: Ihre Wahlbeteiligung ist mit 71 Prozent die höchste von allen ethnischen Gruppen in den USA.
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Ideen

In der islamischen Welt werden die religiösen Fundamentalisten immer stärker, fürchtet auf Zeit online der Völkerrechtler Ebrahim Afsah, auch in der Bevölkerung. "Aber warum? Weil die islamische Welt die Herausforderungen der Moderne, die mit der politischen, militärischen, wirtschaftlichen Dominanz des Westens einhergeht, nicht zu meistern weiß." Also besinne man sich auf seine Religion und gebe dem Westen die Schuld: "Insbesondere die Regierungen in Pakistan, Saudi-Arabien, Ägypten und der Türkei, in geringerem Maße die in Katar, Marokko, Tunesien, Jordanien, Indonesien befinden sich in einem schwierigen Balanceakt. Sie versuchen die unzufriedene, immer religiöser und radikaler werdende Bevölkerung zu beschwichtigen und gleichzeitig die Abhängigkeit vom verhassten Westen zu kaschieren. Dies geschieht durch eine dreistufige Geschichtsklitterung: Zuerst wird die Gleichwertigkeit aller Kulturen behauptet und auf den Beitrag arabisch-islamischen Denkens zum europäischen Erbe verwiesen. Dann wird behauptet, der Kern islamischer Kultur, also das islamische Recht, werde vom Westen diffamiert. Schließlich wird das eigene Scheitern als Beweis 'struktureller Gewalt' des Westens gedeutet - und so Gegengewalt legitimiert."

Es ist unmöglich, eine freie Frau zu sein, ohne zu enttäuschen. Also sollte man sich darüber keinen Kopf machen, meinte die marokkanisch-französische Autorin Leïla Slimani in ihrer Eröffnungsrede für das Literaturfestival in Berlin (veröffentlicht in der FAS). Man muss den Mund aufmachen und seine Meinung sagen, egal wo: "Europäische Intellektuelle reden sich gern die Köpfe heiß über das, was an amerikanischen Hochschulen passiert. Doch das hindert uns daran, zu sehen, dass dort nicht die größte Gefahr lauert. Die wahre Cancel Culture ist die, die darin besteht, Buddha-Statuen zu sprengen, in Timbuktu historische Handschriften zu verbrennen, das Kulturerbe Aleppos in Schutt und Asche zu legen oder auf Menschen zu schießen, weil sie in Paris tanzen. Sie löscht Sprachen, Religionen und Gemeinschaften aus. Sie sperrt Künstler ein und macht sie mundtot, sie vernichtet die Träume von Millionen Frauen, die man daran hindert, zu werden, was sie möchten. Das ist es, was wir zuallererst bekämpfen müssen."

Wann ist die Corona-Pandemie eigentlich zu Ende, fragt sich Armin Nassehi auf Zeit online. "Wenn sie für beendet erklärt wird, national, international, global? Wenn die Ansteckungsketten unterbrochen sind? Wenn eine mögliche Infektion unser Alltagsleben nicht mehr oder nur noch wenig einschränkt? Wenn das Virus verschwunden sein wird?" Das wird wohl so bald nicht passieren, dennoch: "Die Beendigung der Pandemie kann nicht herbeigeführt werden, sie muss passieren, durch hohe Immunität, durch weniger Ansteckungen. Es ist eine praktische Frage und eine Frage der Klugheit, ob es gelingt, mehr Menschen zu impfen und weniger darüber sprechen zu müssen, Klassenräume auszustatten, niedrigschwellig Praktiken zu etablieren, die die permanente Kritik an den Maßnahmen ins Leere laufen lassen. All das muss sich evolutionär ereignen, weil es möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen sollte. Die Pandemie ist erst vorbei, wenn sie Routine etabliert, die die Routinen der Gesellschaft weniger stört und dabei erfolgreich ist."
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Überwachung

Seit dem 11. September wurden immer mehr Gesetze zur Überwachung der Bürger durchgewunken, auch in Deutschland, stellt Markus Reuter in netzpolitik fest. "Ein Blick in die von netzpolitik.org geführte 'Chronik des Überwachungsstaates' zeigt mehr als 50 Gesetze, die seit 9/11 eingeführt wurden, die allesamt Überwachung befördern, Grundrechte abbauen und Privatsphäre einschränken. Anti-Terror-Gesetze, die mit einer zeitlichen Befristung eingeführt wurden, haben die nachfolgenden Bundesregierungen entfristet. Der Ausbau von Überwachung ist vielfältig. So gibt es immer mehr Datenbanken, immer mehr wird über uns gespeichert, immer mehr Merkmalen erfasst. Dazu gehören der biometrische Pass mit Fingerabdrücken und biometrischem Foto genau wie die anlasslose Erfassung unserer Flugreisen bis hin zur Vorratsdatenspeicherung im Internet. Hinzu kommen Kennzeichenscanner, Funkzellenabfragen und immer neue technische Möglichkeiten. Bei der Verknüpfung von Datenbanken schreitet der deutsche Staat mit dem Registermodernisierungsgesetz voran, das in Zukunft eine Zusammenführung von Daten technisch deutlich erleichtert." Schließlich kommt noch hinzu, so Reuter, dass sich die Budgets für die Sicherheitdienste verdoppelt oder sogar verdreifacht haben.

Biometrische Daten sind aber nicht nur Mittel zur Überwachung, sie sind auch ein sehr lukratives Geschäftsfeld, erzählt Matthias Monroy, ebenfalls auf netzpolitik. "Schätzungen zufolge soll der globale Markt für biometrische Systeme von 28 Milliarden Dollar im Jahr 2019 auf 55 Milliarden Euro im Jahr 2024 wachsen. Ein großer Teil davon betrifft Grenzkontrolltechnik, darunter etwa stationäre und mobile Scanner, Sensoren, Datenbanken, Server und Infrastruktur für Netzwerke. In Europa wird dieser Markt von den französischen Konzernen wie Idemia, Atos und Sopra Steria sowie Accenture aus Irland und Hewlett Packard aus den USA dominiert. So haben es dänische Forscher:innen in einer von der EU-Kommission finanzierten Studie rekonstruiert. Die Europäische Union zahlt fast eine Milliarde Euro für den Ausbau ihrer großen Migrationsdatenbanken."
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Gesellschaft

In der taz ist der Politologe und Buchautor Thomas Gesterkamp empört über die Vergabemodalitäten der Coronahilfen für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige, meist um die 9000 Euro, die für alles, was nicht für Fixkosten draufging, offenbar doch zurückbezahlt werden müssen. Wenn sie denn überhaupt je ankamen. "Von 65 Milliarden wurden lediglich 23 Milliarden Euro an die Länder transferiert oder direkt an die Antragsteller ausgezahlt. Für das Vorjahr fällt die Bilanz noch peinlicher aus: Knapp 25 Milliarden waren veranschlagt, genutzt wurden davon ganze 3,7 Milliarden Euro. Die Differenz erklärt sich teils, weil die Programmierung der Antragssoftware lange dauerte und das Geld erst im Folgejahr überwiesen wurde." Und während man zu Beginn noch sagte, die Hilfen müssten nicht zurückgezahlt werden, müssen sie es jetzt offenbar doch. "Möglich ist nicht einmal ein vorläufiges Herausrechnen der Hilfen bei den Finanzämtern, solange die tatsächlich gezahlte Fördersumme nicht endgültig feststeht. Die Empfänger/innen zahlen für 2020 Steuern auf Gelder, die ihnen der Staat danach wieder wegnimmt. Kein Wunder, dass der Mut zur 'Ich-AG' schwindet."
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Europa

Die EU wird zunehmend weiß, christlich und ausländerfeindlich, behauptet im Guardian der Germanist Hans Kundnani, gerade noch das Wörtchen "rassistisch" vermeidend. Dafür benutzt er das von den Nazis kontaminierte Wort "Schicksalsgemeinschaft", denn es ist alles Deutschlands Schuld. Als Beleg dient ihm die Sorge der Europäer, mit dem Rückzug aus Afghanistan könne eine neue Flüchtlingswelle nach Europa geraten: "Die EU ist in den letzten zehn Jahren immer mehr in Bedrängnis geraten, da die extreme Rechte auf dem gesamten Kontinent auf dem Vormarsch ist und zunehmend die Tagesordnung der Mitte-Rechts- und sogar einiger Mitte-Links-Parteien, wie der dänischen Sozialdemokraten, bestimmt. Das bedeutet, dass die zerbrechliche bürgerliche Identität, die sich in der Nachkriegszeit herausgebildet hat, einer eher kulturellen oder sogar ethnischen Identität zu weichen scheint, die sich vor allem gegen den Islam definiert. Mit anderen Worten: Das Weißsein wird möglicherweise mehr und nicht weniger zentral für das europäische Projekt."

In der taz stellt Klaus-Helge Donath die russische Oppositionelle Marina Litwinowitsch vor, die für die demokratische Partei Jabloko bei den nächsten Duma-Wahlen antreten will. "Bis 1996 studierte sie Philosophie an der Moskauer Staatlichen Universität, daneben Politikwissenschaft und ein bisschen Jura. Danach arbeitete sie als Polit-Technologin, eine Tätigkeit, die in Russland einer Mischung aus Analytikerin und Propagandistin entspricht und in den letzten Jahren in Verruf geraten ist. Damals machte sie sich auch einen Namen als Medienmanagerin und entwarf neue journalistische Websites wie lenta.ru, strana.ru und gazeta.ru. Ziehvater war Gleb Pawlowski, der als Chef des 'Fonds für effektive Politik' Anfang der 2000er Jahre unter Wladimir Putin große Erfolge feierte. Auch er ist Polittechnologe und ein Spindoktor, der die Kremlpolitik in den ersten Putin-Jahren mitbestimmte und das System der 'gelenkten Demokratie' ausbaute. Inzwischen ist auch Pawlowski Dissident."
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